Phoneme – Allophone – noch was Drittes?

Hallo Forum,

die Sprachwissenschaftler unter Euch kennen das ja: Gibt es ein Minimalpaar, spricht man von Phonemen; werden die Phoneme von verschiedenen Sprechern unterschiedlich realisiert oder treten verschiedene Phone in unterschiedlichen Umgebungen auf, sind’s Allophone.
(Wobei ich diese Ambiguität des Allophonbegriffs nicht schön finde, aber [wenn man Wiki glauben darf] man kann ja immer noch von „freien“ ggü. „kombinatorischen Allophonen“ sprechen.)

Nun frage ich mich, wie man unterschiedliche Laute bezeichnet, die zwar in einer Sprache vorkommen, von allen Sprechern jeweils (annähernd) gleich realisiert werden und auch im selben Kontext auftreten können; zu denen sich aber partout kein Minimalpaar finden lässt (z.B. weil der eine Laut nur in Fremdwörtern vorkommt).

Konstruieren wir mal ein Beispiel: Der Laut [ʒ] kommt im Deutschen nur in Fremdwörtern vor. Tun wir mal so, als hätten wir von allen Wörtern mit [ʒ] nur das Wort Jalousie entlehnt und als würden alle es korrekt aussprechen.
Dann sind zwar [ʒ] und [ʃ] unterschiedliche Phone, werden auch von allen Sprechern verschieden artikuliert, kommen in derselben Umgebung vor (man vergleiche z.B. das Wort Schalotte), lassen sich jedoch nicht durch ein Minimalpaar unterscheiden.
Was würde man dann sagen? Sind [ʒ] und [ʃ] trotzdem verschiedene Phoneme?

Liebe Grüße
Immo

Hallo,

vielleicht verstehe ich irgendwas miß, aber mir erschließt sich nicht, wo das Problem ist. Per Definition spricht man von Phonemen, wenn (und zwar: nur wenn) sich Minimalpaare finden lassen. Ich verstehe nun nicht, wieso du diese Definition nicht einfach mathematisch auswertest: Wenn sich für [ʒ] und [ʃ] kein Minimalpaar finden lässt, sind es halt nicht zwei Phoneme. Punkt. So einfach sehe ich das. Das Vorkommen in Wörtern unterschiedlicher Herkunft (z.B. franz. oder nicht) ist doch nur ein weiterer gewissermaßen Zufall wie auch die lautliche Umgebung oder die Ergriffenheit des Sprechers, von der die Realisierung des Phonems abhängig gemacht werden kann. Ich persönlich mag Mathematik, weil sie so schön stur ist. Und ich mag Sprachwissenschaft, weil sie so schön mathematisch ist.

Gruß

Marco

Hallo Immo,

Was würde man dann sagen? Sind [ʒ] und [ʃ] trotzdem
verschiedene Phoneme?

Ich würde sagen ja, da sich nicht immer auch wirklich ein Minimalpaar finden lässt. Meistens zwar schon, aber eben nicht immer. Außer Phonemen und Allophonen kenne ich keinen 3. Begriff, der die beiden anderen ausschließt, außer eventuell die Annahme eines „Lehnphonems“ (weiß nicht, ob man das so nennt) — dann ist es auch ein Phonem, allerdings eins, das nur in Fremdwörtern (bzw. einem Fremdwort) vorkommt. In einer Phonemtabelle der Sprache wird das dann entweder gar nicht oder in Klammern angegeben.
Bin mir nicht sicher, ob das deine Frage beantwortet.

Übrigens ist das mit den Allophonen manchmal so 'ne Sache im Deutschen… man findet für die Opposition [ŋ] vs. [h] nämlich auch keine Minimalpaare, weil sie sehr gegensätzlich distribuiert sind. Man könnte sie also theoretisch als Minimalpaar bezeichnen. Es gibt nämlich kein deutsches Wort, in der es bedeutungsunterscheidend wäre, ob ich nun „ng“ oder „h“ ausspreche. :smile:
Aber es gibt noch die Regel, dass Minimalpaare irgendwie eine nachvollziehbare Relation (phonetische Ähnlichkeit) haben müssen. Das ist hier nicht gegeben.

Gute Erngoluh wünsch ich noch für den Restsonntag,

  • André ^^

Hallo,

vielleicht verstehe ich irgendwas miß, aber mir erschließt
sich nicht, wo das Problem ist. Per Definition spricht man von
Phonemen, wenn (und zwar: nur wenn) sich Minimalpaare finden
lassen. Ich verstehe nun nicht, wieso du diese Definition
nicht einfach mathematisch auswertest: Wenn sich für [ʒ] und
[ʃ] kein Minimalpaar finden lässt, sind es halt nicht zwei
Phoneme. Punkt. So einfach sehe ich das.

Naja, nicht ganz. Siehe oben. Denn dann wären [ŋ] und [h] im Deutschen Allophone eines Phonems. So ganz haut die Erklärung also nicht hin.
Und der Phonem-/Allophonstatus von [χ] (bzw. [x]) und [ç] ist im Deutschen ja auch nicht ganz unumstritten. Oft wird als Minimalpaar „Kuchen“ vs. „Kuhchen“ angegeben, aber irgendwie denke ich da immer, dass kleine weibliche Rinder doch eigentlich „Kühchen“ heißen müssten. Oder könnte man ein kleines q als Quchen bezeichnen? :wink:

Gruß,

  • André

Hi,

ich bin trotzdem Fan von mathematischen Definitionen und habe etwas dagegen, wenn man an logischen Schlüssen von Definitionen rumdoktern will. Wenn man sich für ein Modell entscheidet, muss man mit allen logischen Konsequenzen leben, das ist unabdingbare Voraussetzung, dass Modelle funktionieren. Wenn man sich nun für eine Definition von Phonem der Form „Wenn A, dann heißen X und Y Phoneme“ entscheidet, hat man danach nur noch zu prüfen, ob A zutrifft oder nicht und fertig. Wenn man mit den Ergebnissen dieser Vorgehensweise nicht zufrieden ist, muss man die Definition ändern. So einfach sehe ich das immer noch. Wenn man für A nur die Existenz von Minimalpaaren einsetzt (und nur dieses Kriterium hat der UP in der Frage genannt) sind [ʒ] und [ʃ] eindeutig KEINE zwei Phoneme. Wenn man es bei dieser Definition beließe, müsste man halt damit leben, dass dann auch [ŋ] und [h] Allophone sind, da kenne ich in meiner mathematischen Sturheit keine Skrupel. Du hast A um das Kriterium der phonetischen Ähnlichkeit ergänzt (also X und Y müssen phonetisch unähnlich sein, wenn ich dich richtig verstehe), damit [ŋ] und [h] zwei Phoneme sind. Habe ich nichts dagegen. Das macht aber die Klassifizierung von [ʒ] und [ʃ] nicht schwieriger. Die Prämisse A ist nun eine Konjunktion von zwei Bedingungen: A1: Es gibt mindestens ein Minimalpaar. A2: X und Y sind phonetisch unähnlich. Man muss halt zwei Bedingungen prüfen: 1. Gibt es Minimalpaare? Nein. 2. Sind sie phonetisch unähnlich? Nein. Also sind [ʒ] und [ʃ] Phoneme.

Was [x] und [ç] betrifft, verstehe ich ebenfalls nicht, was daran zweifelhaft sein soll. Wenn man Google glauben darf, gibt es Leute, die Kuhchen benutzen. Damit existiert das Wort und damit existiert ein Minimalpaar, also sind [x] und [ç] gemäß obiger Definition zwei Phoneme. Wenn man das nicht will, muss man die Definition ändern, und da sehe ich die Leute, die in [x] und [ç] Allophone sehen, in der Pflicht, eine andere Definition vorzuschlagen.

So einfach sehe ich Sprachwissenschaft immer noch.

Gruß

Marco

A1: Es gibt mindestens ein Minimalpaar.
A2: X und Y sind phonetisch unähnlich. Man muss halt zwei
Bedingungen prüfen: 1. Gibt es Minimalpaare? Nein. 2. Sind sie
phonetisch unähnlich? Nein. Also sind [ʒ] und [ʃ] Phoneme.

Das verstehe ich eher als Ausschlusskriterium. A1 reicht als Definition schon. t und d sind im Deutschen ja phonetisch ähnlich, aber trotzdem zwei Phoneme, da die Existenz eines Minimalpaars ausreicht.
Zur Auffindung von Allophonen benötigt man aber die Regel A2: Es darf also kein Minimalpaar geben und die beiden Laute müssen irgendwie phonetisch ähnlich sein. Letzteres ist natürlich sehr schwammig (vielleicht war „bilden eine natürliche Klasse“ der bessere Ausdruck, bin nicht sicher).

Was [x] und [ç] betrifft, verstehe ich ebenfalls nicht, was
daran zweifelhaft sein soll. Wenn man Google glauben darf,
gibt es Leute, die Kuhchen benutzen. Damit existiert das Wort
und damit existiert ein Minimalpaar, also sind [x] und [ç]
gemäß obiger Definition zwei Phoneme.

Naja, wohl nicht in meinem Regio-, Dia- bzw. Idiolekt. Da gibt es das Minimalpaar nicht. Kuhchen hört sich für mich so falsch an wie *Baumchen. Dann wären die beiden Laute in manchen Lekten Allophone und in anderen eigenständige Phoneme. Hmm…
Andererseits: in meinem Dialekt gibt’s ja dort nur [χ] (bzw. [ʁ] zwischen Vokalen) und [ʃ] (bzw. [ʒ] zwischen Vokalen), da ist der Phonemstatus dieser Laute sicherlich ganz anders verteilt — z.B. sind hier [ʃ] und [ʒ] vermutlich Allophone, [χ] und [ʁ] evtl. auch, [χ] und [ʃ] aber nicht: „buch“ (schlagen-1SG.PRS) vs. „Busch“.

Es ist vllt. auch die Frage, ob man mit der Definition einfach nur eine Klassifizierung bezweckt, also etwas benennen und voneinander abteilen möchte, oder ob man damit schon eine Theorie impliziert… ob man also sagen möchte, dass die beiden Allophone zugrundeliegend auf einer höheren, abstrakten Ebene das selbe Segment sind (was für andere Analysen wichtig und nützlich sein könnte).

Ehrlich gesagt habe ich wirklich keinen blassen Schimmer, was die Phoneme des Sächsischen so sein könnten… das hat mich schon immer interessiert, bin aber noch nicht dazu gekommen, das mal näher zu untersuchen. :smile:

Gruß,

  • André

Korrektur
Ich muss mich korrigieren.

Ich zitiere mich: „1. Gibt es Minimalpaare? Nein. 2. Sind sie phonetisch unähnlich? Nein.“ Daraus folgt natürlich, dass [ʒ] und [ʃ] eben nicht Phoneme sind sondern Allophone. Ich hoffe, ich habe niemanden verwirrt.

Gruß

Marco

Hallo André!

gibt es Leute, die Kuhchen benutzen. Damit existiert das Wort
und damit existiert ein Minimalpaar, also sind [x] und [ç]
gemäß obiger Definition zwei Phoneme.

Naja, wohl nicht in meinem Regio-, Dia- bzw. Idiolekt. Da gibt
es das Minimalpaar nicht.

Dann schlage ich Dir ein anderes Minimalpaar vor, vielleicht gibt es das bei Dir (für mich klingt „Kuhchen“ nämlich auch falsch):

Stell Dir vor, Du hörst eine Staumeldung und ärgerst Dich schon, kommst dann in den angekündigten Stau, aber kaum bist Du drin, löst er sich schon wieder auf. Dann denkst Du vielleicht: „Ach, das war ja nur ein winziges Stauchen!
Stell Dir nun vor, die Matratze passt kaum in Dein Auto, Du musst sie dafür ganz schön stauchen. Na, geht das?

Liebe Grüße
Immo

P.S. Die Sache mit und finde ich gar nicht so schlimm. Meinetwegen sollen doch die beiden Laute Allophone eines Phonems sein, wobei h nur am Morphembeginn, ng hingegen überall anders realisiert wird. Warum denn nicht?
Da könnte man doch glatt eine Reform der Rechtschreibung drauf aufbauen: Lass uns immer schreiben!

Hallo Marco!

Ich verstehe nun nicht, wieso du diese Definition
nicht einfach mathematisch auswertest:

Das kann ich Dir gerne erklären: Ich finde die Definition unzureichend.
Stell Dir vor, man definiert rechtwinklige Dreiecke. Alle anderen Dreiecke sind dann „linkwinklig“.
Jetzt hast Du Dreiecke, die nur spitze Winkel haben, und solche, die einen stumpfen besitzen; Du hast Dreiecke, die zwei oder drei gleichlange Seiten besitzen. Das alles – so verschieden sie sind – sollen linkwinklige Dreiecke sein? Das ist so eine Rest-Kategorie, wo halt alles reinkommt.
Und damit so etwas nicht vorkommt, klassifiziert man halt weiter: gleichseitig, gleichschenklig, unregelmäßig; innerhalb der letzten zwei unterscheidet man weiter zwischen spitzwinkligen und stumpfwinkligen.

Und so eine Klasseneinteilung hätte ich auch gern in der Linguistik: Nicht einfach „Phoneme“ und „Allophone“ = alles andere, egal, ob sich die Aussprache nach dem Kontext richtet wie bei (unbetont = Schwa, betont = /e:/, /ε/ oder /ε:/), ob sie vom Sprecher abhängt wie beim /r/ (Zungen-, Zäpfchen- oder geriebenes r) oder ob sich nur deshalb kein Minimalpaar finden lässt, weil der eine der verglichenen Laute besonders selten auftritt. Das sind doch wichtige Unterschiede, da muss es doch ein Wort für geben.

Außerdem sagt der englische Wiki-Artikel (ich find bestimmt auch gedruckte Quellen, aber Wiki zitiert sich hier leichter: http://en.wikipedia.org/wiki/Allophone), dass Allophone Realisationen desselben Phonems unter verschiedenen Bedingungen seien („a conditioned realization of the same phoneme“). Diese Bedingungen sollten durch phonologische Regeln beschrieben werden (oder durch geographische, das steht da zwar nicht, aber damit, dass von unterschiedlichen Sprechern unterschiedlich hervorgebrachte Laute auch als Allophone gelten, kann ich mich gut arrangieren). „Allophon“ wird hier also nicht als Rest-Kategorie aufgefasst, sondern selbst als etwas exakt Definiertes.
Wenn ich nun also weder Minimalpaare finde noch phonologische Regeln, dann habe ich also weder verschiedene Phoneme noch Allophone eines Phonems. Meine Frage ist nun, was ich dann habe.

Ich muss nicht einmal ein pathologisches Beispiel konstruieren, ich könnte mit dem Litauischen argumentieren, dort gibt es eine ganze Reihe solcher „Phoneme ohne Minimalpaar“. Wenn Dich die Beispiele interessieren, schreibe ich sie Dir in einem späteren Beitrag.

Liebe Grüße
Immo

Hi,

ich sagte ja, dass man die Definition ändern muss, wenn man mit den Schlussfolgerungen einer bestimmten Def. nicht zufrieden ist. André sagte ja aber auch schon, dass man noch das Kriterium der phonetischen Ähnlichkeit heranziehen kann. Er nannte das Beispiel [h] und [ŋ], für die es im Deutschen zwar keine Minimalpaare gibt, aber phonetisch unähnlich sind, so dass sie halt doch zwei Phoneme darstellen. Ich nehme an, dass diese Verfeinerung der Definition auch auf deine litauischen Beispiele anwendbar ist in der Weise, dass die Phone ohne Minimalpaar aufgrund fehlender Ähnlichkeit Phoneme sind. Sollte dem nicht so sein, so gibt es wahrscheinlich in der litauischen Sprachwissenschaft einen Begriff dafür. Da müsstest du wohl ein Fachbuch (sowas wie das „Studienbuch Linguistik“ für litauische SpraWi) konsultieren. Ansonsten meine ich, dass man Definitionen nicht zum Selbstzweck betreiben sollte, sondern man den Zweck verfolgen sollte, in einer Theorie mit ihnen zu arbeiten. Begriffe zu definieren nur damit man halt irgendwelche Wörter dafür hat, finde ich sinnlos. Ich glaube, dass es keine feineren Begriffe als Phonem-Allophon gibt, weil es für die Linguistik schlicht irrelevant ist, warum es für irgendwelche Phone kein Minimalpaar gibt. Ansonsten gäbe es ja sicher Fachbegriffe dafür.

Gruß

Marco