Sehr geehrte Daniela,
Die Skalen-Frage kann so nicht beantowrtet werden, sie ist quatsch.
In der Fachliteratur gehen die Meinungen auseinander, ob Persönlichkeitsstörungen überhaupt als KRANKHEITEN anzusehen sind oder eher als auffällige, aber nicht unbedingt krankhafte Abweichung der Persönlichkeitsstruktur von der Norm.
Auch unterscheidet sich die Bewertung hinsichtlich der spezifischen
Persönlichkeitsstörungen sehr stark: jemand mit einer schizoiden oder zwanghaften Persönlichkeitsstörung wird alleine deswegen nur sehr selten zum Psychiater oder Psychotherapeuten kommen, jemand mit einer deutlichen Borderline-Persönlichkeitsstörung schon eher.
Und selbst WENN man eine Persönlichkeitsstörung hat (wie z.B. eben die schizoide), dann gibt es innerhalb dieser Diagnose natürlich alle Ausprägungsgrade von einer Person mit noch relativ leicht schizoider Akzentuierung bis hin zu schweren Varianten, wo die Betreffenden äußert kühl erscheinen und im zwischenmenschlichen Bereich kaum noch zurechtkommen.
Die entscheidende Crux bei der Diagnose „Persönlichkeitsstörungen“ ist die der „Comorbiditäten“, erst DA erlangen die Persönlichkeitsstörungen ihre eigentliche Wertigkeit.
Mit anderen Worten: eine schwere Depression bei einem „nicht-persönlichkeitsgestörten“ Menschen läßt sich meistens gut und rasch behandeln bzw. heilen. Wenn sich jedoch herausstellt, daß sich HINTER der Depression eine ausgeprägte Persönlichkeitsstörung befindet, die diese mit aufrechterhält und sich jeder Persönlichkeitsveränderung in den Weg stellt, DANN kann die Depression chronisch werden bzw. sehr viel schwerer zu behandeln sein.
Ähnlich auch beim Alkoholismus: Alkoholabhängigkeit beim NICHT persönlichkeitsgestörten Menschen ist kein SO großes Problem, Alkoholismus bei einem Menschen MIT gleichzeitiger schwerer Persönlichkeitsstörung kann jedoch chronisch und unheilbar werden, DAS meinte ich mit „Comorbiditäten“ und DAS ist die eigentliche Crux an der ganzen Sache. Auf den Punkt gebracht: wenn jemand eine schizoide Persönlichkeitsstörung hat, muß er deswegen alleine noch nicht krank sein, wenn aber jemand große psychosziale Probleme, Alkoholismus und Depression hat, die sich allesamt auf dem BODEN seiner Persönlichkeitsstörung entwickelt haben und untrennbar mit ihr verknüpft sind, DANN kann es wirklich schwierig werden.
Ich hoffe, daß mit diesen Ausführungen die Frage nach der Relevanz und dem Krankheitswert von Persönlichkeitsstörungen etwas klarer geworden ist. Das von mir Gesagte schlägt sich überigens auch in der Politik der Kostenträger (Krankenkassen, Renteversicherungsträger usw.) nieder: da, wo ich lebe, ist es für die Krankenhausärzte schwer, für einen ansonsten psychisch „gesunden“ Menschen mit Alholabhängigkeit mehr als 5-7 Tage Akutbehandlung (in der die Entgiftung stattfindet) rauszuschlagen.
Wenn man aber „Alkoholabhängigkeit auf der GRUNDLAGE einer schweren Boderline-Persönlichkeitsstörung“ z.B. diagnostiziert und nachweist, daß das erste mit dem zweiten zu tun hat, dann kann man bis zu einem Vierteljahr stationäre Behandlung für den Patienten genehmigt und bezahlt bekommen.
Mit freundlichen Grüßen,
Dr. med. Stefan Müschenich