Psalmen-Urform im Tempel

Liebe Experten,

die Frage geht an diejenigen von Euch, die sich aus religionswissenschaftlicher Perspektive mit Formen von Gemeinschaftsgebeten beschäftigt haben.

Vor einigen Tagen habe ich an einem Seminartag über Psalmen teilgenommen. Mein Wissensstand ist, daß man heute nicht mehr weiß, wie die Melodien waren, die im Tempel dazu gesungen wurden.

Nun gab es während dieses Studientages auch eineinhalbstündige Workshops. Bei einem ging es um eine liturgisch-experimentelle Umsetzung. Die hörte sich dann so an, daß einzelne Psalmverse unablässig „gechantet“ wurden so wie eine Art Mantra.

Mich erinnerte das an Gruppen, die in oranger und roter Kleidung in den 70iger Jahren in westdeutschen Großstädten unterwegs waren, von asiatischer Spiritualität inspieriert „chanteten“.

Die Workshopleitung hatte keine für mich nachvollziehbaren Begründungen für ihr Vorgehen, sondern es wurde eine Art „Urform des Betens“ behauptet, die sicher auch im Judentum so vorhanden gewesen sei, und wenn nicht am Tempel wo denn sonst?

Kennt jemand von Euch seriöse religionswissenschaftliche Arbeiten, die einen solchen Zusammenhang stützen oder widerlegen.

Viele Grüße

Iris

Hymnen (Psalmen, Lieder) aus Qumran
Hallo,

Ich bin zufällig bei meinem Interesse für Qumran auf Klaus Bergers Buch Qumran gestoßen. Dort widmet er einen Teil den so genannten Hymnen. Ich zitiere hier was in Bezug auf deine Frage relevant ist.

„Die Hymnen (Psalmen, Lieder) aus Qumran, ca. 100 Dokumente, sind zum großen Teil recht gut erhalten.“

Zum „Zweck der Psalmendichtungen“ aus Qumran schreibt er:

"Hymnen sind gerade im Frühjudentum als Teil des Gottesdienstes im Tempel bezeugt (Sängergilden erhalten unter Herodes Agrippa das weiße Gewand und damit priesterlichen Status […])", [er bezieht sich dabei auf Josephus]. Weiter: _"Philo von Alexandrien bezeugt auch die Praxis nächtlichen Hymnengesangs in den Mahlfeiern der „Therapeuten“, so in seiner Schrift „Über das betrachtete Leben“. Gesang beendete auch die Feier des Passahmahles, später festgelegt als sog. „kleines Hallel“ (Ps 114 - 188, vgl. Mk 14,26).

Gebetet bzw. gesungen wurde auch beim Besuch des Tempels: ‚Morgens, mittags und abends in den Tempel gehen um des Preises des Schöpfers willen‘ […]_
"

Ob es sich nun wirklich um eine „Urform des Betens“ handelt, da erlaube ich mir kein Urteil, jedenfalls für das frühe Judentum sind Gesänge bezeugt.

Grüße
fliegerbaer

Hallo Fliegerbär,

danke für den Hinweis auf das Buch von Berger.

Dass es Hymnen und Gesänge gab, habe ich zu keinem Moment bezweifelt.
In meiner Fragestellung geht es jedoch um die Melodien für diese Gesänge und was man über diese liturgischen Formen des Gemeinschaftsgebets in dieser Hinsicht sagen kann.

Viele Grüße

Iris

1 Like

Hallo,

da habe ich falsch gedacht, ich war der Meinung die Vorgehensweise im Workshop sei dir insgesamt fragwürdig. Ich hatte nicht bemerkt, dass du das ausschließlich auf die Melodien bezogen hast.

Tja, da gibt es noch ein Zitat bei Berger: „Generell kann man sagen, dass die Hymnen wie die Psalmen des Alten Testaments im Frühjudentum zu apotropäischen Zwecken rezitiert wurden.“

Ob man daraus eine Art Mantra ableiten kann traue ich mir nicht zu 100 % zu beurteilen, würde ich aber erstmal so interpretieren.

Bezüglich der Möglichkeit von Melodien, müssen wir wohl auch auf jemanden warten, der die Originaltexte (nicht nur aus Qumran!) versteht, denn auf deutschen Übersetzungen aufzubauen macht da keinen Sinn. Jedenfalls gibt so jemanden hier.

Die Melodien selbst wiederum, werden aus meiner Sicht wohl ein Geheimnis bleiben, zumindest sind mir keine Noten(schriften) (wie auch immer diese damals ausgesehen haben könnten) zu den Dokumenten bekannt.

Grüße
fb

Hallo Iris.

Mein Wissensstand ist, daß man heute nicht mehr
weiß, wie die Melodien waren, die im Tempel dazu gesungen
wurden.

Das ist auch mein Wissensstand. Bekannt ist alleine, dass Psalmen auch früher schon gesungen wurde, auch im Tempel und auch mit Musikbegleitung. Melodien sind dabei nicht überliefert, wenn man dabei davon absieht, dass manche Mystiker behaupten, diese zu kennen.

Die Workshopleitung hatte keine für mich nachvollziehbaren
Begründungen für ihr Vorgehen, sondern es wurde eine Art
„Urform des Betens“ behauptet, die sicher auch im Judentum so
vorhanden gewesen sei, und wenn nicht am Tempel wo denn sonst?

Mit Beten hat obiges nichts zu tun, zumindest wenn ich das jüdische Verständnis des Gebets zu Grunde legen, welches auch damals nicht anders war. Und der Tempel diente NICHT zum beten, zumindest nicht mehr als jeder andere dazu erlaubte Ort.

Das alles ist dir wahrscheinlich alles bekannt, aber bei mir führen solche Details immer dazu, die gemachten Behauptungen mehr als in Frage zu stellen. Sollten die Behauptung auf einem Wissen basieren, warum dann hier solche aklatanten Fehler?

Gruss,
Eli

Hallo Iris,

… es wurde eine Art „Urform des Betens“ behauptet, die sicher auch im Judentum so vorhanden gewesen sei, und wenn nicht am Tempel wo denn sonst?

„Urform des Betens“ sicher nicht. Aber daß konstante Rhythmen und Polyrhythmen in Ton/Musik, Sprache und Bewegung/Tanz ein Mittel der Versenkung (jenachdem: Trance, Ekstase, Meditation) sowohl im sakralen als auch profanen Kontext war und ist, ist ja bekannt und unbezweifelbar. Es ist auch zahlreich aus der Antike vieler Kulturen überliefert.

Einiges darüber findet man z.B. in Joost Meerloo: „Rhythmus und Ekstase“

Was man über ähnliche Traditionen im antiken Judentum rekonstruieren kann, weiß ich nicht. Aber sicher dürftest du fündig werden in:

Joachim Braun:
Die Musikkultur Altisraels/Palästinas. Studien zu archäologischen, schriftlichen und vergleichenden Quellen
ISBN 352553664X Buch anschauen

Und dann müßte eigentlich im Europäischen Zentrum für jüdische Musik jemand zu finden sein, der über den aktuellen Forschungsstand berichten kann.

Weiter habe ich bei mir eine Notiz, leider ohne Quelle, daß in der Geschichte der christlichen → Litanei der Psalm 136 mit seinem stetigen
כי־טוב כי לעולם חסדו
ein Prototyp gewesen sein soll.

Daß die heute verwendeten Tropen der Synagogenmusik auf antike Traditionen zurückgehen, darüber finde auch ich nur Behauptungen ohne Belege. Wie zum Beispiel hier auf der Seite des jüdischen Komponisten Jascha Nemtsov.

Schönen Gruß
Metapher

Wallfahrtspsalmen
Ok… Ich habe mich tatsächlich schon einmal wissenschafttlich mit dem Thema auseinandergesetzt. Und weißt Du was? Man hat schlichtweg keine Ahnung, wie die Psalmen gesungen wurden. Mein Schwerpunkt lag auf den Wallfahrtspsalmen, von denen man allerdings auch nicht weiß, warum sie heißen, wie sie heißen, denn in diesen Liedern geht es garnicht um die Wallfahrt (mit Ausnahme von Ps 122). Dennoch haben alle (das ist der Stand der Bücher, die bis 2009 veröffentlicht wurden und die ich zum Thema Wallfahrtspsalmen gelesen habe) Autoren Exegese ausgehend von der Überschrift betrieben. Es steht ne Überschrift drüber, die nicht passt (wie eine Abba CD in einer Slayer-Hülle: Es steckt nicht drin, was drauf steht, was aber keinen Autor zu stören scheint!).
Ich habe daraufhin meine eigene Theorie entwickelt, wonach die Psalmen einfach zu Wallfahrten gesungen wurden, obwohl sie wohl zum Tempeldienst gedacht waren. D.h. ihre Intonierung muss sich insoweit von anderen Liedern unterschieden haben, als dass sie sich zum Wallfahrten eignen.
Ich ging also von einer beschwingten Melodie aus…

Das Beispiel zeigt aber auch, dass die Interpretationsansätze einfach Theorien und teilweise pure Spekulation sind. :wink: