Hallo infi,
ich finde du hast da eine füchterliche Situation beobachtet, und ich verstehe gut, dass man/ihr eine Weile brauchtet, bis ihr euch zu einer Reaktion durchringen konntet. Und bis dahin war es eben zu spät, die Leute waren gegangen.
Ich habe siebzehn Jahre in der Heimerziehung vom Bezirksamt Kreuzberg (Berliner Stadtteil, der als „sozialer Brennpunkt“ bezeichnet wurde) gearbeitet. Wir haben großen Wert auf Elternarbeit gelegt, immer mit dem Ziel, dass die bei uns lebenden Kinder in den elterlichen Haushalt zurückkehren können. Das ist uns sehr unterschiedlich gelungen. Es gab einfach Eltern, die außer Versprechungen, die so gut wie nie eingehalten wurden, nichts auf die Reihe kriegten. Und da wurde es dann auch immer mal erforderlich „Tacheles“ zu reden. Glasklare Forderungen zu stellen, immer wieder vorgebrachte Entschuldigungen als Ausreden vom Tisch zu wischen. Beinhart zu sagen, „Wenn ihr es bis dann und dann nicht gebacken kriegt, mit viel Hilfe und Unterstützung (z.B. Familienhelfer, Einzelfallhelfer) dann werden wir eine andere Perspektive suchen. Es geht nicht an, dass XX jahrelang im Heim lebt, weil ihr nicht aus dem Pudding kommt“. Dass dieses Verhalten auch Gründe hatte, die ihnen meist nicht anzulasten waren, lass ich jetzt mal außen vor. Denn uns ging es vordergründig darum, für die Kinder eine Lebensperspektive zu entwickeln, damit sie so kurz wie möglich im Heim leben mussten. Und auch hier soll es ja um das Kind gehen.
Ich habe das alles vorausgeschickt, um zu sagen, dass es trotz dieser Berufserfahrung im Umgang mit schwierigen problematischen Eltern, auch mir schwer gefallen wäre adäquat, entschlossen und hilfreich für das Kind zu handeln. Es wäre zum einen von meiner Tagesverfassung abhängig gewesen, denn -egal für was ich mich entschieden hätte- es wäre ganz sicher zu einem anstrengenden und aufgeregtem Vorfall gekommen. Und meine Einschätzung, ob ich mich dem gewachsen gefühlt hätte, wäre nunmal von meiner Tagesverfassung abhängig gewesen. Es hätte ja niemanden genutzt, wenn die Eltern nach reichlich Hin- und Hergezerre, Schreierei, Drohungen und weiß der Klempner was noch alles, mit dem Kind abgezogen wären.
Eingreifen oder nicht, die Entscheidung wäre auch davon abhängig gewesen, als wie schlimm ich es empfunden hätte. Und da hätte ich mir einfach zugetraut wahrzunehmen, ob es sich um einen einmaligen Ausrutscher handelte, weil alle drei Erwachsenen, aus welchen Gründen auch immer, auf dem Zahnfleisch liefen, keine Nerven mehr hatten. Oder ob das Kind häufig so behandelt wird. Das hier:
Wieder 10 Minuten später rannte das Mädchen herum und sprach
die Kellnereinnen an „Bitte Entschuldigung, bitte
Entschuldigung“, sagte sie immer.
hätte mich so stutzig gemacht, hätte ich sooo bedenklich gefunden, dass ich vermutlich eingegriffen hätte. Aber spätestens hier:
Bis sich eine Kellnerin
erbarmte und die Kleine mit in die Küche oder irgendein
Hinterzimmer nahm. Den Eltern war das nur recht. Danach für 30
Minuten kein Piep von der Kleinen.
wäre mir vermutlich meine Tagesverfassung egal gewesen. Ich hätte mich bei meinen Freunden ihrer Unterstützung versichert, und hätte etwas unternommen. Ich habe das nämlich so verstanden, dass die Eltern gar nicht so genau wussten, wo ihr Kind eigentlich war. Und in der Küche eines Restaurants hat ein dreijähriges, übermüdetes Kind einfach nichts zu suchen. (Das soll jetzt auf keinen Fall gegen die Kellnerin, die sich ja immerhin erbarmt hatte, gerichtet sein.)
Zunächst hätte ich die Restaurantleute gefragt, ob diese Menschen öfter kommen, eventuell bekannt ist wie sie heißen, mit welchem Auto sie kommen, da hätte man schon mal was gehabt, wie man sie ausfindig machen könnte.
Träfe das alles nicht zu, wäre ich zu den Leuten hingegangen, hätte ihnen gesagt, dass ich es nicht hinnehmen könne, wie sie mit ihrem Kind umgingen, und daher dafür sorgen würde, dass das Jugendamt darauf aufmerksam gemacht würde, die ihnen ja auch Hilfsangebote machen würden. Um das tun zu können, müsse ich ihre Namen und Anschrift kennen. Sie könnten mir diese -überprüfbar- jetzt einfach selbst geben. Wären sie nicht dazu bereit, würde ich die Polizei rufen, bis zum Eintreffen derselben sie nötigenfalls auch festhalten. Denn sind sie erstmal weg, kann man nichts mehr tun. Das hätte ich beim Anruf bei der Polizei auch so klar gemacht.
Eine richtige Anzeige hätte ich erstmal noch nicht gemacht. Dem Mitarbeiter des Jugendamtes aber gesagt, dass wir dazu bereit seien, falls die Eltern jede Mitarbeit verweigern, den Vorfall bagatellisieren, oder gar völlig abstreiten würden.
Ich weiß, dass das Ganze einen großen Mut erfordert hätte. Ihr habt euch ja sicher während dieser ganzen Zeit auch eine Vorstellung davon gemacht, wie diese Menschen auf ein Eingreifen reagieren würden. Das hat die Entscheidung für ein Eingreifen vermutlich nicht leichter gemacht. Menschen, die heutzutage -wo jeder, aber auch wirklich jeder weiß, dass Schläge nicht mehr akzeptiert werden- nicht davor zurückschrecken ihr Kind in der Öffentlichkeit übelst zu beschimpfen, zu schlagen, und seine Abwesenheit für eine halbe Stunde -ohne genau zu wissen wo es sich aufhält und ob es dort beaufsichtigt wird- kommentarlos hinzunehmen, sind ganz sicher keine angenehmen Gesprächspartner, wenn es darum geht, dass man ihr Verhalten so sehr missbilligt, dass man das Jugendamt benachrichtigen wird.
Wäre ich allein zur Zeugin geworden, ich fürchte, das hätte meine Handlungsweise doch sehr stark eingeschränkt. Ich glaube, ich hätte mir den Versuch gütlich zu Namen und Adresse zu kommen geschenkt. Hätte gleich die Polizei zur Feststellung der Personalien gerufen, möglichst ohne dass es bemerkt worden wäre, und hätte zu allen möglichen Göttern gehofft, dass sie da sind, bevor die Leute gegangen wären.
Nicht sehr schön, ich weiß, Zivilcourage und persönlicher Mut sind nunmal nicht immer in der erforderlichen Menge vorhanden.
Herzlichen Gruß
Renate
PS.
Im Restaurant nachfragen, ob die Leute dort bekannt sind, könnte man ja eigentlich immer noch.