Liebe/-r Experte/-in,
in meinem Seminar „die Lüge“ haben wir heute Schopenhauer durchgenommen. Sofort war mein Interesse geweckt. Das Thema meiner Lehrstunde in diesem Semiar ist die Leistungslüge, also körperliches und geistiges Doping in Bezug auf die Lüge. Soweit ich das verstanden habe, besteht das Unrecht der Lüge in der Manipulation bzw. Beeinflussung des Willens einer anderen Person. Wenn man sich nun zu einer Handlung z.b. der Einnahme einer verbotenen Substanz, nicht äußert, begeht man laut Schopenhauer keine Lüge? Und auch wenn ich es äußere, ist Doping eine Lüge, bzw. gibt es bei Schopenhauer soetwas wie einen Gesellschaftsvertrag, welcher bestimmt Dinge grundsätzlich verbietet? Denn in bestimmten Situationen ist sogar Mord zu rechtfertigen, nämlich im Falle der Gegenwehr/ Notwehr, wenn man zuvor angegriffen wurde. In Bezug auf Doping aus eigenem Wille, wird mir Schopenhauers Ansicht leider einfach nicht zugänglich.
Ich freue mich sehr über eine Hilfestellung, Kommentare und Gedankenansätze.
Mit freundlichen Grüßen,
Min89
Hallo Min,
das ist keine einfach Frage und so weit ich weiß, hat sich Schopenhauer nie wirklich klar zu dem Thema geäußert. Gegen die kleinen Lügen des Alltags, die das Leben und den Umgang mit anderen Menschen erleichtern, hätte Schopenhauer sicher nichts einzuwenden gehabt.
In seiner (vielleicht nicht ganz ernst gemeinten) Schrift „Die Kunst recht zu behalten“, gibt er uns sogar Anweisungen zur Manipulation anderer um den eigenen Standpunkt, ob berechtigt oder nicht, obsiegen zu lassen. Wenn es jedoch um Philosophie und Erkenntnis geht, fühlt sich Schopenhauer der Wahrheit völlig verpflichtet. Hier lässt er keine Lüge gelten und poltert gegen seine zeitgenössischen Kollegen, die in seinen Augen nichts weiter tun als Sprache zu verdrehen um damit Augenwischerei zu betreiben.
Das Thema Doping, das in Schopenhauers Zeiten sicher keine Relevanz hatte, berührt nun aber den Aspekt der Gesundheit, und dazu hatte Schopenhauer eine sehr klare Haltung. Auch wenn die Kompensation der Ungleichheit durch die ungerechten Verteilung der Natur für Schopenhauer sicher erlaubt gewesen wäre, ist die Gesundheit des Körpers und insbesondere des Geistes für ihn das höchste Gut. Nur ein Narr würde Karriere und Rang über dieses stellen.
Doping führt zur Überbeanspruchung der eigenen Ressourcen. Diese nicht zu schonen, wäre für Schopenhauer wie eine Kerze von beiden Seiten abrennen zu lassen, was ihre Lebensdauer deutlich verkürzt … Und diesen Preis ist die Sache nicht wert.
Die Frage also, ob die Lüge erlaubt ist oder nicht, wäre für Schopenhauer nicht sonderlich relevant gewesen. Eher die Frage nach dem Zweck und der höhe des zu zahlenden Preises. Sind es lediglich Erfolg, Ruhm und gesellschaftlicher Leistungsdruck die jemanden zu diesem Entschluss führen, wäre Schopenhauers sicher dagegen gewesen. In diesem Fall wäre die Entscheidung Substanzen einzunehmen nicht wirklich frei, sondern durch die Lüge motiviert, dass es im Wettkampf mit der Gesellschaft etwas wertvolles zu holen gibt. Jemand der sich aufgrund dieses falschen Versprechens Substanzen zuführt, wäre nach Schopenhauer zu bemitleiden, denn er oder sie selbst wäre bereits Opfer einer Lüge gewesen.
Das ist alles sehr unkonkret. Ich hoffe, dass ich dennoch ein wenig weiterhelfen konnte.
Liebe Grüße,
Denis
Hallo,
Ich habe aktuell leider nicht die Zeit auf Deine Frage einzugehen. Wenn Du nach Schopenhauer und Lüge im Internet suchst, wirst Du schnell fündig. Mich persönlich interessiert das Thema auch nicht. Ich könnte Dich ja jetzt auch alles Mögliche fragen. Müsstest Du das wahrheitsgemäß beantworten? Natürlich nicht. Du könntest sagen was geht dich das denn an. Doch das wäre unhöflich. Also sagst Du dann vielleicht was, was gelogen ist. Also, ohne Lüge wäre Leben gar nicht möglich. Das Gegenüber von Lüge ist auch nicht Wahrheit, sondern einfach Nicht-Lügen. Ob ich die Wahrheit sage, weiß ich oft gar nicht, denn zur Wahrheit gehört Wissen, das ich erst erwerben muss. Dass ich lüge, dies aber weiss ich gewiss.
Gruß!
Dieter
Hallo Min89,
ich bin zwar im eigentlichen Sinne kein Experte in Sachen Schopenhauer, sondern eher ein interessierter Laie, der allerdings der Meinung ist, daß man von Schopenhauer sehr viel lernen kann. Dies vorausgeschickt, versuche ich, Ihre Fragen zu beantworten.
Zunächst muß man sehen, daß Schopenhauer ethische Fragen wie die Lüge nicht soziologisch, sondern metaphysisch angeht. Unrechttun bedeutet nicht, gegen soziale Normen, gegen einen „Gesellschaftsvertrag“, zu verstoßen. Unrecht ergibt sich aus grundlegenden metaphysischen Zusammenhängen. Und die zentrale metaphysische Kategorie bei Schopenhauer ist der Wille. Der Wille bestimmt das Verhalten vom Unorganischen über die Pflanzen- und Tierwelt bis zum Menschen. Wille als Wille zum Leben bedeutet überall Selbstbejahung, potentiell auch zu Lasten Anderer. Beim Menschen wird dies durch Egoismus und gegebenenfalls durch Bosheit verstärkt, so daß die Selbstbejahung von A in diejenige von B einbrechen, das Verhalten von A dasjenige von B beeinträchtigen kann.
Hier gibt es drei Fälle, wobei empirisch vor allem Fall a) relevant ist:
a) A produziert bei B negative externe Effekte, ohne diese bei sich selbst zu internalisieren, d. h. A lädt dem B Folgen seines (des A) Handeln auf, die zu Beeinträchtigungen bei B führen. A verhält sich ungerecht.
b) A produziert entweder keine negativen externen Effekte oder er internalisiert solche bei sich selbst, d. h. A trägt alle Folgen seines Handelns selbst, ohne diese dem B aufzuladen. A verhält sich gerecht.
c) A internalisiert freiwillig die von B (und anderen Individuen) verursachten negativen externen Effekte bei sich selbst, d. h. A trägt nicht nur alle Folgen seines eigenen Handelns selbst, sondern auch diese von B (und anderer Individuen). A verhält sich als Heiliger. Dieser Grenzfall ist für Schopenhauer nur im Rahmen seiner Lehre von der Willensverneinung durch Askese bedeutsam.
Nun also zu Fall a) und der Lüge als möglicher Form von Unrecht. Selbstbejahung des Willens bedeutet, eigene Präferenzen, Ziele, Nutzenvorstellungen bei gegebener Informationsbasis zu verfolgen. Schopenhauer spricht von dem Handeln gemäß „Motiven“. Belügt A nun B, um seinen eigenen Willen ohne Rücksicht auf B durchzusetzen, so verfälscht A die entscheidungsrelevanten Informationen von B, so daß dieser andere Entscheidungen trifft als dies ohne die Lüge von A möglich gewesen wäre. A manipuliert hier in der Tat die Entscheidungsbasis von B aus seinem egoistischen Streben heraus. Er verhält sich gegenüber B ungerecht. Erst recht gilt dies, wenn durch die Lüge eine Vereinbarung gebrochen wird: „Aus dem Gesagten folgt, daß jede Lüge, eben wie jede Gewaltthätigkeit, als solche Unrecht ist; weil sie schon als solche zum Zweck hat, die Herrschaft meines Willens auf fremde Individuen auszudehnen, also meinen Willen durch Verneinung des ihrigen zu bejahen, so gut wie die Gewalt. – Die vollkommenste Lüge aber ist der gebrochene Vertrag …“ (W I, 399)
Aus dem Begriff des Unrechts wird nun derjenige des Rechts als Negation des Unrechts abgelei-tet. Wird also B durch das Verhalten des A manipuliert, so ist die Abwehr dieser Manipulation kein Unrecht, sondern Recht. Hier besteht dann auch ein Recht zur Lüge (W I, 401). Wir haben hier die auch von Ihnen angesprochen Fälle von Gegen- und Notwehr.
Während Schopenhauer die Lüge – abgesehen von dem eben angesprochenen Gegenwehrfall – als Unrecht bezeichnet, ist für ihn das „bloße Verweigern einer Wahrheit“ kein Unrecht: „Wer dem verirrten Wanderer den Weg zu zeigen sich weigert, thut ihm kein Unrecht; wohl aber der, der ihn auf den falschen hinweist.“ (W I, 398 f.) Dabei wäre aber sicherlich zu berücksichtigen, ob nicht auch durch Aussageverweigerung andere Individuen manipuliert werden können.
Man könnte nun versuchen, die von Ihnen angesprochene Dopingproblematik – gemeint ist wohl das Dopingproblem im Sport – vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Überlegungen zu diskutieren:
• Wenn man in einer sportlichen Wettkampfsituation die Einnahme verbotener Substanzen leugnet oder sich zu einer solchen Einnahme nicht äußert, wäre dies nach Schopenhauer wohl gleichermaßen Unrecht, hieße doch beides, eine explizite oder implizite Vereinbarung zu brechen und sich damit Vorteile zu Lasten anderer zu erschleichen.
• Was Sie mit „Doping aus eigenem Willen“ meinen, ist mir nicht ganz klar. Ich versuche einmal, ein mögliches Beispiel zu konstruieren: Nehmen wir an, ich will allein oder jeden-falls außerhalb einer Konkurrenzsituation eine besonders anspruchsvolle Berg- oder Radtour machen und nehme, um diese Tour besser durchhalten zu können, irgendwelche bei sportlichen Wettkämpfen verbotene Dopingmittel. Denken Sie an so etwas? Wahrscheinlich schädige ich in diesem Fall nur allein mich oder allenfalls auf sehr indirekte Weise Andere, etwa andere Mitglieder meiner Krankenkasse. Würde ich nun, nach der Einnahme von Dopingmitteln befragt, diese leugnen – tue ich dann Unrecht im Sinne Schopenhauers? Immerhin beabsichtige ich mit meiner Lüge ja nicht, „die Herrschaft meines Willens auf fremde Individuen auszudehnen“. Wie Schopenhauer diesen Fall sehen würde, weiß ich im Augenblick auch nicht.
Ich habe also versucht, einige Überlegungen zu den von Ihnen aufgeworfenen Fragen anzustellen. Und vielleicht habe ich Ihnen damit etwas weitergeholfen. Über eine Rückkopplung würde ich mich freuen.
Ihr
Schopifreund
(NB: Die angeführten Zitate beziehen sich auf die 7-bändige Schopenhauerausgabe von A. Hübscher, die in allen Universitätsbibliotheken vorhanden sein dürfte.)