Hallo, Jartul,
eigentlich ist der Artikel im »Spiegel« witzig, und zwar aus folgendem Grund: Bei mir als Leser entsteht der Eindruck, dass dem Artikel eine bestimmte Stoßrichtung zugrunde lag, an der als rotem Faden aber nur unter aufwändigem Manövrieren entlang der angeführten Informationen festgehalten werden kann. Anders formuliert: Der Artikel vermischt Information und Meinung auf eine meines Erachtens problematische Weise. Gegen einen gut recherchierten und mit Belegen garnierten Artikel, der neutral zu dem Besprochenen bleibt, wird niemand etwas einzuwenden haben. Es ist auch keineswegs illegitim, einer Ansicht Ausdruck zu verleihen, die im Widerspruch zu einer wissenschaftlichen Perspektive auf ein Thema steht. Ich finde es jedoch frech, den – womöglich unkundigen – Leser aufdröseln zu lassen, was in diesem Artikel inhaltlich nun fest steht, was plausibel ist und was lediglich dem Kopf von Mathias Schreiber entspringt. Darüber hinaus leiden bei dieser Vermischung beide Komponenten: Ein sprachpatriotisch angehauchtes Pamphlet verliert zwischen historisch-linguistischen Bausteinchen massiv an Wirkung; ein mehr oder weniger wissenschaftlicher Ansatz gibt wenig her, wenn am Ende nicht resümiert wird, was aus den gesammelten Daten hervorgeht, sondern das, was von Anfang an klar war: »Der deutsche Sprachgebrauch wird immer schlechter, Leute, tut was!«. Soso.
Auf alle inhaltlich fragwürdigen Ansätze des »sprachpolitischen« Teils kann man kaum eingehen. Erwähnen möchte ich einen Aspekt, der in dem Artikel keineswegs fehlt, der aber ein bisschen versteckt wird, weil er sonst besagte Stoßrichtung, die bekämpfenswerte »Verlotterung der deutschen Sprache«, in Frage zu stellen drohte. »Verlottern« beschreibt, soweit ich informiert bin, einen Prozess, bei dem etwas – von einem einwandfreien Zustand ausgehend – der Verwahrlosung anheim fällt. Das impliziert, dass es – wie bei einem Auto oder einem Haus – einen recht eindeutig feststellbaren Neu- oder Bestzustand gibt. Im »Spiegel«-Artikel steht, der Vorsitzende des »Vereins Deutsche Sprache«, Walter Krämer, habe eine symbolische Versteigerung der deutschen Sprache bei eBay versucht. Wahrscheinlich hat er bei der Auktion den Zustand der deutschen Sprache als schlecht angegeben. Fragt sich: Wann war die deutsche Sprache neu und originalverpackt? Dass die deutsche Sprache quasi ab jetzt, seit kurzem oder seit einer Weile verlottert, lässt vermuten, dass der Idealzustand dieser Sprache vor nicht allzu langer Zeit bestand. Allerdings steht dies im Widerspruch zu im Artikel angeführten Dokumenten aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die nachlesen mag, wer will. Komischerweise nämlich verlotterte die Sprache – wie aus den Texten Schopenhauers oder Kraus’ hervorgeht – schon damals, unaufhörlich und unrettbar sogar, und nahm Formen an, die einst auf großen Widerstand stießen, heute aber gängig zu sein scheinen. Das führt zu dem Paradox, dass das, was heute als »gutes Deutsch« definiert ist, wobei ich glaube, dass eine Diskussion unter selbst ernannten Sprachwächtern über das, was »gutes Deutsch« nun wahrhaftig sei, in einer Messerstecherei enden dürfte, dass also jenes »gute Deutsch« von heute das »schlechte Deutsch« von vor hundert, zweihundert oder dreihundert Jahren ist.
Ein weiterer Punkt, auf den es einzugehen mich reizt, ist die Behauptung, dass der angebliche Verlust an sprachlichem Reichtum eine inhaltliche Verarmung des Diskurses nach sich ziehe. Ich will nicht in Frage stellen, dass Sprache das Denken bestimmt, aber »Verarmung« bedeutet wieder, dass ein hier »reich« genannter Idealzustand verloren gegangen ist. Ist das so? Angeführt wird an dieser Stelle gerne die als bescheiden bezeichnete Diskussionsqualität in Online-Foren oder Chats. Selbst wenn das Urteil stimmt, vergleicht man hier schnell Äpfel mit Birnen: Aus wohl gut gemeintem Perfektionismus stellen wir das Bildungspotenzial und die Produktionsbedingungen der vergangenen Jahrhunderte denen des Mitteleuropas des 21. Jahrhunderts gegenüber. Möglich ist das wohl, aber kaum sinnvoll: Für das Jahr 2006 steht uns ein um das Tausendfache größeres Korpus an sprachlichen Äußerungen zur Verfügung als für sämtliche zurückliegenden Jahre. Heute haben wir in Deutschland eine Alphabetisierungsrate von 99 %; die Möglichkeiten für jedermann, sich selbst unzensiert zu publizieren, sind vielfältig. Das heißt: Bis vor nicht allzu langer Zeit ermöglichte man es nur dem als klug Erachteten, seine Gedanken zu Papier zu bringen, während vieles dumme Geschwätz – unter anderem derer, die man als »einfache Leute« bezeichnet und die nicht dem genügen dürften, was sich der »Spiegel«-Autor unter »Diskurs« vorstellt – längst verklungen ist. Heute ist es dagegen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Bildung möglich, ihre Wortmeldungen, beispielsweise im Internet, recht dauerhaft verfügbar zu machen – sei das gut oder schlecht. Dass es uns gelungen ist, fast jedem das Lesen und Schreiben beizubringen, sollte nicht zu zwei Fehlschlüssen verleiten: dass erstens die inhaltliche Qualität der Auseinandersetzung steigt, nur weil dem gesprochenen das geschriebene Wort hinzugefügt wurde, und dass es zweitens in den nächsten Jahrhunderten mit denselben Schrittlängen vorangehen kann. Wenn das 19. Jahrhundert nur einen Einstein hervorgebracht hat, dürfte es uns kaum gelingen, dem 21. Jahrhundert ein paar Dutzend von dieser Sorte abzupressen.
Um auch den Anglophoben ein Häppchen hinzuwerfen, beschließe ich meine Anmerkungen mit dem Hinweis, dass dies »just my 2¢« waren.
Gruß
Christopher