In der Kirche jedenfalls eine alte leidvolle Sache
Hallo Vokietis,
es gab Strömungen in der Kirchengeschichte bzw. gibt als deren Nachfahren noch Strömungen des Christentums, die die Einzelgebote ablehnen und unter der Voraussetzung, Gott sei die Liebe, nur das Liebesgebot (gewissermassen als Behauptung, dass Gott ist) als Religion anerkennen; sie sind für gewöhnlich auch dadurch gekennzeichnet, dass die Orte der Gottesverehrung (Kirchengebäude, freie Natur, variable Plätze) immer wieder variieren, weil Liebe überall aufkeimen kann. Dadurch haben einige von ihnen auch Verbindung zu pantheistischen oder pelagianischen Bewegungen.
Erste Adresse hiefür sind die Libertiner (im mittelalterlichen Sinn. Es gibt drei Ausprägungen dieses Begriffs: 1. gemäss Apg 6,9 freigelassene jüdische Sklaven, die in der Antike allem Anschein nach eine Gruppierung bildeten, 2. oder dann die hier gemeinte Ausprägung, gemäss diversen mittelalterlichen Strömungen ab dem Frühmittelalter, besonders aber seit dem 13. Jahrhundert im Franziskanerorden und weiteren Orden auftretende Denkweise mit ihren Anhängern, die zur Zeit Calvins zwischen die Fronten geriet und 3. Menschen mit einem ausschweifenden Lebenswandel. Die zweite Bedeutung ist hier gemeint).
Soweit ihre Gruppen und ähnliche Gruppierungen innerhalb des Christentums oder der Kirche sich bewegen konnten bzw. können, gehen sie vom biblischen Leitwort aus: „Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes“ (Röm 8,21).
Da jedoch auch Gal 5,13 gilt („seid zur Freiheit berufen, aber nicht zur Freiheit als Zufriedenstellen des Leibes, sondern zur Liebe“) und Paulus keinen Zweifel daran lässt, dass er mit Freiheit bloss die Freiheit vom jüdischen (bzw. einem diesem vergleichbaren) Gesetz meint und nicht etwa die grenzenlose Freiheit des Einzelnen, kommen libertinistische Strömungen regelmässig in ein Spannungsverhältnis zur Theologie (modern ausgedrückt: „meine Freiheit findet ihre Grenzen an der Souveränität des Mitmenschen“ - antik ausgdrückt: „alles, was euch die andern tun sollen, das tut ihnen auch“) und auch in Konflikt mit ihr (wenn sie etwa die Selbsterlösung radikal ablehnt und daher die Unterordnung unter formelle Sakramente fordert). Natürlich packt dann die Tradition noch einen drauf („der andere kann nicht souverän sein ohne eine allgemeingültige sittliche Ordnung, da ihm das Leben dann zu riskant wird, wenn jeder nach Belieben tun kann“), aber die Theologie stellte sich immer grossmehrheitlich und mehrmals auch verbindlich auf die Seite dieser Tradition bzw. gegen die libertinistische Haltung, was z. T. auch zu Ausschlüssen aus der Kirche führte, und dies durchaus in grösserem Ausmass.
Immerhin ist zu konstatieren, dass der Humanismus im Christentum bis heute liberale Spuren hinterlässt, wenn auch dieses ihn dort in die Schranken weist, wo er Selbsterlösung nahelegt.
Gruss
Mike