Hi zusammen.
Ein Gespenst geht um im Brett ´Religionswissenschaften´ - das Gespenst der Judenfeindlichkeit. Es zeigt sich immer dann, wenn meine Artikel im Thread „Kirche und Homosexualität“ geöffnet werden. Ich will hier nicht diskutieren (lassen), ob das Gespenst real ist - es ist nicht real. Denn ich bin absolut kein Antisemit. Mir wurde per Email von einem Leser (kein Jude) allerdings der Vorwurf der Judenfeindlichkeit gemacht. Ich gehe davon aus, dass diese Einschätzung unausgesprochen von anderen Usern geteilt wird. Das nehme ich zum Anlass, eine allgemeine Frage aufzuwerfen, die lautet:
Ist es überhaupt möglich, den Verdacht der Judenfeindlichkeit zu vermeiden, wenn man Aspekte des Judentums zur Sprache bringt, über die man 1) im Rahmen der aktuellen westlichen Ethik geteilter Meinung sein kann und 2) deren öffentliche Nennung wegen des kontroversen Potentials möglicherweise die religiösen Gefühle jüdischer Leser tangiert?
Ich würde dieses Thema als ´wissenschaftsethisch´ in dem Sinne bezeichnen, dass Wissenschaftlichkeit und Ethik potentiell kollidieren.
Dazu aus Wiki: Wissenschaftsethik:
Die Wissenschaftsethik sucht Antworten auf die Fragen: Was ist im Rahmen des wissenschaftlich Möglichen ethisch erlaubt? Welche Dinge sollten besser unerforscht bleiben? Inwiefern trägt ein Wissenschaftler Verantwortung für die Anwendung der Arbeitsergebnisse?
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Der ethische Aspekt besteht im Kontext der Fragestellung darin, dass aufgrund der Massenmorde an Juden im 3. Reich und der christlich motivierten Judenpogrome in früheren Jahrhunderten die Rücksicht auf die religiösen Gefühle unserer jüdischen Mitbürger zu einem moralischen Wert geworden ist - und das, so betone ich, völlig zu Recht.
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Der wissenschaftliche Aspekt besteht wiederum darin, bei religionswissenschaftlichen Darstellungen, wenn es der thematische Kontext erfordert, auch Aspekte des Judentums zur Sprache zu bringen, deren öffentliche Darstellung potentiell genau die Gefühle verletzt, deren Berücksichtigung, siehe Punkt 1), ein moralischer Wert ist.
Das ist ein Dilemma. Man könnte jetzt sagen, dass es nur darauf ankommt, wie man jene Aspekte darstellt, und dass man sie mit dem entsprechenden Fingerspitzengefühl so darstellen könne, dass Gefühle nicht verletzt werden. Ich meine, dass es nicht so einfach ist. Ich meine, dass es einen weit verbreiteten unbewussten Reflex gibt, der ´_Achtung: judenfeindlich_´ signalisiert und automatisch einsetzt, sobald jemand einen Aspekt des Judentums benennt, über den man - siehe die obige kursive Frage - „im Rahmen der aktuellen westlichen Ethik geteilter Meinung sein kann“. Ich nenne ein Beispiel: Bei Recherchen im Net stieß ich kürzlich auf ein kleines Forum, in welchem jemand - ohne irgendeinen auch nur entfernt antisemitischen Kommentar - einige Stellen aus dem Talmud zitierte. Ich wiederhole: Aus dem Talmud. Also aus einer klassischen jüdischen Literatur. Im nächsten Post erhielt der Schreiber prompt den Vorwurf des Antisemitismus.
(Was zitiert wurde, will ich hier nicht zitieren, da ich mir sonst selbst wieder diesen haltlosen Vorwurf einfange)
Das ist natürlich längst kein Einzelfall. Es scheint mir eher die Regel zu sein. Wie also ist das Dilemma lösbar? Soll jeder, ehe er sich über heikle Aspekte äußert, wortreich vorausschicken, dass er absolut kein Antisemit ist, die folgenden Äußerungen aber für so bedeutsam hält, dass sie im Interesse der objektiven Wissenschaft nicht unterschlagen werden sollten? In Ausnahmefällen wäre das eine Möglichkeit, als Regel lächerlich. Verzichtet man aber darauf, muss man jederzeit mit dem Antisemitismus-Vorwurf rechnen.
Ich betone nochmals, dass ich die Lösung, es käme einfach nur auf die Formulierungen an, für zu simpel halte. Man kann formulieren, wie man will, dadurch verändern sich gewisse Passagen z.B. im Talmud auch nicht. Sobald diese zitiert oder sinngemäß wiedergegeben werden, ist das Problem da - nämlich die Möglichkeit, dass nichtjüdische und vor allem jüdische Leser das als Ausdruck offener oder verdecker Judenfeindschaft in den falschen Hals bekommen könnten.
Chan
PS 1) Natürlich kann die Fragestellung nebenher auch auf Christentum und Islam bezogen werden.
PS 2) Besagte Debatte im anderen Brett steht hier, wie gesagt, nicht zur Diskussion. Die Fragestellung ist eine gänzlich allgemeine.