Du wirst KANT besser verstehen, wenn Du Dir nochmal ansiehst, was denn diese „formalen“ und „materialen“
Voraussetzungen nach KANTS Meinung zu sein haben.
Füll die Begriffe doch selbst mit Leben: MATERIAL sind lt. Kant die Sinneseindrücke, die von realen Objekten herrühren. FORMAL sind die Eindrücke, die vom Geist als widerspruchsfrei und logisch kohärent erkannt werden. Diese Definition mag arg verkürzt sein, und sicher würde niemand an unserer Uni eine solche Aussage öffentlich machen. Aber hinter der Hand würde man es doch so sagen.
Klammern wir mal aus, was nach KANT dann unreal, also keine empirische Erfahrung ist. Du wirst sofort merken, dass es die ethischen/moralischen WERTE sind, die KANT ausklammert. Liebe, Moral, Würde, Stolz, … sind keine empirischen Erfahrungen, denn sie entspringen keinen Objekten und besitzen keine Logik.
Natürlich hat KANT damals den größten Käse erzählt. KANT war ein theoretisierender Eiferer, der in der Zeit der Aufklärung unbedingt den konservativen Kirchen das Zepter aus der Hand schlagen wollte. Diese legten damals nämlich die WERTE fest, nach denen eine Gesellschaft ihr Zusammenleben organisiert - und KANT war zur EInsicht gekommen, dass solche WERTE viel zu fehleranfällig und zu leicht missbrauchbar waren. Er suchte deshalb nach einem Weg, die Macht der Kirchen zu brechen - und der führte über die Entwertung der WERTE. KANT zerstörte die voraufklärerischen Wertesysteme, indem er die Behauptungen der Kirchen als „irreal“, als „unwirklich“ etc. markierte. Dazu musste er lediglich die allgemeine Definition von WIRKLICH ändern, und er tat dies, indem er nur den stofflichen Erfahrungsquellen (im Sinne der Naturwissenschaften) und der Logik (im Sinne seiner Philosophie) Realität zusprach.
Seine Postulate sind versteckte Axiome: willkürliche Setzungen, die man ebensogut auch ganz anders setzen könnte.
Natürlich reicht es aber nicht, Kant nun einfach als Deppen abzustempeln. Wir müssen eine bessere Definition für „Erfahrung“ finden, die Kants Fehler vermeidet.
- Zunächst: Alle Erfahrungen - egal woher sie entspringen - sind real.
Erklärung: „Liebe“ und „Ärger“ sind bspw. sogar realer
als „Atome“, denn Liebe hat jeder schon erlebt - Atome als solche aber hat noch nie jemand direkt und unmittelbar gesehen. Es ist völlig unerheblich, welcher Quelle wir eine Erfahrung zuschreiben, aber DASS wir etwas erfahren, ist UNBESTREITBAR. Die Subjektivität oder Objektivität einer Erfahrungsquelle ist daher völlig irrelevant für die Tatsache, dass die Erfahrung selbst reinste Empirie ist!
Für KANT hingegen gibt es keine Liebe und keinen Ärger, weil diese Erfahrungen weder eine MATERIALE noch eine FORMALE Essenz haben. Wie gesagt: Kant hatte gute Gründe dafür, diese WERTE zielgerichtet aus seinem Weltbild „herauszudefinieren“. Seine „Realitätsverweigerung“ hatte … naja … eben die genannten politischen Gründe.
Fassen wir nochmal zusammen:
- ALLE Erfahrungen sind EMPIRISCH und REAL.
- JEDE Erfahrung genügt deshalb den Anforderungen des POSITIVISMUS.
- Wenn man das eingesehen hat, wird auch Kants zweiter Fehler klar: Kant weigerte sich, das Subjekt zu akzeptieren. Wie PIRSIG (R. M. Pirsig: „Lila oder ein Versuch über Moral“, 1992; hier: Struktur der Metatheorie der Qualität) gezeigt hat, finden Werteerfahrungen aber nicht NUR im Subjekt oder NUR am Objekt statt, sondern DAZWISCHEN!
BEISPIEL:
Stellen wir uns eine Person vor, die auf einer glühenden Herdplatte sitzt. Dieser Person wird es völlig piepegal sein, ob der höllische Schmerz nun „formal“ oder „material“ ist - sie wird garantiert reflexartig aufspringen und den Allerwertesten kühlen.
Was ist passiert?
a) Die Person setzt sich auf die Platte
b) Eine Schmerzerfahrung füllt das Bewusstsein
c) Ein Reflex treibt die Person von der Herdplatte
d) Die intellektuelle Analyse der Person (des Subjektes) findet erst statt, wenn der Hintern mit Brandsalbe versorgt ist.
Entscheidend ist: Die Werteerfahrung kann man nicht allein dem Subjekt oder dem Objekt zuschreiben. Der Wert, die Wertung, die Werterfahrung - alle finden nur statt in dem Moment, in dem das Subjekt mit dem Objekt in Kontakt tritt. Noch genauer gesagt: Das Subjekt weiß in diesem Augenblick nichts von sich selbst. „Es“ handelt direkt und unmittelbar und ohne intellektuelle Zwischenschritte, bspw. in Form des Reflexes. Erst HINTERHER (!!!) analysiert der Geist die Situation, und ERST HIER (!!!) wird NACHTRÄGLICH (!) die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt vorgenommen.
Es kann gar nicht anders sein: Erst die intellektuelle Auseinandersetzung mit einer VERGANGENEN Situation bringt die Gegensätze ICH und WELT, SUBJEKT und OBJEKT, MATERIAL und FORMAL hervor.
Diese Einsicht war für Kant unmöglich, weil er das ICH - das identisch mit der VERNUNFT ist - der Erfahrung vorangestellt und übergeordnet hatte. Kant wollte, dass die Vernunft zuerst kommt - aber er übersah, dass die Erfahrung dem ICH ohne Ausnahme grundsätzlich vorangeht.
Sein Denkfehler war einfach, aber fatal. Er schrieb Unmengen von Texten und Büchern, in denen er sich verzweifelt um Reparaturen und Updates an seinen Theorien bemühte - aber es blieb eine mühselige und unbefriedigende Flickschusterei.
Seine Texte waren unlesbar. Kaum jemand verstand ihn.
Dass niemand Kant angriff, lag daran, dass man ihn unbedingt als Schlachtross für die Aufklärung brauchte. Man war nicht f ü r Kant. Sondern man war g e g e n die klerikalen Strukturen dieser Zeit, während zugleich die aufkommende Bourgeoisie sich bspw. mit Kants Philosophie zu dekorieren und sich als neue Elite mit - nun nicht mehr klerikalem, sondern intellektuellem - Führungsanspruch präsentierte.8
Aber das ist ein anderes THema.
Lies mal Pirisg.