Politische Verantwortung - gibt es das überhaupt?

Servus,

in Österreich sorgt aktuell der FPÖ Klubobmann Johann Gudenus für Schlagzeilen. Einleitend dazu eine kurze Vorgeschichte:

Am 14. August besuchte BP van der Bellen gemeinsam mit dem grünen Politiker Anschober einen Supermarkt und machte dort Fotos mit einem afghanischen Lehrling, der als Flüchtling nach Östereich gekommen ist.

Vor drei Tagen schickte die FPÖ folgende APA meldung aus:
FPÖ-Gudenus: „Der afghanische Musterlehrling Anschobers entpuppt sich als Hisbollah-Fan“

Was war geschehen? Anschober postete auf seiner Facebookseite Fotos dieses Besuchs. Auf einem dieser Fotos markierte ein Facebook Account den Lehrling und dieser Account war auch der Auslöser der Anzeige Gudenus. Ich habe mir selbst Fotos auf diesem Account angesehen und es ist für jeden sofort ersichtlich, dass die Person keinesfalls der afghanische Lehrling sein kann. (Der Account hat übringes nicht die Hisbollah sondern Liwa Fatemiyoun gelikt).

Mittlerweile hat auch Gudenus zugegeben, dass er den Falschen an den medialen Pranger stellte:
FPÖ-Anzeige gegen Lehrling: Bedauern, aber keine Entschuldigung

„Ich finde das für ihn sehr bedauerlich“, sagte er am Donnerstag zur APA. Fehler habe man aber nicht gemacht: „Im Prinzip wurde nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.“

Gudenus hat einen völlig unbescholtenen Menschen als ‚Terrorsympathisanten‘ bezeichnet. Die Anzeige an sich geht natürlich in Ordnung, aber er hat weder gewartet, was die Ermittlungen der Polizie ergeben, noch was die Staatsanwaltschaft daszu sagt.

Das (für mich) besonders Niederträchtige an der Sache ist, dass es Gudenus nie um den Lehrling ging. Er wollte einfach nur politische Gegner (van der Bellen, Anschober) anpatzen und gleichzeitig die Arbeit seines blauben Parteikollegen Kickl (siehe APA Meldung) loben. Dass er mutwillig in Kauf nimmt, das Leben eines völlig Unschuldigen zu zerstören, spricht ebenso Bände wie seine Weigerung, schuldhaftes Verhalten auf seiner Seite einzusehen bzw. einzugestehen.

Die strafrechtliche Seite der Angelegenheit (Verleumdung?) kann ich nicht beurteilen, aber sollte es nicht auch eine poltische Verwantwortung bei Entscheidungsträgern geben? Ist die ‚rote Linie‘ wirklich erst das Gesetzbuch oder sollte man nicht doch höhere Standards an unsere Spitzenpolitiker anlegen?

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Es wäre wünschenswert, wenn Spitzenpolitiker die Verantwortung in eigenem Fehlverhalten sähen und hieraus die Konsequenzen zögen. Aber realistisch ist das heute nicht und war es gestern ebenfalls nicht. Erst wenn der Gegenwind richtig massiv wird, dann nehmen sie ihren Hut. Das gilt für die deutliche Mehrheit der Politiker.

Angefangen von den Gauklern, die ein Studium gleich erfinden bis zu denen, die „nur“ bei der Doktorarbeit massiv bescheissen. Beginnend bei denen, die sich am Staat oder an vielen Staaten bereicherten (Sitzungsgelder, Privatfahrten und -flüge, betroffen links bis rechts; geradezu inflationär im EU-Parlament) und endend bei denen, die allerlei Anzeigen erstatten, um sich mal wieder bei der eigenen Klientel hervorzuheben (ebenfalls links bis rechts). Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Da kommt verurteilte, massive Steuerhinterziehung, auch Untreue und/oder Falschaussage und viels mehr zusammen. Auch das wirre „Ehrgefühl“ eines ehemaligen Bundeskanzlers spricht Bände.

Niedergeschlagen in Umfragewerten haben sich solche Vorgänge selten. Von daher solltest Du Dir keine Hoffnung auf vorgezogene Neuwahlen machen.

Ich hatte bisher immer den Eindruck, dass in Deutschland die ‚Rücktrittskultur‘ deutlich ausgeprägter war als hier bei uns. Weiter unten hast du wohl auf Guttenberg angespielt. Der Fall ging in eine ähnliche Richtung, allerdings hatte er mit seiner Amtsführung bzw. Tätigkeit als Politiker eher nichts zu tun (zumindest ich sehe keinen direkten Zusammenhang). Mir ist natürlich klar, dass ein Plagiat kein Kavaliersdelikt ist, aber für mich ist ein akademischer Titel keine Voraussetzung für ein politisches Amt. Ich sah das ganze daher wohl etwas entspannter.

Den Spruch mit der ‚roten Linie‘ habe ich übrigens von Kanzler Kurz übernommen, der Anfangs der Koaliation meinte, dass „eine Grenze in der Beurteilung des Koalitionspartners FPÖ sei das Strafrecht [sei]“.

Politische Konsequenzen muss ja nicht unbedingt der Betroffene selber ziehen, wie man jüngst beim Fall Dönmez sehen konnte.

Darf bzw. kann man bei (Spitzen)Politikern tatsächlich keinen höheren Maßstab als das Strafrecht anlegen?

Keineswegs sollte es eine Voraussetzung sein. Aber die penetrante Lügerei Guttenbergs wurde nur noch durch seine Weinerlichkeit beim Rücktritt überboten. Hätte er wenigstens die Eier gehabt und rechtzeitg eingestanden, dass er aus Gründen der Karriere/Egomanie Mist gebaut hatte. Aber sich am Ende noch als Opfer zu gerieren, hat ihn in den freien Fall auf der nach unten offenen Charakterskala befördert.

Von daher empfand ich es auch als saublöd, dass man ihn kürzlich bei der CSU reaktivieren wollte. Der ist durch und sollte durch sein. Aber bei so manch anderem Spitzenpolitiker war die Zeit im Abklingbecken auch viel zu kurz, falls sie überhaupt ihren Hut nehmen mussten.

Man kann und darf. Es ist nur wahrscheinlich realitätsfern.

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