Positivismusstreit? Über was streiten?

Hallo. Ich studiere Soziale Arbeit. Neulich hatten wir den „Positivismusstreit“? Irgendwie ist mir nicht klar über was die beiden Vertreter streiten. Wikipediatexte ect. hab ich schon gelesen.

Diskutiert wurden Fragen zur Funktion von Theorie, etwa ob Theorien ein System von Sätzen zur Erklärung von Wirklichkeit seien oder( versteh ich gar net) ob sie ein kritisches Instrument zur Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu mehr Mündigkeit und Demokratie sein sollen). Der Positivismusstreit hat insbesondere in den Sozialwissenschaften eine Klärung und Abgrenzung von wissenschaftstheoretischen Standpunkten vorangetrieben.

Hauptstreitpunkte waren die Frage der Wertfreiheit der Wissenschaft (Forschungsmethoden), die Möglichkeit der Isolation einzelner Daten und Fakten aus der komplexen, geschichtlich -gesellschaftlichen Totalität, die Bedeutung des gesellschaftlichen Entwicklungsstandes und damit auch die Stellung des Wissenschaftlers zu Forschungsprozess, -ziel, -methode und –resultat, das Verhältnis von Empirie und Theorie, die (politische) Verantwortung des Wissenschaftlers für Auftrag und Verwertung seiner wissenschaftlichen Forschung und ähnliches.

K. Popper forderte aufgrund empirisch-positivistischer Überzeugung gemäss seiner Theorie des kritischen Rationalismus, dass eine Theorie nur mittels Falsifikation getestet werden kann, da nur solche Sätze wissenschaftlich sinnvoll seien, die durch Erfahrung überprüft werden können.

T. Adorno forderte, dass die Hypothesen, die in einer Theorie verwendet werden, nicht - wie K. Popper vorgeschlagen hat - beliebig generiert werden sollen, sondern im Hinblick auf die Entwicklung der Gesellschaft.

Ich hoffe mir kann dabei jemand helfen.

danke Im voraus. MFG Verena

Hallo, Verena,

Neulich hatten wir den
„Positivismusstreit“? Irgendwie ist mir nicht klar über was
die beiden Vertreter streiten.

Dein Eindruck ist ganz richtig. Popper und Adorno hatten nicht viel zu streiten, was den Positivismus anbelangte. Sie haben haben sich in der ersten Debatte in Tübingen nicht wirklich gestritten, sondern waren sich weitgehend einig, weil beide keine Befürworter positivistischer Wissenschaftstheorien waren. Der Streit ist erst später durch Äußerungen von Habermas ausgelöst worden, weil Habermas einige Positionen Poppers, z.B. zur Wertfrage, als Form des Positivismus interpretierte.

K. Popper forderte aufgrund empirisch-positivistischer
Überzeugung gemäss seiner Theorie des kritischen
Rationalismus

Das ist das, was die Anhänger der Frankfurter Schule geglaubt haben. Popper hatte keine „empirisch-positivistische Überzeugung“. Seinen kritischen Rationalismus hat Popper als Alternative zum logischen Empirismus des Wiener Kreises entwickelt. Deshalb gab es - wie gesagt - erst keinen Streit.

dass eine Theorie nur mittels Falsifikation
getestet werden kann,

Das ist so nicht richtig: Falsifikation ist ein mögliches Ergebnis einer kritischen Prüfung von Theorien. Sie ist aber kein Mittel, um Theorien zu prüfen. Das Mittel ist die empirische Methode - die Prüfung von Theorien an der Erfahrung.

da nur solche Sätze wissenschaftlich
sinnvoll seien, die durch Erfahrung überprüft werden können.

Nein: Popper hat sich explizit gegen das Sinnkriterium des logischen Empirismus ausgesprochen. Er sah die Forderung nach Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium - etwas vom Prinzip her anderes. „Ein empirisch-wissenschaftliches System muß an der Erfahrung scheitern können“ (Logik der Forschung). Das bedeutet aber nicht, daß Sätze, die nicht an der Erfahrung scheitern können, also nicht falsifizierbar sind, sinnlos sind - anders als es z.B. Carnap annahm.

Was Adorno und Habermas eigentlich kritisiert haben, waren Positionen des logischen Empirismus im Sinne des Wiener Kreises und anderer positivistischer Richtungen, nicht so sehr den kritischen Rationalismus. Daher empfindet Hans Albert, einer von Poppers führenden Schülern in Deutschland, die schriftlich niedergelegte Debatte als „eine literarische Mißgeburt mit irreführendem Titel“.

Wikipediatexte ect. hab ich schon gelesen.

Vermeide Wikipedia. Das ist keine Grundlage, auf der Du Dich mit dem Thema beschäftigen kannst.

Der „Positivismusstreit“ ist dokumentiert in

Adorno und andere (1969 /1993). Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied / Berlin.

Es empfiehlt sich sowohl die Beiträge von Adorno als auch das Nachwort von Albert zu lesen.

Grüße,

Oliver Walter

Nicht über Kaisers Bart :wink:
Hallo Verena

K. Popper forderte aufgrund empirisch-positivistischer
Überzeugung gemäss seiner Theorie des kritischen
Rationalismus, dass eine Theorie nur mittels Falsifikation
getestet werden kann
T. Adorno forderte, dass die Hypothesen, die in einer Theorie
verwendet werden, nicht - wie K. Popper vorgeschlagen hat -
beliebig generiert werden sollen, sondern im Hinblick auf die
Entwicklung der Gesellschaft.

Da hast Du doch schon zwei wesentliche Standpunkte von zwei nicht minder weeentlichen Vertretern des damaligen (Posoitivismus-)Streites, der ja (in abgewandelter Form) bis in die Gegenwart anhält.
Es geht ja nicht nur, wie oberflächlicherweise vielleicht rüberkommt, um „objektive“ Forschung etc.
Die Frankfurter Schule (mit Adorno) vertrat halt diesen eminent gesellschaftsbezogenen und gesellschaftskritischen Standpunkt, während die „Neopositivisten“ mit Frontmann Popper (er sieht sich natürlich nicht als Positivist) einen letztlich gesellschafts-angepassten Kurs einschlugen.
Darüber ließe sich seitenweise schwafeln, aber mich dünkt, Du fragtest nach dem Streitpunkt zwischen den beiden Lagern, und den wollte ich kurz „aufpieken“.
Gruß,
Branden

Hallo Verena,

Ich studiere Soziale Arbeit. Neulich hatten wir den
„Positivismusstreit“?

Einigermaßen unverständlich, weil dieser Streit selbst eigentlich eine olle Kamelle ist; bestimmte Positionen daraus aber sind selbstverständlich noch heute aktuell, kreisen aber heute nicht mehr um eine Chimäre namens „Positivismus“.

Irgendwie ist mir nicht klar über was
die beiden Vertreter streiten.

Du hast das doch ganz adäquat zusammengefasst!

weitere Literaturempfehlung dazu (die von Oliver angegebene Literatur ist natürlich der Bezug schlechthin):
Dahms, Positivismusstreit (Erstausgabe 1994), 446 Seiten
http://www.amazon.de/Positivismusstreit-Hans-Joachim…
(behandelt die Theamtik sehr umfassend von ihren Anfängen um 1936 bis einschließlich der Habermas-Albert-Debatten in den 60ern)

Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften. Materialien (Aufsatzsammlung 1963-1967), 330 Seiten
http://www.amazon.de/Logik-Sozialwissenschaften-Mate…

Was ich nicht selbst kenne, darum nicht empfehlen, aber anmerken will:
http://www.amazon.de/Zur-Logik-Sozialwissenschaften-…

Der
Positivismusstreit hat insbesondere in den
Sozialwissenschaften eine Klärung und Abgrenzung von
wissenschaftstheoretischen Standpunkten vorangetrieben.

ja, klar.

Hauptstreitpunkte waren die Frage der Wertfreiheit der
Wissenschaft (Forschungsmethoden),

Ja, aber nicht „Wertfreiheit oder nicht“, sondern darum was Wertfreiheit denn überhaupt sein soll.

Beide Positionen haben das Paradox anerkannt, dass „Wertfreiheit“ ja selbst ein „Wert“ ist.

Wie sie aber mit diesem Paradox dann umgegangen sind, ist sicher unterschiedlich.

die Möglichkeit der
Isolation einzelner Daten und Fakten aus der komplexen,
geschichtlich -gesellschaftlichen Totalität,
die Bedeutung des
gesellschaftlichen Entwicklungsstandes und damit auch die
Stellung des Wissenschaftlers zu Forschungsprozess, -ziel,
-methode und –resultat,

korrekt

das Verhältnis von Empirie und
Theorie,

richtig, aber man müsste hinzufügen: Streit darüber, was unter Empirie überhaupt verstanden werden kann;
denn keine der beiden Seiten wollte ja irgendwie die Theorie gegenüber der Empirie propagieren, beiden ging es um die Stärkung der Empirie, aber eben um eine jeweils andere Konzeption von Empirie.
(diese Frage der Empirie ist m.E. der entscheidende Punkt im Positivismusstreit, und auch das, was bis heute nicht an Aktualität eingebüßt hat, im Gegenteil).

Adorno: „Uns lockt es, die Erfahrung gegen den Empirismus zu verteidigen, einen minder eingeschränkten, minder engen und verdinglichten Begriff von Erfahrung der Wissenschaft zuzubringen. Ziel der Kontroverse ist nicht ein Ja oder Nein zur Empirie, sondern die Interpretation von Empirie selber, zumal der sogenannten empirischen Methoden; Solche Interpretation ist philosophisch bei uns nicht weniger als bei den Empiristen“

Besonders interessant in diesem Zusammenhang:
Adorno, Gesellschaftstheorie und empirische Forschung (Vortrag/Aufsatz von 1969, ca. 10 Seiten)
und
Adorno, Zur Logik der Sozialwissenschaften (Vortrag/Aufsatz von 1962, ca. 20 Seiten),
beide in:
Adorno, Soziologische Schriften I
http://www.amazon.de/Soziologische-Schriften-Theodor…

die (politische) Verantwortung des Wissenschaftlers
für Auftrag und Verwertung seiner wissenschaftlichen Forschung
und ähnliches.

nicht aber in dem Sinne verstanden, wie wir das heute mit „Ethikkommissionen“, etc. meinen …

K. Popper forderte aufgrund empirisch-positivistischer
Überzeugung gemäss seiner Theorie des kritischen
Rationalismus, dass eine Theorie nur mittels Falsifikation
getestet werden kann, da nur solche Sätze wissenschaftlich
sinnvoll seien, die durch Erfahrung überprüft werden können.

das hat Oliver ja schon kommentiert!

Er hat Recht, dass Popper seinem Selbstverständnis nach nicht unter „Positivismus“ eingereiht werden kann (es muss aber klar sein, dass Adorno und Habermas einen weiter gefassten Begriff von „Positivismus“ verwenden, der dann natürlich Popper genauso einschließt, wie etwa den Pragmatismus auch).

Er hat Recht, dass Popper nicht mit dem „Sinnkriterium“ des Logischen Empirismus operiert.

Und er hat Recht, dass Adorno und Habermas an vielen Stellen die Debatte gegen Popper geführt haben, wo sie eigentlich andere damit hätten treffen wollen.

[Dahms in seinem angegebenen Werk hält diese Bezüge aber einigermaßen gut auseinander (vor allem weil er den „Positivismusstreit“ eben schon in den 30ern beginnen lässt bzw. sogar schon auf die Vorgeschichte in den 20ern verweist), damit also auch wirklich den Logischen Empirismus (Positivismus) heranzieht, auch wenn er vieles andere wiederum verflacht und verblödelt)

Diese „Falschheit“ und „Oberflächlichkeit“ in der Diskussion bestand auf beiden Seiten, v.a. wohl, weil der „Positivismusstreit“ insbesondere auch über Vorträge auf Tagungen geführt wurde, und auch schnell sich auf Personen zuspitzte, u.a. weil er -für solche philosophischen und Soziologie-theoretischen Themen vollkommen ungewöhnlich- im Lichte breiter Öffentlichkeit geführt wurde, und damit eminent „gesellschaftspolitisch“ aufgeladen war.

T. Adorno forderte, dass die Hypothesen, die in einer Theorie
verwendet werden, nicht - wie K. Popper vorgeschlagen hat -
beliebig generiert werden sollen, sondern im Hinblick auf die
Entwicklung der Gesellschaft.

ganz ganz grob ja;
aber dickes ABER: das ist nicht so naiv gemeint, wie es sich hier anhört;

es geht hier im Grunde um Hegel (und Marx);
also um die Frage von Gesellschaftskritik als Voraussetzung von Wissenschaftlichkeit, um die „bestimmte Negation“, damit auch um ein bestimmtes Theorie-Praxis-Verhältnis.

Sorry, aber das kann ich jetzt einfach nicht so knapp darstellen.

Ich hoffe mir kann dabei jemand helfen.

Kann man eigentlich leider nicht, außer mit Literaturangaben;
alles andere ist schwierig hier.

Viele Grüße
Franz