Dein Vergleich mit dem Goldenen Schnitt auf das Ideal der Schönheit von Menschen zu übertragen, ist gewagt, denn das Prinzip des Goldenen Schnitts wurde hauptsächlich in der Architektur angewendet. Seit der Antike bis in die Moderne hatten Architekten dieses Prinzip als eine Kategorie geometrischer Gestaltung von Bau-Elementen festgelegt.
Indem man von zwei Seitenkanten, die im rechten Winkel zueinander stehen, jeweils einen Zirkel mit einem Kreisbogen schlägt, ergibt sich im Schnittpunkt, in dem sich die beiden Kreisbogen überschneiden, der sogenannte Goldene Schnitt; entspricht etwa deiner Darstellung im Verhältnis von 3 zu 5 Teilen, ist aber nicht deckungsgleich mit der geometrischen Berechnung.
Bei alten Häusern sieht man dieses Prinzip sehr gut in der Gestaltung von Fenstern und Türen, die mit einer waagrechten oder senkrechten Unterteilung konstruiert sind, während die moderne Architektur ganz bewusst von der jahrtausendealten Tradition des Goldenen Schnitts abweicht (Anderssein ist viel schöner!). Man schaue sich nur mal die neuesten Konzern-Hochhäuser aus Glas an, deren Konstruktion ganz gezielt überall schräg anstatt gerade verläuft, um ganz bewusst zu PROVOZIEREN.
Das ist natürlich eine Mode in der Formgestaltungen des Ästhetischen, mit dem heute moderne Produkte hergestellt und verkauft werden. Es genügt nicht, nur technische Funktionalität zu verkaufen, sondern man geht immer mehr bei technischen Produkten auf das ästhetische Bedürfnis ein, man verkauft oft besser mit einem PROVOZIERENDEN Design: Autos, Schiffe, Flugzeuge, Fernsehgeräte, Handys, Computer, etc.
Auch Verlage verkaufen ihre Geist-Produkte nach dem ästhetischen Bedürfnis. Die Gestaltung des Titels ist hierbei oft wichtiger als der eigentliche Inhalt, was man zum Beispiel seht gut erkennen kann beim Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL. Mit der bloßen Gestaltung des Titels geht die verkaufte Auflage entweder nach oben oder nach unten. Der frühere SPIEGEL-Chefredakteur, Stefan Aust, bekannte mal, dass er manchmal das ganze Wochenende damit verbrachte, mit Grafikern, Fotografen und Layoutern einen Titel zu gestalten, der PROVOZIERT.
Vor mir liegt ein Taschenbuch des Suhrkamp-Verlages. Die ästhetische Aufmachung aller Titel dieses Verlages wurde schon vor Jahrzehnte von Willy Fleckhaus, der seinerzeit als bester Grafiker Deutschlands galt, entworfen. Das Besondere an allen Titeln des Suhrkamp-Verlages ist, dass alle Taschenbücher gleichbleibend immer SCHWARZ sind, wobei eine fette farbig Antiqua-Schrift extrem an den oberen Rand des Buches gerückt wird. Diese Gestaltung bleibt immer gleich bei allen Büchern und bewirkt erstens, dass dadurch eine hohe Wiedererkennung der Marke Suhrkamp erreicht wird, und zweitens geht es um die gezielte PROVOKATION zur traditionellen Gestaltung des Goldenen Schnitts, nach dessen Prinzip immer noch viele Verlage mit Titeln ihre Produkte verkaufen.
Ich hatte mal die Fachzeitschrift „Psychologie Heute“ einige Jahre abonniert, und alle Hefte zuerst mal aufbewahrt, bis ich diese Art von popularisierter Psychologie nicht mehr lesen wollte und alle 40 bis 50 angesammelten Hefte in die Mülltonne warf (auf der Insel El Hierro stehen Müllcontainer auf öffentlichen Wegen herum, nicht wie in Deutschland, wo jeder seinen eigene Tonne hat und sie raus und rein stellen muss).
Interessant ist jetzt gerade, dass ich zwar alle Hefte wegwarf als „Schrott“, aber einen einzelnen Artikel dieser Zeitschrift behalten habe, mit der Überschrift „Warum wir der Schönheit nicht widerstehen können“. Den Grund, warum ich sämtliche Hefte dieser Zeitschrift wegwarf, aber ausgerechnet nur diesen einen Artikel aufbewahrt habe, weiß ich nicht. Ich glaube aber, dass es einen Grund gab, aber ich kann mich nicht erinnern, was mich dazu veranlasste, ausgerechnet nur diesen Artikel aufzubewahren.
Der Artikel stammt aus der Zeitschrift „Psychologie Heute“ vom April 2001.
Ich habe einige Textstellen farbig markiert und zahlreiche Anmerkungen gemacht, wobei mir beim erneuten Durchlesen den Artikel nicht wert finde, ihn aufbewahrt zu haben. Obwohl ich nicht nur theoretisch, sondern vor allem durch langjährige berufliche Erfahrung ziemlich gut weiß, wie Propaganda funktioniert, wurde ich vermutlich von dem PROVOZIERENDEN Titel beeinflussen, so dass ich nur allein darin mein Motiv zu erkennen glaube, warum ich diesen Artikel überhaupt aufbewahre.
Autorin des Artikels „Warum wir der Schönheit nicht widerstehen können“ ist die US-Psychologin Dr. Nancy Etcoff. Ihr erster Satz greift sogleich auf Aristoteles zurück, der auf die Frage, weshalb sich die Menschen nach Schönheit SEHNEN, antwortete: „Niemand, der nicht blind ist, könnte diese Frage stellen.“
Was die promovierte Psychologin aus Bosten, USA, sonst noch zu berichten weiß, bringt nicht viel Erhellendes, wie z. B. „Schönheit bezaubert das Herz, umgarnt den Verstand und entfacht das Feuer der Emotionen. Von Platon bis zum modernen Pin-up-Foto haben Abbilder menschlicher Schönheit das nie endende sehnen nach der idealen menschlichen Gestalt gestillt.“
Weiter schreibt Dr. Nancy Etcoff: „Doch wir leben im Zeitalter der hässlichen Schönheit, in dem Schönheit moralisch suspekt ist und Hässlichkeit einen verwegen Reiz hat.“ In gewisser Weise schon, wenn man Mode zum Punk, der Gothics oder von langhaarigen Rockern als Models in der Werbung analysiert (Rocker, die sich in einem Werbe-Spot für eine Bausparkasse nach einem Spießer-Häuschen sehen). Die US-Psychologin zitiert in ihrem Artikel eine gewisse Naomi Wolf, was für mich anscheinend zu seiner Zeit damals von besonderer Bedeutung war, denn dieser Satz wurde von mir vor 14 Jahren dick rot unterstrichen:
"Schönheit ist ein Währungssystem wie der Goldstandard. Wie jedes ökonomische System wird sie von der Politik determiniert, und sie ist das letzte und beste Glaubenssystem in der modernen westlichen Welt…"
existo