Überblick über die Geschichte religiöser Texte
Hi.
brauchen Religionsgemeinschaften Texte, die vorzugsweise alt
und keinem lebenden oder überhaupt nur genauer bekannten
Verfasser zuzuordnen sind, die gewissermaßen irgendwann aus
dem Dunkel der Überlieferung auftauchen und zu heiligen
Schriften ernannt werden?
Oder geht es auch ohne?
Ohne Texte, oral oder literal, kann eine religiöse Tradition nicht entstehen und natürlich auch nicht bestehen. Um deine Frage also gleich zu Beginn zu beantworten: Nein, es geht nicht ohne.
Du vermischst oben die Begriffe Text und Schriften. Es gibt auch mündliche Texte. Bis zur Erfindung der Schrift Ende des 4. Jahrtausends BCE, also etwa dem Beginn der Bronzezeit im Alten Orient, wurden religiöse Lehren (d.h. die Anschauungen und Regeln polytheistischer Kulte) oral von Priester-Generation zu Priester-Generation tradiert. In diesen Anschauungen und Regeln manifestierte sich ab dem 4. Jt. der Herrschaftswille einer patristischen Elite, welche gewaltsam die Macht über eine zuvor matristisch-egalitäre Gesellschaftsform erlangt hatte (so z.B. Marija Gimbutas in ihrer „Kurgan“-Theorie und James DeMeo in seiner „Saharasia“-Theorie).
Die ersten relevanten religiösen Schriften sind vor allem mit der religiösen Überhöhung von Herrschergestalten befasst (d.h. den sumerischen Königen und den ägyptischen Pharaonen) sowie mit der Legitimation ihrer Macht über das Volk. In einer Inschrift für den König von Uruk Lugalkiginedudu (um 2.400 BCE) heißt es z.B:
Enlil (= sumerischer Hochgott, Anm. Chan),
der Herr aller Länder,
lässt, als zu Lugalkiginedudu
Enlil
in recht(mäßig)er Weise gesprochen
(und) ihm die Enschaft (= Herrschaft über eine Stadt, Anm. Chan)
mit dem Königtum
verbunden hatte,
(ihn) in Uruk
die Enschaft
ausüben,
(ihn) in Ur
das Königtum
ausüben.
Jetzt folgt ein Beispiel für einen rituellen Text, der die Behandlung der Leiche eines verstorbenen Pharao thematisiert. Fortbestand und Harmonie der Menschenwelt sind nur gesichert, wenn diese Leiche dauerhaft ihre menschliche Gestalt bewahrt. Die Körperzerstückelung wird zwar beibehalten (in Form der Ausweidung, darunter Entfernung des Gehirns), nimmt aber eine positive Bedeutung an: Der Körper erhält die entfernten Organe (die separat beigesetzt werden) symbolisch wieder zurück in einer Weise, die ihn unendlich aufwertet, denn die neuen „Organe“ sind göttlicher Provenienz. Damit vollzieht sich eine Transfiguration des Toten in den himmlischen Seinsmodus. Beispielhaft ist ein der Göttin Isis in den Mund gelegter Text aus der Zeit des Mittleren Reichs (ab 1.500 BCE):
Du hast Gestalt angenommen, indem du die Gesamtheit aller Götter bist;
Dein Kopf ist Re,
Dein Gesicht ist Upuaut,
Deine Nase ist der Schakal (= Anubis, Anm. Chan),
(…)
Deine Zunge ist Thot,
Deine Kehle ist Nut,
Dein Nacken ist Geb,
Deine Schultern sind Horus
(…)
Texte dieser Art werden von Priestern während der Einbalsamierung nonstop rezitiert; durch den Vortrag vollzieht sich die Wiederherstellung des Leibs auf höherer Ebene, er wird ins Göttliche transfiguriert. Der ägyptologische Ausdruck dafür ist „Gliedervergottung“.
In Ägypten sind Sargtexte ab 1.500 BCE auch für Mitglieder der Oberschicht gestattet, welche den Verstorbenen ein glückliches Weiterleben im Jenseits sichern sollten. Die Priesterschaft verlangte für die Erstellung solcher Texte immer ein hübsches Sümmchen.
(poetische Ausmalung des ägyptischen Paradieses Sechet-Iaru)
Du sollst die Steppen durchfahren mit Re (= Sonnengott, Anm. Chan),
er soll dir die Stätten der Lust zeigen.
Du sollst die Wadis antreffen voll Wasser
und dich waschen zu deiner Erfrischung.
Du sollst Papyrus pflücken und Binsen,
Lotusblumen mit Knospen.
Wasservögel sollen zu dir kommen zu Tausenden,
indem sie auf deinem Weg liegen.
Du hast dein Wurfholz nach ihnen geworfen,
und schon sind Tausend gefallen durch das Geräusch seines Luftzugs
an Graugänsen und Grünbrust-Gänsen
Bläßenten und männlichen Spießenten.
Ein neuer Ton kam in den assyrischen Prophetentexten des 1. Jahrtausends BCE auf, die als Orakel für Könige Assyriens dienten. Hier ist als Beispiel für ein dem König Asarhaddon (7. Jh.) bestimmtes Orakel:
(formuliert aus der Sicht des assyrischen Hochgottes Assur)
Eben jetzt haben diese Rebellen gegen dich aufgewiegelt,
dich hinausgetrieben,
dich in Bedrängnis gebracht.
Du aber hast deinen Mund geöffnet:
„Sieh doch, Assur!“
Ich habe deine Klage gehört.
Aus dem Himmelstor schwebe ich hinab.
Ich will sie niederwerfen,
vom Feuer verschlingen lassen.
du wirst zwischen ihnen bestehen bleiben.
Aus der altorientalischen Tradition der Wahrsager / Orakelverkünder / Propheten gingen die israelitischen Propheten hervor und aus diesen die ersten Autoren (historisch aber nicht wasserdicht gesichert) einiger der wichtigsten Texte des jüdischen Tanach (Prophetenliteratur).
Ich gehe wegen der historischen Bedeutung dieser Propagandisten nachfolgend näher auf sie ein.
Dass diese Texte mit anderen Texten während des 6. und 5. Jh. BCE in einem „Heiligen Buch“ des Judentums zusammengefasst wurden, verdankt sich allein dem Umstand, dass die Israeliten im 6. Jh. ihren Staat und ihren zentralen Tempel verloren hatten und einen Ersatz brauchten, der ihre nationale und religiöse Identität dauerhaft repräsentierte. Ohne diese Voraussetzungen wäre der Tanach sicher nie entstanden - und damit auch keine Bibel und kein Koran.
´Prophet´ ist die griechische Übersetzung des hebr. ´nabi´ (Verkünder). In den altorientalischen Quellen erscheint dieser Berufsstand als Seher, Wahrsager und Orakelpriester (beiderlei Geschlechts). Sie gehörten im Alten Orient zur Standardausstattung eines Königshofes. In Ausnahmefällen wurden dem Hof auch die Eingebungen von Privatpersonen zugetragen. Die Verkündungen konnten die politische Entscheidung eines Königs entweder gänzlich bestimmen oder zumindest die Art und Weise, in der er sie umsetzte. In ihnen ging es zuallermeist um das Geschick der Königs oder seiner Dynastie, aber nicht des ganzen Volkes. Damit war die Prophetie ein Instrument der Erhaltung und - inbesondere bei den Assyrern - Legitimation königlicher Macht, was mahnende Kritik am König aber nicht ausschloss. Prophetische Verkündung in der Öffentlichkeit war streng verboten.
Anders sah das bei den israelitischen Propheten aus, die ab dem 9. Jh. BCE in Erscheinung traten. In diesem Jahrhundert begannen die assyrischen Großkönige eine Expansionspolitik, die an Grausamkeit alles übertraf, was die altorientalische Welt bis dahin kannte. Die Bedrohung der beiden Staaten Israel (Nordreich) und Juda (Südreich) und deren Königtümer rief eine freie Prophetie hervor, die sich in radikale Opposition zum König und seiner Hofprophetie stellte. Die Wirksamkeit der freien Propheten hing vom Bedrohungsgrad der Könige ab: Waren diese mehr oder weniger gesichert (z.B. durch ein Bündnis mit den Großmächten), wurde die freie Prophetie unterdrückt. Im andern Fall konnte sie öffentlich auftreten.
In diesen Verhältnissen traten die ersten freien Propheten als Sprachrohr der politischen Opposition auf. Sie waren Ekstatiker - gesichert gilt das für Hosea, Jesaja, Jeremia und Ezechiel, kann aber auch für die anderen angenommen werden. Ihre Eingebungen erfolgten also in ekstatischen Zuständen und brachte ihnen nicht nur bei Gegnern den Ruf ein, „meschugge“ (verrückt) zu sein, was aber den Respekt nicht minderte, der ihnen je nach politischer Situation entgegengebracht wurde. Sie klatschten in die Hände, schlugen sich selbst, stampften auf den Boden, taumelten umher, zitterten wild, verzerrten ihr Gesicht, rangen nach Luft, wanden sich am Boden, verloren zeitweise das Seh- und Sprachvermögen, trugen tagelang freiwillig ein Joch aus Holz oder Eisen, aßen ekelhaftes Zeug, verletzten sich selbst, schrien und stammelten unverständliche Sätze, stießen Flüche und Drohungen aus, fühlten sich schwebend oder sogar fliegend, sahen blendende Lichter und wundersame Gestalten und - was am wichtigsten ist - sie hörten Stimmen, die ihnen Botschaften und Befehle vermittelten. Lustvoll war das nicht. Jeremia klagte über seine Zerrissenheit in zwei Ichs. Wenn er nicht sprach, litt er schlimme Qualen. Trotz seines Flehens nötigte ihm sein Gott aber diese Zustände auf.
Eine dermaßen ekstatische Prophetie ist in dieser Zeit aus Ägypten und Mesopotamien nicht bekannt. Allein in Phönizien und Griechenland gab es Vergleichbares. Ihre Anhänger hatten die Propheten nicht nur beim gewöhnlichen Volk, sondern auch in der gehobenen Schicht. Jede ihrer politischen Äußerungen wurde dem Hof zugetragen. Die Reaktionen der Könige fiel unterschiedlich aus: Manche nahmen die Botschaften ernst, andere ignorierten sie oder ließen die Urheber einsperren. Nicht selten kam es zu physischen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern, auch mit tödlichem Ausgang.
Der erste überlieferte Prophet ist Amos. Wie seine Kollegen prangerte er weltliche Genusssucht an, verbunden mit der Drohung des bevorstehenden Untergangs:
… so sollen die Kinder Israel herausgerissen werden, die zu Samaria (Hauptstadt des Nordreichs, Anm. Chan) sitzen in der Ecke des Ruhebettes und auf dem Lager von Damast … und die elfenbeinernen Häuser sollen untergehen und viele Häuser verderbt werden (Amos 3, 12,15)
Nachdem die Assyrer, wie um die Prognose zu verwirklichen, das Nordreich erobert hatten, belagerten sie 701 Judas Hauptstadt Jerusalem, wo der bedeutendste Prophet Jesaja sich zu Wort meldete (das Buch Jesaja geht auf mehrere Autoren zurück und wurde wie alle Texte des Tanach in der exilischen Endredaktion natürlich überarbeitet, hat aber vermutlich einen „ersten Jesaja“ als Ausgangspunkt):
… denn ihr habt den Weinberg verderbt und der Raub von den Armen ist in eurem Hause… Weh denen, die ein Haus an das andere ziehen und einen Acker zum andern bringen, bis dass kein Raum mehr da sei, dass sie allein das Land besitzen… Weh den Schriftgelehrten, die unrechte Gesetze machen und die unrechtes Urteil schreiben, auf dass sie die Sache der Armen beugen und Gewalt üben am Rechte der Elenden unter meinem Volk, dass die Witwen ihr Raub und die Waisen ihre Beute sein müssen… Lernet Gutes zu tun, trachtet nach Recht, helfet dem Unterdrückten, schaffet dem Waisen Recht, führet der Witwe Sache… (Jes 3/5/10/1)
Chan