Eine Szene aus meinem noch unvollendeten Rom-Roman mit Protagonist Lenny, einem amerikanischen Geschichtsprofessor, dessen Geist bei einer Reinkarnationsrückführung im Körper eines jungen griechischen Haussklaven hängen geblieben ist.
Lenny konzentrierte sich nun ganz auf den Konsul. Trafen die Angaben in den historischen Quellen zu, dann stand Vitellius außenpolitisch in einem denkbar guten Ruf. Seinen Aufstieg verdankte er Tiberius, der ihm vor acht Jahren zum Konsulamt und zur Statthalterschaft in der wichtigen Provinz Syria verhalf. In dieser Funktion zeigte sich Vitellius als umsichtiger Diplomat und durchsetzungsfähiger Feldherr. Nach seiner Rückkehr nach Rom vor vier Jahren, als nach Tiberius´ Tod Caligula regierte, ging es mit der Reputation allerdings bergab. Er habe die klassischen römischen Tugenden eingebüßt, die er in der Provinz so überzeugend demonstriert hatte, und sei zur Servilität gegenüber den Caesaren degeneriert - ein Höfling, der es seinen Herrn in allem recht machen wolle und die Tradition begründet habe, den Caesar wie einen Gott zu behandeln. Begonnen habe das unter Caligula, den Vitellius wie einen Gott zu verehren gelobte. Das führte einmal zu der skurrilen Situation, dass Vitellius, als Caligula behauptete, gerade mit der Mondgöttin zu plaudern, sein Nichterkennen der Göttin damit rechtfertigte, dass nur Götter andere Götter zu sehen vermögen. Der Caesar habe die Schmeichelei aber nicht durchschaut und von da an Vitellius zu seinen engsten Beratern gezählt. Unter Claudius erlangte er vor einigen Monaten zum zweiten Mal das Amt des Konsuls. Über den Caesar hinaus richtete sich die Servilität nun auch auf dessen engsten Kreis, vor allem auf Messalina, der Claudius verfallen war, und auf die Freigelassenen Narcissus und Pallas, die Strippenzieher der caesarischen Politik.
Soweit Tacitus, Sueton und Cassius Dio.
Darauf, von Rufus, Piso und Licinia über Vitellius weitere Informationen zu erlangen, hatte Lenny verzichtet. Erstens wollte er seinen Status als vielwissender Seher nicht aufs Spiel setzen. Zweitens war es unwahrscheinlich, dass sie ihm wichtige Hintergrundinformationen preisgegeben hätten. Wer könnte ihnen garantieren, dass ihre Gesprächigkeit später nicht auf sie zurückfiele? Gewiss nicht Lenny-Giton. Das Wort eines Sklaven hatte keinen Wert.
Im Tablinum nahmen alle außer Lenny auf Sesseln Platz, die von Sklaven zusätzlich hereingetragen worden waren. Rufus schloss die Tür zum Peristyl, um die Musik zu dämpfen. Wie es sich für einen Sklaven gehörte, stellte sich Lenny nahe an die Wand. Sein Herz pochte.
Kein guter Zeitpunkt, dachte er und zwang sich zu einem gleichmäßigen Atem.
„Du hattest mir“, sagte Vitellius, „eine grenzenlose Überraschung versprochen, Rufus. Nun löse dieses Versprechen ein.“
„Gerne.“
Es war Rufus anzusehen, dass er sich unsicher fühlte. Im Verkaufen von Edelsteinen, Parfüm und afrikanischen Löwen konnten ihm nicht viele das Wasser reichen, aber einen Seher anzubieten, dessen Fähigkeiten alles übertrafen, was die Überlieferung kannte - das war Neuland.
„Es geht um meinen Hauslehrer. Er heißt Giton und ist…“
Er ließ den Satz kurz in der Luft hängen.
„… ein Seher.“
Das Konsulehepaar musterte Lenny wie ein seltenes Tier.
„Ein Seher. So so.“ Vitellius runzelte die Stirn. „Haruspizes gibt es an jeder Straßenecke. Erlaubt ist die Eingeweideleserei aber nur mit Genehmigung des Caesar.“
Die Einwände hatte Lenny vorausgesehen. Seit Jahrhunderten war der Senat, und in seiner Folge Caesar Augustus, bemüht gewesen, die im ganzen Reich grassierende Wahrsagerei einzudämmen. Augustus ließ alle in Rom auffindbaren Orakelbücher verbrennen oder nahm sie in seinen Besitz. Unter Tiberius wurde unerlaubtes Wahrsagen sogar mit dem Tode bestraft.
„Er ist kein gewöhnlicher Seher“, sagte Rufus. „Sein Wissen geht über das eines Haruspexes weit hinaus. Fast könnte man meinen…“
Er zögerte.
„… dass Giton mit den Göttern in nächstem Kontakt steht.“
Vitellius grinste.
„So wie er dasteht, gleich neben der schönen Aphrodite, bezweifle ich das auch gar nicht.“
Piso mischte sich ein.
„Giton hat uns bewiesen, dass er Dinge weiß, die er eigentlich gar nicht wissen kann. Über den Feldzug des Claudius in Britannia hat er uns Einzelheiten berichtet, als dieser noch gar nicht zu Ende war. Nach der Rückkehr des Claudius, die er übrigens fast auf den Tag genau vorhersagte, haben sich alle Angaben bestätigt, soweit uns die dortigen Ereignisse zur Kenntnis kamen.“
Er gab Rufus ein Zeichen, der sich zu Vitellius beugte und ihm einige Wachstafeln reichte.
„Das ist eine Mitschrift von Gitons Bericht.“
Der Konsul hielt die Tafeln so, dass auch Sextilia sie einsehen konnte, und las sie konzentriert durch.
„Das ist erstaunlich“, sagte er dann. „Falls es wirklich vor der Rückkehr des Caesar geschrieben wurde.“
„Wir beide…“ Rufus wies auf Piso. „… verbürgen uns dafür.“
„Na gut.“
Vitellius legte die Tafeln auf den Schreibtisch und schwieg. Vermutlich überlegte er, welchen Sinn ein von Rufus und Piso geplanter Betrug haben könnte.
„Und was hat das mit mir zu tun? Soll ich das Prachtstück kaufen?“
„Ja, genau das möche ich dir vorschlagen“, sagte Rufus. „Gitons Seherschaft ist vor wenigen Wochen nach einem Zusammenbruch ans Licht gekommen. Plötzlich wusste er all diese Sachen. Die Götter haben ihm diese Gabe geschenkt. Das steht außer Zweifel. Nun habe ich aber keine Verwendung dafür, da private Wahrsagerei verboten ist. Also kam… mir der Gedanke, dir, der du aufgrund deiner Stellung mit viel mehr Freiheit über einen Seher verfügen kannst, diesen Sklaven anzubieten.“
Natürlich war das Lennys Idee. Vitellius wiegte den Kopf.
„Auf den Tafeln steht, dass wir im Kampf gegen die Truppen von Caratacus dreihundertsechzig Männer verloren. Es waren aber genau dreihundertsechsundachtzig. Wie erklärt sich dieser Unterschied?“
„Antworte dem Konsul, Giton.“
Auf dieses vorhersehbare Problem war Lenny vorbereitet.
„Ich bin nur ein unvollkommenes Gefäß für das Wissen der Götter. Da mag es in Einzelfällen zu Ungenauigkeiten kommen.“
Dagegen konnte Vitellius nichts einwenden.
„Natürlich weiß er noch mehr“, sagte Piso. „Er hat Kenntnisse über viele wichtigen Personen Roms, die er unmöglich auf natürlichem Wege erlangt haben kann. Stell ihn auf die Probe.“
Der Konsul dachte nach.
„Also weiß er auch einiges über mich. So sage mir, Sklave, mit welcher Angelegenheit ich kurz vor Tiberius´ Tod in Judaea befasst war.“
Lenny hatte sich gründlich auf dieses Gespräch vorbereitet und all sein Wissen über Vitellius rekapituliert. Manche Details waren ihm erst nach Stunden wieder eingefallen.
„Wenn Ihr den Vorfall mit den samaritanischen Pilgern meint…“
Vitellius nickte verdutzt.
„So ist es. Nun?“
„Ein Mann - ich kenne seinen Namen nicht - hatte versichert, den Ort zu kennen, wo die ersten fünf Bücher der jüdischen Thora vergraben liegen. Deshalb begaben sich zahlreiche samaritanische Pilger zum Berg Garizim. Auf Befehl des örtlichen Präfekten Pontius Pilatus wurden die Gruppe aufgehalten und ihre Anführer hingerichtet. Daraufhin erhoben die Samaritaner bei Euch Beschwerde wegen Mordes an Unschuldigen. Der Präfekt wurde von Euch seines Amtes enthoben und für ihn Euer Freund Publicius Marcellus…“
„Das reicht. Eine andere Frage: Welchen jüdischen Hohepriester hatte ich ein paar Monate später durch seinen Bruder ersetzt?“
Einen Moment lang hatte Lenny Lust, den Göttern für sein ausgezeichnetes Gedächtnis zu danken. Wie aus der Pistole geschossen antwortete er:
„Ihr hattet den Jonathan durch Theophilo ersetzt, Konsul.“
„So kannst du mir auch die Namen der Eltern meiner Frau sagen?“
„Selbstverständlich. Es sind…“
„Genug.“
Vitellius überlegte. Sextilia flüsterte ihm etwas zu.
„Ein guter Gedanke.“ Der Konsul wandte sich wieder Lenny zu. „Vorhin sagte Piso, du hättest den Tag von Claudius´ Rückkehr fast genau vorhergesagt. Du weißt also auch einiges über die Zukunft.“
Lenny zuckte die Schultern.
„Es ist nicht mein Verdienst, dass mir die Götter auch diese Gabe zuteil werden ließen.“
„So so. Willst du damit sagen, dass alle Ereignisse vorherbestimmt sind? Denn nur unter dieser Voraussetzung könnte man die Zukunft vorhersagen.“
Mit Mühe bewahrte Lenny seine ausdruckslose Miene. Vermutlich hatte Sextilia ihren Mann auf Ciceros Kritik an der Vorhersage künftiger Ereignisse aufmerksam gemacht. Leider waren diese Argumente so triftig, dass es schwer sein würde, sie hier und jetzt zu neutralisieren.
„Ihr spielt damit sicher auf Ciceros Argumentation in seinem Werk ´De Divinatione´ an, Konsul.“
„Ich bin neugierig, wie du diese widerlegen möchtest.“
„Nun, das Argument besagt, dass, wenn die Zukunft festgelegt ist, die Vorhersage unheilvoller Ereignisse keinen Sinn macht. Das Unheil wird durch die Vorhersage nicht verhindert werden können und auf jeden Fall eintreffen.“
„Und?“
„Das Argument widerlegt nicht das Vorhersagen, sondern nur seinen praktischen Wert. Genau genommen tut es nicht einmal das.“
„Cicero hat sich also geirrt?“
„Äh… ja, das hat er.“
„Begründe das.“
„Das ist… nicht einfach darzulegen…“
Jetzt kam Lenny nicht umhin, mit einer Zeittheorie aufzutrumpfen, die erst im 20. Jahrhundert entwickelt werden würde. Für römische Ohren musste sie extrem phantastisch klingen.
„Es gibt nicht nur eine Zukunft, Konsul. Es gibt viele davon, oder, genauer gesagt, unendlich viele.“
Vitellius hob die Brauen.
„Hätte ich nicht deine korrekten Angaben über meine Zeit in Judaea gehört, ich hielte dich für einen Irren. Unendliche viele… Zukünfte?“
Lenny lächelte in sich hinein. Dem Konsul war eine komplett unzeitgemäße Wortschöpfung gelungen. Rufus machte eine entschuldigende Geste, um seine Sprachlosigkeit zu übertünchen.
„Ja, Konsul. Unendlich viele Zukünfte. Stellt Euch einen Weg vor. Ihr steht an einem Punkt und könnt nicht erkennen, wohin er in der Ferne führt. Da sagt Euch jemand, dass einige Meilen entfernt eine Schar Räuber lauert, um Euch zu überfallen, und dass dieses Ereignis eintreten wird. Cicero argumentiert, dass, wenn diese Aussage zuträfe, Ihr auf jeden Fall den Weg weiterziehen und überfallen werdet, woraus für den Philosophen folgt, dass die Wahrsagerei gar keinen Nutzen hat.“
„Wie aber argumentierst du?“
Lenny stöhnte innerlich. Die Parallelweltentheorie beinhaltete nicht den Faktor ´festgelegte Zukunft´, daher lieferte sie kein Argument, um die bewusste Steuerung einer neuen Zeitlinie an einem vorhergesagten Ereignis vorbei plausibel zu machen. Es gab keine Garantie dafür, dass eine alternative Zeitlinie, wenn auch auf anderem Wege, nicht zu einem gleichen oder zumindest ähnlichen Ereignis führt wie jene, die man verlassen hat. Also verzichtete Lenny auf Logik und beschwor das Übernatürliche.
„Ich sage: Es ist der Wunsch der Götter, dass der Mensch frei ist in seinen Entscheidungen. Wäre der Mensch nicht frei, welchen Sinn machte es, dass die Götter ihn strafen, wenn sie es für angemessen halten?“
„Einverstanden. Und weiter?“
„Wäre die Zukunft also festgelegt, dann auch die Entscheidungen der Menschen. Nun sind diese Entscheidungen aber frei. Und doch gibt es, im scheinbaren Widerspruch dazu, vorherbestimmte Ereignisse.“
„Du streitest das also nicht ab.“
„Nein. Der Widerspruch zwischen der Entscheidungsfreiheit und der Festlegung zukünftiger Ereignisse verschwindet, wenn man davon ausgeht, dass es unendlich viele Zukünfte gibt, die aber alle festgelegt sind. Frei ist die Entscheidung in dem Sinne, dass sie zwischen verschiedenen Zukünften wählen kann, freilich ohne genau zu wissen, was sie beinhalten. Wenn Ihr dem Unheil, das Euch erwartet, ausweichen möchtet, dann geht einfach einen anderen Weg.“
Lenny brach ab, um die Wirkung dieser üblen Sophisterei auf die Zuhörer zu überprüfen. Mit einem verlegenen Räuspern sagte Rufus:
„Ich hatte dir eine Überraschung versprochen, Vitellius. Nun erfährst du eine nach der anderen.“
Sekundenlang fochte der Konsul einen inneren Kampf aus.
„Kannst du mir sagen, Giton, wer der nächste Caesar wird?“
Fast schien er Angst vor der Antwort zu haben. Lenny blickte seinen Dominus an.
„Das ist eine Vorhersage“, griff Rufus ein, „die mein Sklave dir gerne leisten wird, wenn er den Besitzer gewechselt hat. Du weißt selbst, dass er so bedeutende Dinge nicht vorhersagen darf, solange ich ihn habe.“
Vitellius´ Miene verdüsterte sich für einen Moment im Ärger darüber, diese Kleinigkeit vergessen zu haben. In Lenny erwachte derweil ein wahnsinniger Gedanke.
Der nächste Caesar…
„Wieviel würde er kosten, Rufus?“
„Nun…“
Wer wird der nächste Caesar…? Nero….
„Wie wäre es mit einer Million Sesterzen?“
… oder ich?
„Eine Million für einen Sklaven?“
„Für einen Seher, Konsul.“
Lenny atmete tief durch.
Ich werde der nächste Caesar.