Moin Ralf,
Zunächst einmal: „Tulku“ ist nichts anderes als das tibetische
Wort für nirmanakaya und dieser Begriff ist
meines Wissens keine tibetische Spezialität, sondern im ganzen
Mahayana bekannt.
Das ist richtig. Das Konzept allerdings von in
‚Existenzlinien‘ auftretenden Tulkus (Dalai Lama, Panchen
Lama, Karmapa um nur die bekanntesten zu nennen), die darüber
hinaus häufig wichtige Funktionsträger ihrer Organisationen
sind (gewissermaßen verbeamtete Buddhas und Bodhisattvas), ist
spezifisch tibetisch. In diesem engeren Sinne hatte ich den
Begriff ‚Tulku‘ gebraucht.
Hm…gibt es nicht auch im Zen-Buddhismus kontinuierlich bestehende Unterweisungslinien? Du magst jetzt vielleicht einwenden, dass die anerkannten Zen-Lehrer, also die, um bei deinen Worten zu bleiben: „wichtigen Funktionsträger ihrer Organisationen, gewissermaßen verbeamteten Buddhas und Bodhisattvas“ ja nun ihre Nachfolger und Lehrer dieser Linie nach wiederum ihren eigenen Kriterien selbst ernennen, vermutlich um ihr Werk in „ihrem Geiste“ weiterzuführen, bzw. als Mahayana-Buddhisten ebenfalls danach streben, ihr Werk als Bodhisattvas weiterführen zu können. Allerdings frage ich mich dann schon, wie sich der Zen-Buddhismus Bodhisattvas denn nun real vorstellt?
Mal angenommen, ein Zen-Buddhist, der den Zustand eines Erwachten erreicht hat, wird vom Auto plattgefahren. Was ist denn dann mit seinem Bodhisattva-Gelübte? Um es zu erfüllen, muss er doch weiterhin „wirken“, und das kann er doch nur, wenn er über einen nirmanakaya verfügt. Un warum sollte jemand, der so große Einsicht erlangt hat, dass er den karmischen Strömen nicht mehr hilflos ausgesetzt ist und somit eben nicht mehr im Strudel von Samsara machtlos mitgerissen wird, nicht in der Lage sein, auf die Umstände seines realen Weiterwirkens Einfluss nehmen zu können? Ich nehme an, auch ein kritischer Zen-Buddhist wird dies doch sicherlich hinterfragen. Und zu welchem praktischen Ergebnis kommt er dann?
Ich bin geneigt, das tibetische
Tulku-System als eine ‚praktische Nutzanwendung‘ der
trikaya-Lehre zu betrachten, die die Tibeter da in einer
verhältnismäßig jungen Phase der buddhistischen Geschichte
entwickelt haben.
Die Tibeter selbst sehen sich selbst oder den Mahayana-Buddhismus keineswegs als Erfinder der Trikaya-Lehre sondern verweisen ihrerseits auf die wesentlich ältere Differenzierung in die drei Bereiche kamaloka, rupaloka und arupaloka (Potthapada -Sutta, Digha Nikaya 9; Samannaphala-Sutta DN2), die sich je ebenfalls durch den Grad ihrere Subtilität unterscheiden.
Die von Dir angesprochene
‚Bewusstheit‘ ist in diesem Zusammenhang allerdings auch kein
unproblematischer Begriff, da der dharmakaya frei von
wahrnehmbaren Merkmalen (animitta) und frei von
Begrifflichkeit (nirvikalpa) ist. Das ist nicht gerade ein
Zustand, den man üblicherweise mit ‚Bewusstheit‘ bezeichnen
würde.
Nun ja, der dharmakaya ist ja keine Bewußtseinsstufe, auf der man „nichts“ mehr sieht, sondern auf der man völlig klar alles so sieht, wie es ist. Allerdings hatte ja auch der historische Buddha dieses Problem schon, als er zögerte, nach dem Erwachen überhaupt irgendwem irgendwas zu lehren, weil er sich fragte, ob er das überhaupt jemandem verständlich machen könnte. Gelobt sei sein Mitgefühl für alle Wesen, dass er diesen Versuch trotz aller Schwierigkeiten um „Begrifflichkeiten“ dennoch unternahm. Vielleicht versteht man jetzt auch ein bisschen von der Verehrung der tibetischen Buddhisten für Avalokiteshvara
schließlich war der historische Buddha auch
noch etliche Jahr nach seiner Erleuchtung mit diesem Körper
auf der Erde unterwegs
Und dies (bzw. die Fragen, die sich daraus ergeben) hatte ich
als Ausgangspunkt der trikaya-Lehre benannt. Eben hier stellte
sich die Frage nach der Natur des erlangten Zustandes
(nirvana) und der Natur dessen, der in diesen Zustand
eingetreten ist.
Die Antwort des tibetischen Buddhismus bemühe ich mich ja hier darzulegen. Aber wie lautet denn die Antwort des Zen-Buddhismus auf diese Frage? (Schließt natürlich an meine Ausgangsfragen weiter oben an).
Auch das habe ich nirgendwo behauptet, ich hatte vielmehr
zusammenfassend geschrieben, dass im Vajrayana der der
sambhogakaya-Aspekt"systematisch ausgeformt" wurde. Zu
dieser Systematik (besser ‚Systematiken‘, es gibt
unterschiedliche) gehören die verschiedenen ‚transzendenten‘
Buddhas und Bodhisattvas.
Ja, das ist korrekt. Gibt es auch im Zen-Buddhismus eine Vorstellung vom sambhogakaya?
Da geht jetzt einiges durcheinander. […] Ob nun jemand den Eindruck hat, dass er Dalai Lama Mitgefühl
ausstrahlt, muss jeder für sich selbst entscheiden
Du meinst, das ganze Gerede davon, der Dalai Lama sei wie
seine Amtsvorgänger eine Verkörperung Avalokitesvaras bedeute
lediglich, er strahle Mitgefühl aus? Kann ich irgendwie nicht
recht glauben …
Wieso „lediglich“? Für einen tibetischen Buddhisten gibt es nichts erstrebenswerteres als das Bodhisattva-Ideal, und das speist sich bekanntermaßen „lediglich“ aus dem Mitgefühl für alle Wesen. Wenn man nun einem Menschen begegnet, bei dem man den Eindruck hat, dass er dieses Mitgefühl tatsächlich ausstrahlt, ist das schon ein ziemlich beeindruckende Angelegenheit.
Hier wären wir nun wohl eher bei der Frage angelangt, warum nicht buddhistische Westler, die davon keine Ahnung haben, so einen Hype um den Dalai Lama veranstalten. Das kann ich dir aber leider auch nicht beantworten.
Ach, ich hätte zu dieser Aussage eigentlich Widerspruch vom
Zen-Buddhisten erwartet. Seit wann ist „Buddha-Natur“ etwas
besonderes, das eine erhebliche Macht begründet?
Das habe ich nicht auch nicht gesagt. Etwas Anderes ist es
freilich, wenn sich jemand als Verkörperung eines Buddhas oder
Bodhisattvas bezeichnet bzw. als solcher bezeichnet wird und
damit der Anspruch auf ein Amt begründet wird, sei es ein
geistliches oder weltliches bzw. wie beim Dalai Lama oder
Panchen Lama beides.
Naja. Mit dieser Behauptung ist es wohl kaum getan. Ist dir der Begriff „Jerusalem-Syndrom“ bekannt? Sowas gibt es auch im Umfeld des Buddhismus, wenn irgend welche Leute in einem buddhistischen Tempel aufkreuzen und aus vollster Überzeugung behaupten, sie wären die Verkörperung eines Bodhisattvas. Ich kann dir hundertprozentig versichern, dass diesen Leuten dann nicht „automatisch“ irgend ein Anspruch auf irgend ein Amt zugestanden wird Wenn ich hingehen würde, und jemand anderen, als Verkörperung eines Bodhisattvas bezeichnen würde, hätte das vermutlich auch keine großartige Wirkung Es gehört also tatsächlich schon etwas mehr dazu.
„Buddha-Natur“ ist durchaus nichts
Besonderes; ich habe sie nicht mehr und nicht weniger als der
Dalai Lama. Nun halte ich mich auch nicht für etwas
Besonderes.
Nun denn, ich halte dich schon für etwas Besonders. Du bist z.B. der einzige in diesem Forum, mit dem ich mich auf diesem Niveau über buddhistische Fragestellungen unterhalten kann.
Der Dalai Lama antwortet gerne auf die Frage, wer er denn nun eigentlich sei, mit: „Ein buddhistischer Mönch“.
Den Dalai Lama freilich auch nicht …
Dafür hast du vielleicht andere buddhistische Lehrer, die aus welchen Gründen auch immer für dich etwas „besonderes“ darstellen, und die ich vielleicht nicht mal vom Namen her kenne, weil sie z.B. nie den Nobelpreis verliehen bekamen oder von einer Besatzungsmacht nicht soviel Bedeutung zugemessen bekommen haben, dass man europäische Regierungen unter Druck setzt, sie bei offiziellen Veranstaltungen wieder auszuladen.
Auch wüsste
ich gerne, was du in diesem Zusammenhang als „überweltlich“
bezeichnest. Sind für dich Bewusstseinsebenen, wie sie zum
Beispiel durch Meditation erlangt werden, überweltlich?
Mit ‚überweltlich‘ bezeichne ich hier die sog. transzendenten
Buddhas und / oder Bodhisattvas, da sie empirisch nicht
fassbar sind. Den zweiten Teil Deiner Frage kann ich Dir nicht
beantworten - ich übe mich in Zazen, nicht im Erlangen von
Bewusstseinsebenen.
Was ist denn „Satori“ anderes?
ewisse ‚Verschiebungen‘ des Bewusstseins,
die beim Üben von Zazen gelegentlich auftreten können, werden
idR als ‚makyo‘ klassifiziert, was ziemlich dem Begriff
‚Halluzinationen‘ entspricht. Zu dieser Thematik empfehle ich
den letzten Abschnit des Surangama-Sutra zu studieren.
Auch wenn man es kaum blauben mag, aber auch tibetische Buddhisten verbringen sehr viel Zeit mit Medition und keine Sorge, auch diesen ist das Auftregen von „Halluzinationen“ dabei durchaus bekannt
Na, das ist aber jetzt etwas albern oder polemisch?. Man geht
davon aus, dass zur Zeit der chinesischen Invasions Tibets in
Tibet rund 10 000 anerkannte Tulkus lebent.
Ja, ich hatte ja ebenfalls von einer Inflation gesprochen …
Ich kann mir nicht helfen, aber der Begriff „Inflation“ klingt für mich durchaus abwertend.
Wieviele waren es denn um 1200?
Keine Ahnung.
Dass mittlerweile selbst der
Action-Filmschauspieler Steven Seagal ein (natürlich
anerkannter) Tulku ist - geschenkt.
Die Stellungnahme von Penor Rinpoche dazu gibt es auch kostenlos
http://www.tibet.ca/en/wtnarchive/1997/10/3_2.html
Meinst du nicht, dass du bei deinen Urteilen über den Dalai
Lama, Tulkus etc. etwas voreilig bist?
Ich bin nicht der Ansicht, hier über den Dalai Lama als Person
oder Lehrer’geurteilt’ zu haben.
Das hab ich auch nicht behauptet (Hervorhebung von mir).
Und was das Tulku-System
angeht, habe ich die Ansicht vertreten, dass seine
theoretische Begründung im Rahmen buddhistischer Lehre möglich
ist - etwas, was übrigens die meisten Theravadin vehement
bestreiten würden, die darin einen Verstoß gegen die
anatman-Lehre Buddhas sehen.
Warum dies kein Verstoß gegen die anatman-Lehre Buddhas ist, kann man sicher auch einem Theravadin verstänlich machen, sofern es sich die Mühe machen würde, dies tatsächlich zu ergründen.
Kritisch stehe ich allerdings zur
machtpolitischen Instrumentalisierung der Tulku-Lehre - dass
Du diese Deinerseits bestreitest, ist klar geworden.
Ich habe mit meinem Vergleich versucht zu begründen, warum ich den machtpolitischen Aspekt als eher gering einschätze. Leider hab ich von dir noch keine Begründung gelesen, warum du dem offenbar mehr Gewicht beimisst.
Ich will
jetzt nicht die Karmapa-Kontroverse ausgraben - aber
vielleicht greifen wir die Thematik noch einmal auf, wenn in
ein paar Jahren darüber gestritten wird, wer von den
Prätendenten (ich rechne mit mindestens 3) nun die wahre
Inkarnation Avalokitesvaras und damit der neue Dalai Lama ist
Warum? Suchst du einen tibetisch-buddhistischen Lehrer und weißt nicht, wem du vertrauen kannst? Ich könnte dir da jetzt schon einen in Hamburg oder in Bonn empfehlen
Ich sehe es nicht als Polemik. Ich möchte mir nur nicht als
Buddhist den kritischen Blick verstellen lassen.
Dies kann dir durch vorschnelle Ablehnung aber genau so passieren, wie durch vorschnelle Zustimmung.
Ob es nun um
die Verklärung der tibetischen Vergangenheit zu einem
Shangi-La geht, die unheilige Allianz von singhalesischen
Nationalisten mit Teilen des Sangha in Sri Lanka oder die
Verstrickung japanischer Buddhisten in den japanischen
Militarismus.
Im Gegensatz zu den anderen beiden Beispielen dürfte die Verklärung Tibets das Produkt der Phantasie reichlich schräger Westler und sicher nicht dem tibetischen Buddhismus selbst anzulasten sein. Zum Glück hat ja heute jeder die Möglichkeit, sich im tibetischen Buddhismus selbst zu informieren, bevor er zu Urteilen über was auch immer kommen möchte. Das sollte doch der Mindeststandard eines „kritischen Geistes“ sein, meinst du nicht?
Gruß
Marion