Hallo Daniel,
der Wikipedia-Artikel ist an dieser Stelle etwas missverständlich. Es ist so, dass es zusätzliche Titel für Frauen gibt, und um diese zu erlangen, benötigt frau niedrigere Elo-Zahlen als für den entsprechenden Männer-Titel. Will eine Frau den „Männer-Titel“ erlangen, benötigt sie dieselbe Elo wie ein Mann.
Großmeistertitel als Beispiel:
Um den Titel WGM zu erlangen, benötigt eine Frau mindestens 2300 Elo-Punkte (plus festgelegte Normen, d.h. eine bestimmte Anzahl guter Turnierergebnisse).
Um den Titel GM zu erlangen, benötigen Frauen wie Männer mindestens 2500 Elo-Punkte (plus s.o.).
Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, vermute aber, dass die eigene W-Titelreihe dadurch entstanden ist, dass bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gemischte Turniere nicht üblich waren. Schach war ein Herrensport, die wollten lieber unter sich bleiben; Frauenschach wurde eher belächelt - übrigens mit gutem Grund: Das Niveau lag (und liegt noch immer) im Schnitt weit unter dem im Männerschach. Deshalb ist es meines Erachtens auch gut, dass es die eigenen Frauentitel weiterhin gibt - nämlich eben gerade, um das Frauenschach weiter zu fördern und Anreize für den Nachwuchs zu bieten. Die „Männertitel“ zu erringen liegt für die meisten Frauen in unerreichbarer Ferne. Die berühmteste Ausnahme von dieser Regel ist Judit Polgar, die nach wie vor stärkste Schachspielerin der Welt, wenn sie auch nur noch Rang 54 belegt und nicht mehr zu den Top Ten gehört. Sie hat von klein auf nur Männerturniere mitgespielt, sich nicht einmal um den Frauen-WM-Titel bemüht, den sie mit Leichtigkeit hätte erringen können, aber eben: Das war Schach unter ihrem Niveau.
Die nächstbesten Frauen finden sich in der Weltrangliste dann erst auf den Plätzen 139, 243, 368.
Die Gründe dafür sind auch nach langer Diskussion nicht hundertprozentig geklärt. Natürlich sollte für das Schachspiel von seinem Prinzip her das Geschlecht keinen Unterschied machen. Chauvi-Argumente wie, dass das weibliche Hirn anders strukturiert und für Schach nicht geeignet sei oder Frauen einfach nicht lange genug still sitzen können, werden heute natürlich höchstens noch scherzhaft eingebracht (waren aber durchaus irgendwann einmal ernst gemeint!).
Ein Grund ist sicher die Anzahl: Nur gut 7% der beim Weltschachbund gelisteten Aktiven sind weiblich.
Nach wie vor wird das Schachspiel eher von Männern an ihre Söhne, Enkel und Neffen weitergegeben.
Es finden wohl auch einfach mehr Jungen solchen Gefallen am Spiel, dass sie regelmäßig trainieren und über lange Jahre dabei bleiben. Den Grund dafür sehe ich ebenfalls vor allem in unterschiedlicher Erziehung und Sozialisation, sprich: nach wie vor in den klassisch-konservativen Rollenmodellen für Männer und Frauen. Platt gesagt: Jungen lesen Schachbücher, Mädchen Pferdegeschichten.
Schönen Gruß
Alexander Ebel