Rättet däm doitsch

Tach WWW’ler,
habe gerade mit Entsetzen den Artiggel in Spiegäl gelesen:
„Rettet dem Deutsch“
Ein moderater Sprach-konservativer (im wahrsten Sinne des Wortes) führt verschiedene Argumente an, die aber auf eine Kernthese hinauslaufen:
„Wer schief redet, kann nicht gerade denken“

Und das ist m.E. „bullshit“: (ok, für alle, die kein Spiegel lesen: die deutsche Sprache verroht, viele Anglizismen, „was guckst du“ statt deutsche Lyrik mit 347 Wörtern pro Satz, „Da werden Sie geholfen“ statt korrekter Grammatik etc.)
Diese selbsternannten Sprachwächter (die schon seit Jahrzehnten in Frankreich ihr Unwesen treiben) führen doch einen Kampf, der weder Fronten noch einen Gewinner kennt: das Inetzeitalter mit Chatten, Bloggen, Web2.0 ist nunmal globalisierte Melangerie verschiedenster Kulturen. Bedarf es da einer eindeutig „deutschen“ Sprache, um eindeutig „deutsches“ Gedankengut zu Papier zu bringen? Neben uns Inet-Usern (Weltweites-Netz-Benutzern) werden auch die Opfer der modernen Werbeindustrie angeprangert.

Bla.

Was ich sagen will: Kann Sprache nicht als Spiegel der Gesellschaft betrachtet werden? Und wenn sich 50% der Leute eben mit Wörtern ausdrücken die zu 50% dem angloamerikanischen entstammen, ist das beklagenswert? Wie ist die These „wer schief labert, denkt schief“ einzuordnen? Was ist gegen eine universelle Sprache (Englisch statt Esperanto) einzuwenden? Warum sperrt man sich gegen Versuche Englisch als DIE Sprache der Kommunikation im politischen Europa einzuführen (25% der EU=deutsch, nur 16%=F oder E), warum wird angeprangert, dass 90% der (natur)wissenschaftlichen Essays auf Englisch geschrieben werden?

Meine ersten Gedanken dazu: Arme Schweine, die versuchen im Inet ohne Englischkentnisse was zu finden. Arme Franzosen, die immer noch glauben ohne Englisch überleben zu können. Glückliche Chinesen, die mit der Welt kommunizieren können, indem sie etwa 1000 Fremdwörter und 26 Buchstaben lernen. Welche 27.000 Trottel (Europas größter Club äh Verein zur Erhaltung der Sprache) meinen einen Kampf gewinnen zu können, der von hunderten von Millionen gekämpft wird?
Und am wichtigsten scheint mir diese Frage zu sein: Wird die 2-(oder mehr) Klassengesellschaft durch die Verrohung der Sprache gefördert? Wird dumm dümmer und klug klüger?

Verwirrte Grüße nachts um halb eins…

jartUl

Hi Jatul,

ich würde sagen: der Spiegel hat zu 50% Recht, du zu 50%, alle anderen, insbesondere die reformierenden Politiker haben 0% übrig.

The winner is: The Duden. Nie wurde er so gebraucht wie heute!

Gruß!

Horst

Hallo, Jartul,

eigentlich ist der Artikel im »Spiegel« witzig, und zwar aus folgendem Grund: Bei mir als Leser entsteht der Eindruck, dass dem Artikel eine bestimmte Stoßrichtung zugrunde lag, an der als rotem Faden aber nur unter aufwändigem Manövrieren entlang der angeführten Informationen festgehalten werden kann. Anders formuliert: Der Artikel vermischt Information und Meinung auf eine meines Erachtens problematische Weise. Gegen einen gut recherchierten und mit Belegen garnierten Artikel, der neutral zu dem Besprochenen bleibt, wird niemand etwas einzuwenden haben. Es ist auch keineswegs illegitim, einer Ansicht Ausdruck zu verleihen, die im Widerspruch zu einer wissenschaftlichen Perspektive auf ein Thema steht. Ich finde es jedoch frech, den – womöglich unkundigen – Leser aufdröseln zu lassen, was in diesem Artikel inhaltlich nun fest steht, was plausibel ist und was lediglich dem Kopf von Mathias Schreiber entspringt. Darüber hinaus leiden bei dieser Vermischung beide Komponenten: Ein sprachpatriotisch angehauchtes Pamphlet verliert zwischen historisch-linguistischen Bausteinchen massiv an Wirkung; ein mehr oder weniger wissenschaftlicher Ansatz gibt wenig her, wenn am Ende nicht resümiert wird, was aus den gesammelten Daten hervorgeht, sondern das, was von Anfang an klar war: »Der deutsche Sprachgebrauch wird immer schlechter, Leute, tut was!«. Soso.

Auf alle inhaltlich fragwürdigen Ansätze des »sprachpolitischen« Teils kann man kaum eingehen. Erwähnen möchte ich einen Aspekt, der in dem Artikel keineswegs fehlt, der aber ein bisschen versteckt wird, weil er sonst besagte Stoßrichtung, die bekämpfenswerte »Verlotterung der deutschen Sprache«, in Frage zu stellen drohte. »Verlottern« beschreibt, soweit ich informiert bin, einen Prozess, bei dem etwas – von einem einwandfreien Zustand ausgehend – der Verwahrlosung anheim fällt. Das impliziert, dass es – wie bei einem Auto oder einem Haus – einen recht eindeutig feststellbaren Neu- oder Bestzustand gibt. Im »Spiegel«-Artikel steht, der Vorsitzende des »Vereins Deutsche Sprache«, Walter Krämer, habe eine symbolische Versteigerung der deutschen Sprache bei eBay versucht. Wahrscheinlich hat er bei der Auktion den Zustand der deutschen Sprache als schlecht angegeben. Fragt sich: Wann war die deutsche Sprache neu und originalverpackt? Dass die deutsche Sprache quasi ab jetzt, seit kurzem oder seit einer Weile verlottert, lässt vermuten, dass der Idealzustand dieser Sprache vor nicht allzu langer Zeit bestand. Allerdings steht dies im Widerspruch zu im Artikel angeführten Dokumenten aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die nachlesen mag, wer will. Komischerweise nämlich verlotterte die Sprache – wie aus den Texten Schopenhauers oder Kraus’ hervorgeht – schon damals, unaufhörlich und unrettbar sogar, und nahm Formen an, die einst auf großen Widerstand stießen, heute aber gängig zu sein scheinen. Das führt zu dem Paradox, dass das, was heute als »gutes Deutsch« definiert ist, wobei ich glaube, dass eine Diskussion unter selbst ernannten Sprachwächtern über das, was »gutes Deutsch« nun wahrhaftig sei, in einer Messerstecherei enden dürfte, dass also jenes »gute Deutsch« von heute das »schlechte Deutsch« von vor hundert, zweihundert oder dreihundert Jahren ist.

Ein weiterer Punkt, auf den es einzugehen mich reizt, ist die Behauptung, dass der angebliche Verlust an sprachlichem Reichtum eine inhaltliche Verarmung des Diskurses nach sich ziehe. Ich will nicht in Frage stellen, dass Sprache das Denken bestimmt, aber »Verarmung« bedeutet wieder, dass ein hier »reich« genannter Idealzustand verloren gegangen ist. Ist das so? Angeführt wird an dieser Stelle gerne die als bescheiden bezeichnete Diskussionsqualität in Online-Foren oder Chats. Selbst wenn das Urteil stimmt, vergleicht man hier schnell Äpfel mit Birnen: Aus wohl gut gemeintem Perfektionismus stellen wir das Bildungspotenzial und die Produktionsbedingungen der vergangenen Jahrhunderte denen des Mitteleuropas des 21. Jahrhunderts gegenüber. Möglich ist das wohl, aber kaum sinnvoll: Für das Jahr 2006 steht uns ein um das Tausendfache größeres Korpus an sprachlichen Äußerungen zur Verfügung als für sämtliche zurückliegenden Jahre. Heute haben wir in Deutschland eine Alphabetisierungsrate von 99 %; die Möglichkeiten für jedermann, sich selbst unzensiert zu publizieren, sind vielfältig. Das heißt: Bis vor nicht allzu langer Zeit ermöglichte man es nur dem als klug Erachteten, seine Gedanken zu Papier zu bringen, während vieles dumme Geschwätz – unter anderem derer, die man als »einfache Leute« bezeichnet und die nicht dem genügen dürften, was sich der »Spiegel«-Autor unter »Diskurs« vorstellt – längst verklungen ist. Heute ist es dagegen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Bildung möglich, ihre Wortmeldungen, beispielsweise im Internet, recht dauerhaft verfügbar zu machen – sei das gut oder schlecht. Dass es uns gelungen ist, fast jedem das Lesen und Schreiben beizubringen, sollte nicht zu zwei Fehlschlüssen verleiten: dass erstens die inhaltliche Qualität der Auseinandersetzung steigt, nur weil dem gesprochenen das geschriebene Wort hinzugefügt wurde, und dass es zweitens in den nächsten Jahrhunderten mit denselben Schrittlängen vorangehen kann. Wenn das 19. Jahrhundert nur einen Einstein hervorgebracht hat, dürfte es uns kaum gelingen, dem 21. Jahrhundert ein paar Dutzend von dieser Sorte abzupressen.

Um auch den Anglophoben ein Häppchen hinzuwerfen, beschließe ich meine Anmerkungen mit dem Hinweis, dass dies »just my 2¢« waren.

Gruß
Christopher

GuMo,

das schöne an der Sprachwissenschaft ist ja, dass trotzdem jeder so reden kann wie er will weil es hier ja gar keine „Naturgesetze“ gib :smile:

Und wenn sich 50% der Leute
eben mit Wörtern ausdrücken die zu 50% dem angloamerikanischen
entstammen, ist das beklagenswert?

Man kann dazu sicher eine persönliche, aber keine allgemeingültige Meinung haben. Der 16-jährige Teenie ist genauso Herr seiner Sprache wie der Sprachwissenschaftler. Und sie haben sicher eine unterschiedliche Auffassung was denn nun beklagenswert sei…

Wie ist die These „wer
schief labert, denkt schief“ einzuordnen?

Also IMHO ist Sprache schon auch Ausdruck des Denkens. Aber wie Christopher schon schrieb stellt sich die Frage was denn überhaupt „schief sein“ bedeutet. Wer legt das fest?

warum wird angeprangert, dass
90% der (natur)wissenschaftlichen Essays auf Englisch
geschrieben werden?

Vermutlich kennt der Autor keinen internationalen Gedankenaustausch, weil es Deutsch halt nur in D gibt :wink:

CU,
J~

Hi,
Respekt und *, vor allem mit Blick auf die Uhrzeit… :wink:
Du sprichst mir als Befürworter der eher deskriptiven Linguistik aus der Seele.

T.

Um auch den Anglophoben ein Häppchen hinzuwerfen, beschließe
ich meine Anmerkungen mit dem Hinweis, dass dies »just my 2¢«
waren.

Gruß
Christopher

Sprache mit Beinen

Was ich sagen will: Kann Sprache nicht als Spiegel der
Gesellschaft betrachtet werden? Und wenn sich 50% der Leute
eben mit Wörtern ausdrücken die zu 50% dem angloamerikanischen
entstammen, ist das beklagenswert?

Mit der Sprache ist es wie mit der Mona Lisa:

Man kann sie als Kulturgut sehen, die die Gesellschaft bereichert und um ihrer selbst willen zu erhalten ist. Dann wird man sich gegen jeden Versuch wehren, dieses Kulturgut grundlegend zu verändern oder gar zu beschädigen.

Man kann aber auch die Funktionalität in den Vordergrund stellen. In diesem Fall wird man vielleicht vier Beine drunterschrauben und Tassen darauf abstellen oder einen Manga darauf zeichnen.

Ich persönlich neige eher der ersteren Position zu (ohne allerdings die zweite völlig zu vernachlässigen), und die meisten Beine, die man unter unsere schöne Sprache schraubt, mag ich nicht. Denn Sprache ist kein beliebig austauschbares, wertfreies Kommunikationstool.

Was ist gegen eine
universelle Sprache (Englisch statt Esperanto) einzuwenden?
Warum sperrt man sich gegen Versuche Englisch als DIE Sprache
der Kommunikation im politischen Europa einzuführen (25% der
EU=deutsch, nur 16%=F oder E), warum wird angeprangert, dass
90% der (natur)wissenschaftlichen Essays auf Englisch
geschrieben werden?

Ganz einfach: Sprache ist ein wesentliches Element nationaler Identität. Gerade im politischen Europa bedeutet daher der Verzicht auf die eigene Sprache eine - jedenfalls ideelle - Einbuße an nationaler Eigenständigkeit. Dass manch ein Deutscher damit weniger Probleme hat, als ein anderer Europäer, liegt daran, dass in Deutschland - der braunen Vergangenheit sei Dank - in der Regel geflissentlich vermieden wird, dem Bürger ein vernünftiges Bewußtsein für die eigene nationale Identität und einen gesunden Patriotismus zu vermitteln. Das müssen wir abstellen.

„Wer schief redet, kann nicht gerade denken“
Und das ist m.E. „bullshit“. […]
Wie ist die These „wer
schief labert, denkt schief“ einzuordnen?

Nach meinen persönlichen Erfahrungen würde ich diese These sofort unterschreiben (dabei allerdings nicht unbedingt die Anglizismen oder die Verrohung der Sprache in den Vordergrund stellen wollen). Wer unstrukturiert und unverständlich schreibt, hat in der Regel die Thematik, über die er schreibt nicht verstanden oder zumindest nicht vernünftig durchdrungen.

Deskriptive Linguistik…
…ist zwar nicht in meinem aktiven Wortschatz (bin ich hier jetzt eine schützenswerte Minderheit?), möchte mich Tom aber in seinem Lob an Christopher anschließen!

Das mit dem „schief Denken“ sitzt mir noch nicht ganz glatt: Meint ihr wirklich irgendwelche Chat-geschädigten HipHop-Youngsters (hach, ich liebe diese Vergewohlwurzelungen der deutschen Sprache) denken so wie sie sich artikulieren? Ich rede doch auch mit allen Leuten ein anderes Deutsch: meine Nichte bekommt anderes Vokabular um die Ohren gehauen wie meine Schüler bzw. mein Großvater. Beim Schriftdeutsch doch genauso: geschäftlich, ernsthaft, plaudernd oder schmachtend geschriebene Briefe enthalten völlig unterschiedliche deutsche Sprachniveaus. Denke ich deshalb immer verschieden?

Ich weigere mich zu glauben, dass ein Hauptschüler mit einer 6 in Deutsch nicht in Gedanken über den Urknall oder den Tod philosophieren kann. Mir diese Gedanken mitzuteilen wird zugegebenermaßen etwas schwer…

Gruß
jartUl

Hallo noch mal,

möchte mich Tom aber in seinem Lob an Christopher anschließen!

danke!

Meint ihr wirklich irgendwelche Chat-geschädigten
HipHop-Youngsters (hach, ich liebe diese Vergewohlwurzelungen
der deutschen Sprache) denken so wie sie sich artikulieren?
Ich rede doch auch mit allen Leuten ein anderes Deutsch.

Das sind grundsätzlich zwei Paar Schuhe: Wenn jemand willens und in der Lage ist, sich Situationen angemessen, im Sinne von konform, zu verhalten, muss er über mehrere Sprachregister verfügen. Anscheinend ist dies bei dir der Fall (Glückwunsch! :wink:. Dass durchaus bei fast jedermann ein Bewusstsein existiert, was diese Register betrifft, wird deutlich, wenn beispielsweise ein Vater zu seiner Tochter sagt: »So kannst du mit deinen Freundinnen reden, nicht mit mir!« Der Umkehrschluss, dass jeder, der verschiedene Sprachstile voneinander zu trennen weiß, auch in mehreren Registern »zu Hause« ist, stimmt allerdings nicht. Da darf man weder die, wie du schreibst, »chat-geschädigten HipHop-Youngsters« noch Mitglieder jeder anderen Gruppe über einen Kamm scheren. Es gibt immer Menschen, die trotz starker Identifikation mit einer Gruppe X über mehrere Register verfügen und solche, die sich gewollt oder ungewollt begrenzen – sei es der Beamte, der sein Papierdeutsch nicht einmal mehr ablegen kann, wenn er mit Freunden in der Kneipe sitzt, oder eben der Jugendliche, der einer Szene angehört, deren Sprache für Außenstehende schwer verständlich ist. Eine Frage des Alters ist die Vielfalt oder Eingeschränktheit von Sprachregistern nicht.

Ich weigere mich zu glauben, dass ein Hauptschüler mit einer 6
in Deutsch nicht in Gedanken über den Urknall oder den Tod
philosophieren kann. Mir diese Gedanken mitzuteilen wird
zugegebenermaßen etwas schwer…

Sicher wird das schwer; ich teile deine Bedenken. Relativiert werden diese wieder durch die diachrone, also historische, Perspektive. Wer wäre dieser Hauptschüler vor zwei oder drei Jahrhunderten gewesen, was hätte er gekonnt? Vielleicht hätte er nach ein paar Jahren Schule eine Lehre zum – sagen wir – Bäcker, Tischler, Schmied begonnen und anständige Brötchen, Sitzmöbel oder Hufeisen hergestellt. Das Nötigste an Schreiben und Lesen wäre ihm wohl gelungen (womöglich nicht einmal das, je weiter wir zurückgehen). Bestenfalls hätte es zu praktischen Alltagsnotizen und Gerede über Familie, Wetter, Geschäft gereicht, ganz sicher aber nicht zu Schriften oder Diskursen über den Urknall oder den Tod. Unser Bäcker, Tischler, Schmied wäre gestorben, ohne dass eine einzige Zeile der Nachwelt überliefert worden wäre. Wie also kommen wir auf die Idee, ein Hauptschüler von heute solle, statt einen angemessenen Beruf zu lernen und auszuüben, über den Tod und den Urknall philosophieren? Es ist schön, dass wir heute Menschen fast jeder Befähigung einige nützliche Instrumente zur Bewältigung ihres Lebens (Lesen, Schreiben, Rechnen) mitgeben können. Gleichzeitig sollten wir uns davor hüten, Leute in Dinge reinzuquatschen, für die sie keine Neigung und wohl auch kein Talent haben. Es geht schon in Ordnung, dass es heute wie damals »Schwätzer« und »Schaffer« gibt bzw. gab.

Gruß
Christopher

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Hi!

Ich kenne den Artikel nicht (Link wäre nett) aber ich stimme dir zu 100% zu.

Erklären läßt sich das Phänomen auf viele Arten. Meiner Meinung nach entspringt die Englischfeindlichkeit gleich mehreren Quellen:

  • Unsicherheit im Umgang mit der eigenen Kultur. Wer die eigene Kultur nicht als selbstverständlich „gut“ erachtet, hat ein Problem mit anderen, insbesonders dominanteren, Kulturen. Stichwort Hegemonialneid. Damit in Zusammenhang:

  • Generelle Amerikafeindlichkeit, die ihren Ursprung in der Kriegs- und Nachkriegszeit hat. Stichwort Siegerjustiz, Marschallplan.

  • Sozialistisches Grunddenkschema, welches in Europa vorherrschend ist. Ablehnung von Marktprinzipien und Globalisierung, Kapitalismus gilt als Schimpfwort.

  • Immer gerne von mir gebracht: Synchronisationswahnsinn, der einerseits seinen Ursprung in der Anglophobie hat und diese gleichzeitug verstärkt.

Hinter dem deutschen spezfisch antianglophonen Sprachpurismus tun sich Abgründe auf. (Man hat keinerlei Probleme mit lateinischen oder türkischen Wörtern?) Das Phänomen gibt es auch in anderen Ländern, z. B. Frankreich. Dort müßte man es extra analysieren.

Gruß
datafox

Servus Jartul,

den Artikel kenne ich nicht, bloß Deine kurze Inhaltsangabe.

Verschiedene Aspekte sind, meine ich, zu trennen:

  • Anglizismen: Als Teil einer normalen Sprachentwicklung überhaupt nicht zu beanstanden, als Teil einer Sprachverarmung (weil der deutsche Muttersprachler in der Regel halt nicht Englisch kann, sondern bloß eine Art internationales Minimalkommunikationspidgin, welches nur einen winzigen Bruchteil der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten umfasst, die im Englischen wegen der einfachen Grammatik und der strikten Syntax über das ungeheuer reiche Vokabular vermittelt werden) sicherlich nicht Ursache einer Geistverarmung, sondern Symptom derselben: Wer das, was er sagen will, uneingeschränkt in zeitgeistigem Minimalenglisch sagen kann, hat nicht so sehr viel zu sagen, deucht mir.

  • Simsdeutsch in unvollständigen Sätzen und mit amputierter Grammatik: Auch nicht Ursache, sondern Symptom von Gedankenverkürzung: Ein vollständiger Satz ist vor/beim Reden auch vollständig gedacht worden. Ein amputierter Satz ist die Formulierung eines amputierten Gedankens.

  • Gleichzeitig auftretende Rückbildung der passiven Sprachkompetenz: Wer bloß Simsdeutsch und Chatformeln versteht, ist damit von einem bedeutenden Teil seiner intellektuellen Umgebung einschließlich Zeitachse abgeschlossen. Ob sein Horizont durch das problemlose Lesen von Blogs in dem Umfang erweitert wird, wie er ihn selbst hinsichtlich anderer Medien durch Verzicht auf Sprachkompetenz einschränkt, kann ich nicht beurteilen. Ich halte diese Rückbildung passiver Sprachkompetenz nicht für eine Ursache, sondern ein Symptom einer Form von Ichbezogenheit, die es dem davon Befallenen unmöglich macht, den Inhalt irgendeines Satzes zu erfassen, wenn dieser nicht in der ersten Person Singular formuliert oder formulierbar ist oder alternativ in der dritten Person Singular, dann aber maximal aus einem Hauptsatz bestehen sollte.

Es ist nutzlos, eine Sprache „retten“ zu wollen, wenn sie nicht mehr gebraucht wird. Auch führt es nirgendwo hin, wenn man sich über Menschen, die freiwillig auf den Reichtum von Sprache verzichten, beklagt. Beides bedeutet, Ursache und Auswirkung zu verwechseln.

Ich bedaure sie und bin selber eigentlich ganz zufrieden damit, dass ich „sie“ grade eben klein geschrieben habe.

Schöne Grüße

MM

Wie auf den Sprachgebrauch Einfluss nehmen?
Ich bin nicht dagegen, dass der Sprachgebrauch ohne Wertung
beschrieben und mehrheitsfähige neue Codierungen (von der
Dudenredaktion) festgeschrieben werden.

Sorgen bereitet mir eher die unheimliche Geschwindigkeit, mit der
sich das Standarddeutsch verändert. Vorgegeben wird das Tempo durch
die Television. Und, wer im Fernsehen sprechen darf, bestimmt
zugleich die (recht problematische) Qualität dieser Veränderungen.
Die indirekte Rede im Konjunktiv zum Beispiel liegt in den letzten
Zügen; im Indikativ ist die indirekte Rede nicht nur grässlich,
sondern grammatikalisch völlig daneben. Auf der roten Liste der
gefährdeten Arten siecht ein halbes Dutzend weitere wertvolle
Sprachformen dahin; Sowohl-als-auch-Freunde und Es-geht-alles-
Verfechterinnen amten als Totengräber.

Ich frage mich, wie weitere Kreise Einfluss auf die Qualität der
Sprache nehmen könnten, und zwar ohne Rettungs- oder
Missionierungsfimmel, einfach aus Freude an einem guten Deutsch. Ob
sich jedoch ohne eigene Senderkette ein solcher Einfluss aufbauen
lässt?

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Hallo Rolf,

Die indirekte Rede im Konjunktiv zum Beispiel liegt in den letzten
Zügen; im Indikativ ist die indirekte Rede nicht nur grässlich,
sondern grammatikalisch völlig daneben.

ich teile diese deine Perspektive nicht, auch wenn mir ungefähr klar ist, worin sie begründet liegt. Ich betrachte den Sprachgebrauch eher unter dem Aspekt: Wofür ist Sprache da? In erster Linie dient sie der Information und der Interaktion. Dafür steht mir eine Palette an Mitteln zur Verfügung, so wie der Handwerker Arbeitsgeräte in seinem Werkzeugkasten hat. Für einige Arbeiten gibt es nur ein Instrument, für andere Absichten steht in der deutschen Sprache gar kein Werkzeug zur Verfügung. Eine dritte Gruppe von Werkzeugen dient jedoch mehr oder minder demselben Zweck. Viele Handwerker – also viele Sprachnutzer – haben kein Interesse daran, jeden Tag mehrere Geräte für dieselbe Verrichtung zu schleppen. Das heißt, langfristig bleiben die Werkzeuge zu Hause, die entweder nie gebraucht werden oder dasselbe bewirken.

Nehmen wir den Satz »Peter behauptet, er hat sie nicht geschlagen.« Moment, wirst du sagen, es muss »habe« heißen. Warum eigentlich? Allein durch den Hauptsatz wird klar, dass es sich nicht um erwiesene Tatsachen, sondern lediglich um Peters Behauptungen handelt, die in dem Nebensatz referiert werden. Einen winzigen Vorteil besitzt hier der Konjunktiv tatsächlich: Habe ich den ersten Teil nicht mitbekommen und höre nur »er habe sie nicht geschlagen«, muss ich zwar nachfragen, wessen Aussage das ist, kann aber immerhin aus der Verbform schließen, dass zuvor die Quelle der Aussage angegeben wurde. Das ermöglicht der Indikativ nicht. Allerdings trifft dieser Fall offenbar so selten ein, dass es sich für alltagspraktisch orientierte Sprachnutzer als unnötig herausgestellt hat, am Konjunktiv festzuhalten. Für andere Konstruktionen und Formen gilt offensichtlich dasselbe.

einfach aus Freude an einem guten Deutsch.

Das ist ehrenwert: Was aber ist gutes Deutsch? Wenn ich an mir selbst und an anderen überprüfe, warum ich bestimmte Ausdrucksweisen als schön oder ungelenk empfinde, komme ich jedes Mal zu dem Schluss, dass nichts als Gewohnheit dahintersteckt. Diese Gewohnheiten erweisen sich, selbst unter Leuten, die von sich sagen, dass sie pfleglich mit ihrer Sprache umgehen, als äußerst heterogen: »Was dem einen sin Uhl, ist dem andern sin Nachtigall.« – auch, wenn der eine und der andere sonst ähnliche Vorlieben und Ansichten haben. Ich verstehe, wenn sich einzelne Sprecher, wie Konsumenten auf anderen Gebieten, konservativ verhalten, das heißt – weil sie keine Lust haben, Neues zu lernen; weil sie die Übersicht verloren haben; weil sie keine Verbesserungen erkennen können – sprachliche Neuerungen aktiv ignorieren und passiv misstrauisch beäugen. Auch spricht meines Erachtens nichts dagegen, gerade Gewohntes lieb zu gewinnen, obwohl daran objektiv nichts Großartiges ist. Nur zum Maßstab sollte man dieses nicht erheben, finde ich. Wenn man es sich leisten kann, schafft man sich ein Refugium mit gleichgesinnten Menschen und Büchern ähnlich denkender Autoren – in vielen Dingen tun wir dies, wieso nicht auch in sprachlicher Hinsicht?

Gruß
Christopher

PS: Ich weiß nicht, wie das bei euch in der Schweiz gehandhabt wird, aber ich empfinde es als angenehm, am Anfang eines Postings eine Anrede und an dessen Ende einen Gruß vorzufinden – oder wenigstens eines von beiden.

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Auf den Sprachgebrauch Einfluss nehmen!
Lieber Christopher

Wie du aus meinem Beitrag ersiehst, möchte ich mich nicht immer wieder
mit Sowohl-als-auch-Verfechtern anlegen; das bringt beiden Seiten
nichts.

Hingegen möchte ich gemeinsam mit Freunden der deutschen Sprache,
welche die Latte höher setzen, auch Einfluss auf die Entwicklung oder
Bewahrung von Standards gewinnen - mit dem gleichen Recht, wie es sich
andere herausnehmen.

Anrede und Gruss lasse ich manchmal weg, wenn ich möchte, dass nur
meine Formulierung da steht. Aber darüber kann man reden.

Mit freundlichen Grüssen
Rolf

1 Like

Wer schon mal einige Jahre im Ausland gelebt hat und zwangsläufig nur in der Landesprache kommunizieren konnte/musste, weiß seine Muttersprache zu schätzen, hat er doch festgestellt, wie schwierig es ist, in der anderen Sprache z.B. zu streiten, auch wenn man diese Sprache schon recht gut beherrscht. Man beginnt, in der „fremden“ Sprache zu denken und zu formulieren, ohne vorher in Deutsch gedacht zu haben. Ich habe das erlebt und war nicht mehr dieselbe Person, die ich in Deutschland gewesen bin, weil ich mich ganz einfach nicht so detailliert und spitzfindig in der fremden Sprache ausdrücken konnte, man kennt die Feinheiten nie so ganz. Das beweißt, wie wichtig die eigene Sprache für die Identität und Persönlichkeit ist. Daher unterstreiche ich den Spiegelartikel voll und ganz. Wer sich so vehement gegen die Verlotterung der eigenen Sprache wehrt, beherrscht sie auch nicht. Genauso wenig wird er auch eine Fremdsprache wie die englische „beherrschen“.

Hallo Jartul,
schon vor 20 Jahren durfte ich meinen beiden Kindern predigen: Wer falsch spricht, schreibt auch falsch.
Wer falsch schreibt, wird für dumm gehalten (oder er ist es wirklich).
Also finde ich es gar nicht schlecht, dass die Kinder zur korrekten Sprache/Muttersprache angehalten werden.

Lustig wird es erst, wenn 3 bis 4 Sprachen aufeinandertreffen in dem Bemühen, dem einen die andere Sprache näher zu bringen: Wir waren in diesem Jahr Gasteltern für einen japanischen Germanistikstudenten, der nach zwei Jahren Studium zwangsläufig sich nur oberflächlich in deutsch verständigen konnte. Unsere Tochter (Studienrichtung: Asienwissenschaften/Japanologie) hat dann versucht, mit ihren Japanisch-Kenntnissen und ganz viel Englisch sowie etwas Französisch, dem Japaner die deutsche Sprache verständlich zu machen. Gleichzeitig mußten wir als reine deutschsprachige Wesen feststellen, wie diffizil doch die deutsche Sprache ist und wie mehrdeutig doch manche für uns geläufige Wörte doch sind (z. B. Fuchsschwanz - Schwanz des Fuchses, Säge usw.)
Mit Fug und Recht kann ich behaupten, dass alle beteiligten Personen in diesen 4 Wochen mehr über die deutsche Sprache gelernt haben, als sie das für möglich hielten.
Der japanische Student - vorher schon bekennender Deutschland-Fan - war letztendlich begeistert und spart schon auf den nächsten Deutschland-Studienaufenthalt.
Gleichzeitig spart unsere Tochter für ihr Auslandssemester in Kyoto.
Also dann, laßt uns die deutsche Muttersprache pflegen, dass auch künftige Germanistik-Studenten im Ausland noch richtiges Deutsch kennenlernen können.

MfG M.P.

The winner is: The Duden. Nie wurde er so gebraucht wie heute!

Ich fürchte, der Duden ist Teil des Problems und nicht der Lösung.

Gerade unsere unsägliche Rechtschreibreform wurde dadurch ausgelöst, dass der Duden die ihm zugewachsene Autorität nicht wahrgenommen hat, sondern stattdessen die Sprache den Politikern überlassen hat.

Auch in dieser Hinsicht ist die Sprache ein Spiegel der Gesellschaft. Das Thema müsste also eigentlich heißen : Rättet di Geselschafft.

mfg
Klaus