Genealogie und Systematik
Hi.
kann mir jemand das System (oder Systemmatiken) nennen wo die Religionen klassifiziert werden. Sinnvoll wäre ja eine art Stammbaum (ähnlich eine Kladnogramms in der Abstammungslehre)…sowas gibts ja in der Biologie seit Ewigkeiten (zumindest seit Carl v. Linnee).
Die Anfänge des Religiösen liegen im Halbdunkel der Prähistorie. Auch die Definition des Religiösen ist umstritten, so dass eine „Abstammungslehre“, was den Ursprung betrifft, nur hypothetisch konzipierbar ist. Rein magische Praktiken oder der Glaube an Wiedergeburt (bereits bei Neandertalern fassbar) sind sicher Elemente des Religiösen, für sich aber noch kein hinreichender Indikator für Religion. Erst der Glaube an eine „Gottheit“ - d.h. ein transzendentes Wesen mit fundamentaler kosmologischer Bedeutung - berechtigt, von Religion zu sprechen. Dass sich viel später aus einem solchen Glauben religiöse Formen entwickeln, die den personalen Aspekt des Transzendenten überwinden (Brahmanismus, Buddhismus z.B.), ändert daran nichts.
Zunächst einige Takte zum genealogischen Aspekt, den man zunächst an den Göttern und nicht an „Religionen“ festmachen sollte, da im Alten Orient die „Religionen“ so eng zusammenhingen, dass man eher von regionalen Ausformungen einer fundamentalen polytheistischen Basisreligion sprechen sollte. Einzig Ägypten wich deutlich von den vorderorientalischen Systemen ab, wobei die Gemeinsamkeiten dennoch klar überwiegen. Erst das Aufkommen monotheistischer Ideen im Judentum (in Ansätzen in der assyrischen Religion vorbereitet durch die Dominanz der Götter Marduk und Sin - letzterer bei Nabonid) beendet das Paradigma einer allumfassenden polytheistischen Religion, wobei nicht übersehen werden sollte, dass dieser Monotheismus nicht als Volksglaube entstand, sondern von einer Priesterelite in bewusster Opposition zum babylonischen Polytheismus konzipiert wurde.
Einer verbreiteten, wenn auch nicht unbestrittenen, Anschauung zufolge (der ich anhänge) begann der religiöse Glaube mit dem Kult um eine Muttergöttin (Große Mutter). Diese Göttin wurde unter dem Aspekt ihrer (parthenogenetisch aufgefassten) Fruchtbarkeit verehrt. Im Neolithikum, als die mit der neu aufkommenden Viehzucht befassten Männer den Zusammenhang von Sex und Fruchtbarkeit entdeckten, setzte zusätzlich zur Sakralisierung des Weiblichen die Sakralisierung des Mannes ein, denn Fruchtbarkeit war in jenen und auch noch späteren Zeiten das entscheidende Kriterium für Göttlichkeit. Im Unterschied zur Muttergöttin, die anthropomorph imaginiert wurde, ordnete man der männlichen Sakralität aber einen Tiergott zu, nämlich den Stiergott. Das haben Funde in Catal Hüyük (um 7000 vuZ.) gezeigt, wobei nicht verschwiegen werden soll, dass die Interpretation dieser Funde umstritten ist (das im Einzelnen auszuführen, führt hier zu weit). Aber wie gesagt, im Bereich der Prähistorie ist man auf mehr oder weniger plausible Hypothesen angewiesen, da es keine Textquellen gibt. Aus diesen beiden Götter-Archetypen - die Muttergöttin und der diese Göttin befruchtende Stiergott, der gleichzeitig als ihr Sohn gedacht wurde - basiert höchstwahrscheinlich die Vielfalt der Gottheiten, wie sie sich in den folgenden Jahrtausenden entwickelt hat. Zu Beginn der historischen (also schriftlichen) Zeit, also um 3000 vuZ., gab es im sumerischen Raum bereits eine Pluralität von Gottheiten, unter denen die Himmelsgöttin Inanna und der Fruchtbarkeitsgott Enki als die wichtigsten herausragen. Mit der von mir kürzlich hier thematisierten Muttergöttin Ninhursag (auch Ninhursanga oder Ninhursang) zeugte er 8 Götter, was ein Indiz dafür ist, dass die Mutter- und Fruchtbarkeitsgottheiten der Hochkulturen auf die prähistorische Konstellation Muttergöttin-Stiergott zurückgeht.
Daran anschließend lassen sich genealogische Linien bis zu den monotheistischen Göttern ziehen. Es ist sicher nicht falsch, Enki und den sumerischen Wettergott Adad als Urahnen des Jahwe anzusehen, denn Enki gilt als Urbild des phönizischen Hauptgottes El, der unumstritten wesentliche Charakteristika für die israelitische Jahwe-Konzeption beisteuerte. Auch dem phönizischen Wettergott Hadad, eine Version des sumerischen Adad, sprechen viele Forscher Modellfunktion für Jahwe zu, sogar eine noch ursprünglichere, denn vor seiner Synthese mit El soll Jahwe, diesen Forschern zufolge, ein Wettergott gewesen sein. Übrigens soll er später dann auch Züge des assyrischen Sonnengottes Schamasch assimiliert haben (im 8. Jh. vuZ), was durch diverse Psalmen mit königstheologischen Motiven gut belegt werden kann. Jahwe ist genetisch also komplex strukturiert.
Heutzutage werden selbstverständlich auch Sprachen in einem Schlüsselverzeichnis gegliedert. So wird das noch in Ostdeutschland gesprochene Sorbisch nach einer ISO-Norm (ISO 639) in den Baum -Indogermanisch->Slawisch->Westslawisch eingeordnet.
Das führt für meinen Geschmack denn doch zu weit. Dann kann man gleich einen TÜV für Religionen einführen
So ein Schlüsselverzeichnis wird wahrscheinlich nie absolut korrekt sein und kann nur den :aktuellen Stand der Religionswissenschaft wiedergeben (auch in der Biologie kommt es ja :durch die molekulargenetisch Methoden zu völligen Neueinordnungen).
Auch wenn du es nicht so meinst: Molekulargenetik wäre für religiöse Genealogien ein guter metaphorischer Ansatz, den ich schon länger praktiziere (ich spreche oft von „Genen“ bei Gottheiten oder religiösen Figuren, wie unten beim Thema „Eva“ zu sehen). Der Religionswissenschaftler Othmar Keel hat das Konzept eines chemischen Modells für synkretistische Phänomene in den 90ern entwickelt. Er bezeichnet z.B. die konzeptuelle Verbindung des Gottes Seth (Ägypten) mit dem Wettergott Baal (Syrien) als „Göttermolekül“, welches für die Jahwe-Konzeption der frühen Eisenzeit große Bedeutung hatte.
Was die Frage der Klassifizierung betrifft, gibt es meines Wissens keine allgemein akzeptierte, die wesentlich über die konventionellen Oppositionen hinausginge, als da wären:
(d.h. oberste Gottheit weiblich oder männlich - für ersteres gibt es Beispiele: Systeme einzelner sumerischer Stadtstaaten mit Inanna an der Spitze, in Akkad mit Ischtar an der Spitze sowie die Religion des minoischen Kreta mit einer anonymen Muttergöttin an der Spitze)
Chan