Hi Helmut,
nein, da hab ich eine bessere Schule gehabt. Der Kamerad, der biografische Einzelheiten, die ich hier preisgebe, ab und zu zu launigen Büttenreden zusammenpuzzelt und sich immer wieder darüber grämt, wie weit weg von der Wirklichkeit er damit liegt, mag sich ein inneres Laubhüttenfest davon machen, das ist egal:
Beide meiner Großväter haben bei Verdun in Blut, Schlamm und Scheiße gelegen, beide haben die Sappen, wenn man nicht tiefer graben konnte - wegen anstehendem Fels, wegen Zeitmangel, wegen Grundwasser oder so - schon auch mal mit einer Wehr aus zwei-drei Lagen aufeinandergeschichteter Leichen versehen, egal ob Kameraden oder sog. „Feinde“ - beide haben das Glück gehabt, zum richtigen Zeitpunkt die richtige Verletzung zu erwischen, so dass sie noch lebend dieser Hölle entronnen sind, bevor sie fürs Vaterland krepieren mussten. Für beide reimte sich fortan das bei klingendem Spiel geblökte „Imleichschriiiit - MARSCH!“ auf „Fürn Arsch!“
Meine Mutter hat 1943 - ungefähr 1950 (ich weiß nicht, ob sie den Ehenamen als Witwe abgelegt hat, bevor sie meinen Vater geheiratet hat) den Namen eines dahergelaufenen Spaghettifressers getragen, der zur Eheschließung die Begutachtung durch seinen Feldwebel vorlegen musste, ob er in rassischer und soldatischer Hinsicht als zur Ehe mit einer Deutschen befähigt gelten könne. Seine Eltern waren eine angesehene Familie von Weinhändlern in ihrem Dorf, deren Vorfahren waren ungefähr 1850 mit dem Bau der Ludwig Süd-Nord-Bahn nach Bayern gekommen.
Mit dem dahergelaufenen Spaghettifresser hat sie sich verheiratet, nachdem das mit dessen Bruder, ihrem Verlobten, nicht geklappt hatte, weil dessen Panzer gleich im September 1939 von einem polnischen Kanonier so sauber getroffen wurde, dass er nicht mehr aussteigen konnte, sondern im Panzerwrack verbrannt ist. Den dahergelaufenen Spaghettifresser selber konnte sie dann 1944 in einem Lazarett in Schlesien noch lebend sehen, bevor er den Heldentod für die Brüder der Achse krepiert ist.
Ihr Bruder, ein rotblonder Bilderbuchgermane mit arischem Langschädel, akzentuiertem Kinn-Nase-Stirn-Profil (möglicherweise weitläufig mit Hermann Hesse verwandt, diesem ein wenig ähnlich), steuerte auf sein Notabitur zu, als die Waffen-SS anfing, wegen allzu gelichteter Reihen nicht mehr nur Freiwillige zu rekrutieren. Meldete sich also freiwillig zur Wehrmacht, um nicht von diesem Barbarenhaufen angeheuert zu werden. Fand sich, nolens volens Leutnant geworden, ein paar Jahre später in einem Lager in Holland wieder, in dem die Amerikaner versuchten (zunächst noch durchaus ernsthaft), aus den Wehrmachtsoffizieren die Nazis rauszufischen. Wurde irgendwann interviewt von einem US-Offizier, wenig älter als er selber, offensichtlich ‚mit Migrationshintergrund‘, der immer zwischen ‚Du‘ und ‚Sie‘ wechselte - Offziere hätte er mit ‚Sie‘ anreden müssen, aber er hatte die Sprache seiner Väter nicht mehr so parat: „Waren Sie in nationalsozialistischen Organisationen?“ „Ja.“ „Welche?“ „Jungvolk.“ „Rang?“ „Fähnleinführer.“ „Hat es Dir gefallen?“ „Ja.“
Der Amerikaner stand auf und kam um den Schreibtisch herum auf meinen Onkel zu. Der bereitete sich darauf vor, dass es jetzt ein paar Ohrfeigen setzen würde, aber der andere nahm ihn bei beiden Händen und dann in die Arme: ‚Hey, es ist für Tage und Tage, dass ich das hier jetzt mache, und Du bist der erste Deutsche, der mir nicht Lugen erzählt! Naturelik ist Boyscouting ein großartig Sake!‘ - Er war ein Fan von Heine, der Loreley, Beethoven, Wagner, deutscher Treue usw. usw. und bitter enttäuscht davon, dass er jetzt, wo er in das Land seiner Väter kam, das er sich so ideal erträumt hatte, nur auf falsche, verkniffene Schlappschwänze traf, die sich gegenseitig darin überboten, ihm zu erzählen, wie sehr sie die Fahrten, die Lagerfeuer, die Sonnwendfeiern, die Hordenabende usw. usw. verabscheut hatten und wie man sie nur mit Gewalt und Drohungen dazu pressen konnte, beim Jungvolk mitzumachen.
Der von den Idealen der deutschen Leitkuh beseelte US-Offizier war übrigens trotz aller Migration perfekt integriert - sein Vater hatte den Anfangsbuchstaben seines Familiennamens amerikanischem Usus angepasst, außerdem zur leichteren Aussprache ein e eingefügt, und so hieß er Cohen.
Ungefähr gleichzeitig wusch und kochte meine Mutter für einen einquartierten französischen Offizier. Der hatte bald mitgekriegt, dass er mit einer Pfarrerstochter zu tun hatte, und weil er von dem Scheißkrieg genauso die Nase voll hatte wie sie und er im Zivilberuf Koranlehrer war (das département 92 hieß damals noch Oran und noch nicht Hauts-de-Seine) überbrückten sie die allgegenwärtigen Mängel außenrum mit philosophischen und theologischen Diskussionen, bei denen sie das Elend vorübergehend ausblenden konnten (Elend: Ja, auch die Sieger, zumindest diese, hatten nicht genug zu essen, und er, ein junger Kerl, stand noch unter dem Eindruck dessen, dass seine alte Mutter, als er sich von ihr verabschiedete und ihr sagte, dass er nach Frankreich und Deutschland in den Krieg müsste, sich im Anschluss von anderen aus der Familie erklären ließ, wo Deutschland ist, daraufhin sagte „Non, c’est trop loin pour moi“, sich hinlegte und starb). Schon wieder ein perfekt Integrierter in dieser Geschichte, diesmal ein Beur.
Jo, und dieser hatte durch seinen Job als Verbindungsoffizier in der Garnison Lindau interessante Gäste, unter anderem den dortigen Verbindungsoffizier der Roten Armee. Meine Mutter behielt in ziemlich genauer Erinnerung, wie dieser, Kenner und Liebhaber deutscher Musik und Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, wie der Amerikaner Cohen herb enttäuscht war von seiner Abordnung nach Deutschland, von der er so viel erwartet hatte: Er konnte, wie er sich auch bemühte, kaum einem Deutschen begegnen, weil alle wegrannten, wenn sie eine russische Uniform nur von weitem sahen - wie er sie dann aufschluchzend fragte „Bin ich Mensch oder bin ich sibirische Wolf?“
So, und mit all diesen Einzelheiten wird es vielleicht einleuchtend, warum ich so gerne die Fenster ein wenig aufmache und Durchzug schaffe, wenn es gar zu muffig stinkt nach
Deutschem Plink und deutschem Taren / deutschem Pfrundt und deutschem Prompt -
deutschem Weckel, deutschem Kahren / deutschem Plump und deutschem Zonk!
Schöne Grüße
MM