Philosophie kulturschaedigend ?

Albert Schweitzer

Er gibt im ersten Teil seiner Kulturphilosophie,

Verfall und Wiederaufbau der Kultur,

der Philosophie die Schuld am Niedergang der Kultur

und bezeichnet sie daher als „gelehrte Epigonenphilosophie“:

„Aus einem Arbeiter am Werden einer allgemeinen Kulturgesinnung war die Philosophie nach dem Zusammenbruch in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ein Rentner geworden, der sich fern von der Welt mit dem, was er sich gerettet hatte, beschäftigte. …

Fast wurde die Philosophie zur Geschichte der Philosophie. Der schöpferische Geist hatte sie verlassen. …

Auf Schulen und Hochschulen spielte sie noch eine Rolle, aber der Welt hatte sie nichts mehr zu sagen.“

aus: Kultur und Ethik, S. 19f.

Was denkt Ihr dazu?

Ich vermute, er meinte das v.as. in Bezug auf eine ggf. religioese Kultur…

Mike

Hallo MultiVista,

die Analyse von Schweitzer vorausgesetzt, ist zu fragen, was es heisst, er gebe der Philosophie bzw. den Philosophen des späten 19. Jhdts
eine „Schuld“

Schuld

Wenn Sisiphos den Stein wieder mal auf den Gipfel hochgetragen hat - ich mneine: fast hochgetragen -, und nun begibt sich Sisiphos wieder nach unten, um den Stein zu holen, der nämlich wieder hinuntergekollert ist, hat nun der hinuntersteigende eine Schuld gegenüber dem, der den Stein hochtrug oder auch später wieder hochtragen wird?
Nein, es ist nur eine andere Phase eingetreten. Die Diskrepanz, die Schweitzer feststellt, ist doch zunächst ein Lob auf die Philosophie der Vergangenheit (ich nehme an er meint besonders Kant und Hegel).

Gruss,
Mike-Servus

Guten Tag,"Die wesentliche Aufgabe der Philosophie sah Schweitzer darin, die Kultur einer Gesellschaft am Leben zu erhalten.

Ohne Kultur, also die Pflege des geistigen Lebens des jeweils Einzelnen und der Gemeinschaft als Ganzes, verfallen nach und nach auf die Bedingungen, die hierfür notwendig sind. Die Folge ist die Kulturkrise…

Der Gesellschaft ohne eine aktive und lebendige Philosophie verliert ihren Kompass, ihre Fähigkeit, in Diskurs und Reflexion zu bestimmen, wohin sie steuern soll, an welchen Idealen von Mensch und Menschheit sie sich orientieren kann.

Ohne Richtung reagiert sie nur noch auf die Ereignisse, handelt nach der nächstliegenden Nützlichkeitserwägung und gerät in den Sog der Gegenwart, weil sie keine Visionen für die Zukunft mehr hat…"

aus:

http://www.dunkelraum.de/item/165

Da sehe ich meine Meinung bestaetigt. Schweitzer ist Idealist und will die Welt verbessern (was ja grundsaetzlich anerkennenswert ist).

Aber wenn eine Philosophie dies nicht gewaehrleistet, dannn ist sie keine mehr…

so verstehe ich schweitzer.

Mike

Neue geistige Orientierung
Was Schweitzer als Arzt, Theologe und Idealist meint, ist typisch deutscher (konservativer) Idealismus. Darin mag man ja eine tiefe Sehnsucht verspüren, nach emotionaler und geistiger Statik, als ein unveränderliches kulturelles Ideal. Aber, das wirkliche Leben funktioniert doch nicht nur nach utopischen Idealen, wie wir aus der Geschichte lernen. Die heutige Kultur ist, wenn man so will, eine ungeheuer komplexe Vielfalt von völlig unterschiedlichen kulturellen Leistungen, anstatt einer normierten Einheitskultur a´la „wissenschaftlicher Sozialismus“. Wer aber, wie Albert Schweitzer, Christ ist, will seinen Glauben verabsolutieren. Aber das ist doch in dieser Ausschließlichkeit schon Extremismus oder Totalitarismus, wenn man für eine Einheitskultur plädiert, wie im Kommunismus oder einst im Mittelalter…

Die heutige Globalisierung ist eine GEISTIGE Errungenschaft zunächst der Naturwissenschaft und Technik, die überhaupt erst einmal die materiellen Voraussetzungen dafür schufen, für eine globale Medienkultur, über das klassische Industriezeitalter eines Frederic Taylors und Henry Fords explosionsartig hinaus. Walt Disneys Micky Mouse ist doch auch ein Teil der globalen Menschheitskultur, in ihrem Pluralismus. Das ist eine humanistische Errungenschaft, die nicht ausschließlich nur auf christlichen Werten fußt, sondern gerade ja durch säkular humanistische Einflüsse entstand. Man sollte den Menschen, aus humanistischer Sicht, das frei zulassen, wofür sie GEISTIG reif sind, wofür sie sich selber entscheiden, was sie selber interessiert, ohne radikale Normierung, wie noch im Mittelalter oder in Frühkulturen.

Kinder wollen Walt Disneys Micky Mouse! Und philosophisch interessierte Menschen suchen dagegen andere geistige Quellen - das ist die Realität, die die wahren (wissenschaftlich erforschbaren) menschlichen Bedürfnisse berücksichtigt, in einer pluralistischen Kultur, über die Prof. Dr. Norbert Bolz als Kommunikationswissenschaftler und Medienphilosoph schreibt:

„Öffentliche Meinung ist… das, was Hans Magnus Enzensberger einmal ‚Bewusstseinsindustrie‘ genannt hat (…). Wir sind nämlich von der Bewusstseinsindustrie zur WIRKLICHKEITSKULTUR übergegangen. Das macht zwar die Kulturkritiker nicht arbeitslos, aber es macht ihr DENKEN (!) gegenstandslos. Doch das wird nur deutlich, wenn man aus den Aufklärungsträumen philosophischer GEISTSEHER erwacht.“ (Hervorhebung von mir).

Und fortschrittlich denkende Philosophen orientieren sich nicht an weltfremden Dogmen aus dem Mittelalter oder an Idealen, die dem wirklichen Leben und der Freiheit des Menschen mehr schaden als nützen (man denke nur an den deutschen Philosophen Dr. Karl Marx und seinen verhängnisvollen idealistischen Einfluss auf eine beabsichtigte sozialistische Weltrevolution, deshalb Vorsicht vor allzu utopischen Idealen!!).

Ich denke, dass deutsche Philosophen, die man zu Recht auch als GEISTIGE Helfershelfer monarchistischer und diktatorischer Kulturen kritisieren kann, die zwei Weltkriege verursacht haben, vom typisch deutschen Idealismus und einer GEISTIG genormten Einheitskultur heute die Nase voll haben, und dass auch deutsche Philosophen, die besonders anfällig dafür sind, sich an Idealen überlieferter Traditionen festzuklammern, aufgrund fehlender eigener geistiger Kreativität, dass (entgegen den französischen, englischen und amerikanischen Philosophen, die schon sehr viel früher am wirklichen Leben orientiert waren als deutsche Philosophen!), nicht mehr länger so naiv sind, um an eine Einheitskultur zu glauben, die die Philosophie im Verbund mit der Theologie konstituiert, um als GEISTIGE Norm für die ganze Welt zu dienen, wie es zum Beispiel der „wiedergeborene Christ“ George W. Bush gerne glauben wollte oder wie auch früher die deutsche Philosophie einst glaubte: „Am deutschen Wesen, soll die ganze Welt genesen!“. Hingegen orientieren sich heute deutsche Philosophen am wirklichen Leben und den wahren (wissenschaftlich erforschbaren) Bedürfnissen der Menschen.

Ein Beispiel, dass deutsche Philosophen der Gegenwart nicht allesamt nur am deutschen Idealismus, als geistige Grundlage, festhalten, ist Manfred Franks Buch „Auswege aus dem Deutschen Idealismus“. Prof. Dr. Manfred Franks Buch kann dir, vielleicht, eine neue geistige Orientierung geben.

CJW