Schiller: Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten trotz seines Weltbürgertums?

Guten Tag!

„Es soll einmal im Zweiten Weltkrieg vorgekommen sein, dass ein Deutscher im Zug nach der von den deutschen Truppen besetzten französischen Hauptstadt einem Franzosen begegnete, der gerade dabei war, Schiller zu lesen. Warum Schiller, fragt der Nazi. Sehen Sie, erklärt der Franzose, Schiller ist ein internationaler Dichter. Er hat für die europäischen Völker geschrieben: für die Engländer Maria Stuart, für die Spanier Don Carlos, für die Tschechen den Wallenstein, für die Russen den Demetrius, für die Italiener Die Verschwörung des Fiesko und Die Braut von Messina, für die Schweizer Wilhelm Tell und für die Franzosen Die Jungfrau von Orleans. Und was hat er denn für die Deutschen geschrieben, fragte der beunruhigte Deutsche. Die Räuber, antwortete der Franzose ruhig …"

Quelle: Kraftwerk Schiller. Was der Dichter uns heute zu sagen hat. Herausgegeben von Jeane-Claude Line in Zusammenarbeit mit Herbert Arthen. 2009 Verlag Freies Geistesleben.

Warum wurde Schiller von den Nationalsozialisten so vereinnahmt, obwohl er - im Gegensatz zu beispielsweise Shakespeare - seine Dramen in unterschiedlichen europäischen Ländern spielen ließ?

Selbst Adolf Hitler, der schon in jungen Jahren den Tell in Linz gesehen hatte, musste schließlich feststellen:

Ausgerechnet Schiller musste diesen Schweizer Heckenschützen verherrlichen.

Moin,

von repressiven Systemen (längst nicht nur den Nazis) wird vereinnahmt, wer nicht bei drei auf den Bäumen ist und da tote Menschen so was schlecht können…

Selbst Werke von Heine wurden weiterhin in Schulbüchern gedruckt, wenn auch mit der Quellenangabe ‚Anonym‘ oder ‚Volksgut‘

Man muss ja irgendeine Legitimation haben, und wenn selbst Bismarck von der DDR als Pionier der Sozialgesetzgebung vereinnahmt wurde, was soll denn bei Schiller und den Nazis erklärungsbedürftig sein?!

Gandalf

Servus,

was genau meinst Du mit „so vereinnahmt“? Das Verbot von „Wilhelm Tell“ als Schullektüre, das 1941 durch den Führer veranlasst wurde?

Schöne Grüße

MM

In Ordnung. Es hat nicht jeder das gleiche Hintergrundwissen.

Hitler betitelte ein Kapitel in „Mein Kampf" mit dem Schillerschen Zitat „Der Starke ist am mächtigsten allein", er bezeichnete Schiller als den „größten Freiheitssänger unseres Volkes", zu „Führers Geburtstag" wurde bevorzugt die Ode an die Freude gespielt, bis zum Verbot war der Tell war als National- und Führer-Drama geschätzt (http://www.zeit.de/1991/41/hitler-gegen-tell), das Reiterlied aus dem Wallenstein wurde geschätzt, Schiller wurde als Patriot gefeiert u.s.f.

Nachdem Goebbels das Schillerhaus in Weimar besucht hatte, schrieb er:

„Unten lärmen die lauten Züge. Hier oben starb Euer Ahne, ihr Jungens. Lernt seinen Geist kennen … nicht die starke Faust macht es allein … Ihr geht in die Breite. Und wir müssen in die Tiefe steigen, wenn wir den neuen Menschen formen wollen … Ihr frischen Jungens. Ich grüße Euch von unserem großen Ahnen Schiller."

Hitler meinte nach dem Besuch des bescheidenen Schillerhauses:

„Als ich soeben da oben stand, an dieser primitiven Bettstatt und an diesem einfachen Schreibtisch und mir vorstellte, wie lange Schiller hat kämpfen müssen (…), da kam mir aufs Neue der trostlose Gedanke, der mich schon in meiner Jugendzeit in Linz quälte, dass Genie und Schöpferkraft fast immer mit Hunger und Not verbunden sind.“

Moin,

aber meinen Artikel hast Du gelesen?!

Wie ich dort schon schrieb, wurden ja auch Werke des Juden und Deutschlandkritikers Heine weiter verwendet, wenn auch verschämt unter falschen Angaben.

Und was kann Schiller dafür, daß Zitate von ihm sinnentstellend verwendet wurden?

Gandalf

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Servus,

jetzt wollte ich mich vorsichtig an Deine Frage herantasten und ihre eigentliche Substanz suchen. Alldieweil mir die von Dir vorgelegte Auffassung von Schiller (+ 1805) als einem Vater der Ersten Internationale (* 1864) zwar ein bissle arg mechanisch-rechenhaft vorkommt, aber immerhin einen Ansatz böte, Verständnis und Rezeption eines dichterischen Werkes im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext zu erläutern und zu zeigen, dass nicht bloß das Motiv des Tyrannenmordes aus „Wilhelm Tell“ für die NS-Leitideologen unverdaulich war, sondern der ganze Autor Schiller eklektizistisch zerstückelt und zurechtgebogen werden musste, um ein NS-propagandistisch verwendbares Schillerbild zu erzeugen.

Auf dieser Grundlage ließe sich dann auf den Begriff „Vereinnahmung“ eingehen.

Aber nach diesem hier:

Es hat nicht jeder das gleiche Hintergrundwissen.

hab ich dazu keine Lust mehr dazu.

Vermutlich glaubst Du auch, Heinrich Hoffmann von Fallersleben habe sich für den deutschen Imperialismus engagiert, weil er das Deutschlandlied geschrieben hat.

Noja, seisdrum.

Schöne Grüße

MM

Hallo,

vereinnahmt, obwohl er - im Gegensatz zu beispielsweise
Shakespeare - seine Dramen in unterschiedlichen europäischen
Ländern spielen ließ?

kann es sein, dass es da etwas an Hintergrundwissen mangelt? Hamlet - Dänemark, Othello - Zypern, Timon von Athen - Griechenland, Romeo und Julia (sowie etliche weitere Stücke) - Italien, Perikles, Prinz von Tyrus - Syrien / Kleinasien, Maß für Maß - Österreich, Viel Lärm um Nichts - Sizilien usw. …

Gruß,
Ralf

Hi.

Zur Zweckentfremdung Schillers durch die Nazis siehe:

http://www.texttexturen.de/arbeiten/schiller_rezepti…

http://www.hausarbeiten.de/faecher/vorschau/95705.html

(Abschnitt III, 1 über Schiller)

Chan

Servus,

ist doch die Kasche: Hat ein Schriftsteller einen Zweck?

Schöne Grüße

MM

Du siehst einen Zusammenhang zwischen Schiller und der Ersten Internationale?

Danke für den Hinweis! Shakespeares vielleicht bekanntestes Drama, der Hamlet, spielt in Dänemark.

Gemeint war in der Frage natürlich nicht „im Gegensatz zu beispielsweise Shakespeare", sondern „ähnlich wie Shakespeare". Schiller wird ja manchmal als der „deutsche Shakespeare" bezeichnet.

Hallo

Warum wurde Schiller von den Nationalsozialisten so vereinnahmt, obwohl er …

Kennst du irgendeinen (guten) Dichter, der zu den Nationalsozialisten gepasst hätte?

Viele Grüße

Dietrich Eckart. :-/ Doch das war vermutlich kein guter Dichter.

http://de.wikipedia.org/wiki/Dietrich_Eckart#Schriften