Guten Tag.
Ich lerne gerade für meine Prüfung in Allgemeiner Pädagogik.
Das Thema ist die Geschichte der Schule.
Reine Neugier meinerseits: Und was passiert, wenn Du Kenntnisse von hier verwendest, die Deine Prüfer nicht haben?
Folgt dann ein ideologisches Kolloquium?
Da habe ich noch ein paar Fragen zur DDR.
Zunächst eine wichtige Vorbemerkung: Deine Fragen sind nicht unbedingt leicht zu beantworten, weil die Schule in der DDR verschiedene Phasen durchlief, wie ebenfalls das gesellschaftliche Leben in der DDR.
Dies ist vor allem in der heutigen Wahrnehmung der DDR meiner Meinung nach ein großes Problem, wo viele Leute Schiffbruch erleiden. Die DDR am Ende der 80er ist eine völlig andere DDR gewesen, als die, die ich in meiner Kindheit, Jugend und im frühen Berufsleben erlebte. Wenn Du halbwegs etwas vom Schulsystem der DDR verstehen willst, mußt Du immer dran denken, daß es d i e Feststellung nicht gibt. 1949-1989 floß viel Wasser die Elbe hinunter.
Ich brauche nur meine Schulzeit der Schulzeit meiner Kinder gegenüberzustellen; es war im wesentlichen die gleiche Einheitsschule, und im Prinzip herrschte von Jahrzehnt zu Jahrzehnt hohe Kontinuität. Trotzdem war es nicht nur subjektiv eine andere Welt.
- Es gab ja diesen polytechnischen Unterricht an der POS.
Ab welcher Klassenstufe war das denn und wie genau hat das
ausgesehen? Ich kann mir darunter relativ wenig vorstellen.
Der grundlegende Schultyp in der Einheitsschule hieß deshalb „polytechnische Oberschule“, weil polytechnischer Unterricht eine der Leitideen war. Polytechnik wurde seit 1959 von der 1.-12. Klasse gelehrt und umfaßte ein System mehrerer Fächer.
polytechnische Oberschule 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Werken x x x x x x
Nadelarbeit x x
TZ x x x x
UTP x x x x
erweiterte Oberschule 9 10 11 12
TZ x x
UTP x x x x
Abkürzungen: TZ „Technisches Zeichnen“, UTP „Unterrichtstag in der Produktion“
Nadelarbeit
Nadelarbeit war obligatorisch für alle, später wurde es fakultativ und größtenteils nur noch von Mädchen besucht.
Inhalte: Nähen, Stopfen, Kleidungsinstandhaltung, Nähwerkzeuge, Textilien, Stricken, Arbeitsschutz
Technisches Zeichnen
TZ wurde in der Schule unterrichtet.
Inhalte: Normschrift, Anreißkonstruktionen, gediegene Freihandskizze, Eintafelprojektion, Werkstücke in 2 Ansichten, Werkstücke in 3 Ansichten (Dreitafelbild), Grundriß, Aufriß, Kreuzriß, Methode E, Methode A, Kabinettperspektive (Axonometrie), Kavalierperspektive (Frontaldimetrie), Dimetrie, Isometrie, Zentralprojektion, Bemaßung, Toleranzen, Werkstücke im Schnitt, Werkstücke mit Gewinde und Rändel, Werkstücke in Explosivdarstellung, Zeichnen von Maschinenelementen, Bauzeichnungen, elektrotechnische Schaltbilder
Unterrichtstag in der Produktion
UTP wurde im Betrieb durchgeführt. Der Rhythmus war entweder 1x 4 Stunden in 1 Woche (= Standard-Schultag) oder 2x 4 Stunden aller 2 Wochen (= langer Schultag). UTP umfaßte einen theoretischen Teil und einen praktischen Teil. Wie das genau ablief, hing von der Gegend ab, in der man wohnte, d.h. von der Schule und von der Wirtschaftsstruktur vor Ort. Die Schulen wurden durch das Ministerium für Volksbildung in Kooperation mit der Staatlichen Plankommission und den Ministerien der Wirtschaftszweige in Stadtschulen und Landschulen eingeteilt. Die Lehrpläne wurden diesbezüglich differenziert.
Landschulen hatten einen anderen Unterrichtstag in der Produktion als Stadtschulen!
Schulen in industriellen Gebieten
Kl. Grundlehrgang Unterrichtstage
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7 Metallbearbeitung 33
8 Maschinenkunde I 20
Elektrotechnik 13
9 Landwirtschaftliche Produktion 33
10 Maschinenkunde II 30
Polytechnisches Praktikum 2 Wochen
Schulen in landwirtschaftlichen Gebieten
Kl. Grundlehrgang Unterrichtstage
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7 Pflanzliche Produktion I 18
Metallbearbeitung 15
8 Metallbearbeitung (Forts.) 11
Elektrotechnik 11
Tierische Produktion I 11
9 Pflanzliche Produktion II 17
Tierische Produktion II 17
10 Maschinenkunde 30
Polytechnisches Praktikum 2 Wochen
Ich z.B. besuchte eine Landschule, so daß ich in der Maschinen-Traktoren-Station, MTS, im polytechnischen Unterricht das Traktor- und Mähdrescherfahren lernte.
Dies wiederum brachte mir einen hübschen Nebenverdienst in der LPG ein, weil ich entweder als Erntehelfer die Ernte mit einfuhr und die Felder mitbestellte oder weil ich als Gehilfe mit den Mechanikern die Landmaschinen wartete, instandsetzte oder reparierte. Die Grundlagen hierfür hatten wir u.a. in UTP!
Wenn Du willst, kann ich Dir die Inhalte der Lehrgänge ausführlich hinschreiben.
Neben der fachtheoretischen Schulung, beinhaltete UTP den kleinen Baustein ESP, „Einführung in die sozialistische Produktion in Industrie und Landwirtschaft“.
Schulen in industriellen Gebieten
Kl. 7
Wir lernen die Produktion unseren sozialistischen Betriebes kennen ..... 9 Std.
Aus der Geschichte unseres sozialistischen Betriebes ................... 3
Kl. 8
Die sozialistische Einstellung zur Arbeit .............................. 6 Std.
Die Fortentwicklung der Technik in unserem Betriebe .................... 7
Die Planung unserer Produktion ......................................... 8
Die Organisation unserer Arbeit ........................................ 8
Zusamenfassende Wiederholung ........................................... 4
Kl. 9
Landwirtschaftliche Produktion ......................................... 22 Std.
Exkursionen ............................................................ 4
Die Hauptindustriezweige der Deutschen Demokratischen Republik:
Energieversorgung ...................................................... 7
Kl. 10
Forsetzung des Überblickes über die Hauptindustriezweige:
Metallurgische Industrie/ Hüttenwesen .................................. 5 Std.
Maschinenbauindustrie .................................................. 10
Chemische Industrie .................................................... 11
Regionaler Industriezweig .............................................. 7
Schulen in landwirtschaftlichen Gebieten
Kl. 7
Wir lernen die Produktion unseren sozialistischen
landwirtschaftlichen Betriebes kennen .................................. 6 Std.
Die Entwicklung der Landwirtschaft auf dem Dorfe
und das Bündnis der Arbeiter und Bauern ................................ 6
Kl. 8
Die sozialistische Einstellung zur Arbeit .............................. 6 Std.
So entwickeln wir die Produktion weiter ................................ 9
Die Planung unserer sozialistischen Zukunft
in der LPG und in unserem Dorfe ........................................ 9
Zusammenfassende Wiederholung .......................................... 4
Exkursionen ............................................................ 5
Kl. 9
Die Hauptindustriezweige der Deutschen Demokratischen Republik:
Metallurgische Industrie/ Hüttenwesen .................................. 5 Std.
Maschinenbauindustrie .................................................. 11
Energieversorgung ...................................................... 7
Regionaler Industriezweig .............................................. 6
Exkursionen ............................................................ 4
Kl. 10
Forsetzung des Überblickes über die Hauptindustriezweige:
Chemische Industrie .................................................... 10 Std.
Spezielle Probleme der landwirtschaftlichen Produktion ................. 23
ESP wurde fächerübergreifend im Zusammenspiel von Lehrer und Fachmann (Facharbeiter, Meister, Genossenschaftsbauer, Ingenieur, Betriebsfunktionär) im Betrieb abgehandelt. Im Grunde genommen war ESP ein umfassender Einblick in die Zusammenhänge der Gesellschaft und der Berufswelt.
Inhalte: elementare Wirtschaftspolitik, politisch-ökonomische Erdkunde, Arbeitsorganisation, Arbeitsschutz, Industriezweige und ihre Verflechtung, Technologie und technischer Fortschritt, marxistische Volkswirtschaftslehre.
UTP wurde Ende der 60er durch die Fächer ESP („Einführung in die sozialistische Produktion“) und PA („Produktive Arbeit“) abgelöst.
Schulgarten
Die meisten Schulen besaßen einen Schulgarten. Der Schulgarten wurde vielfältig genutzt, z.B. um im Freien zu unterrichten, für praktische Anwendungen in den naturwissenschaftlichen Fächern (vor allem Biologie), und für landwirtschaftlichen Produktion von Obst und Gemüse und dem Verkauf der Erzeugnisse.
Später wurde Schulgarten zum Schulfach in der Unterstufe.
Polytechnik auf der EOS
In den 60ern erfolgte in der 11. und 12. Klasse der erweiterten Oberschule eine Fortsetzung des UTP der polytechnischen Oberschule, jedoch mit erhöhten Anforderungen.
Ende der 60er wurde UTP abgeschafft und durch wpA, „wissenschaftlich-praktische Arbeit“, ersetzt. wpA stellte eine gehobene, wahlweise-obligatorische Form des UTP dar. Wahlweise-obligatorisch deshalb, weil es eine Reihe von Programmen gab, von denen sich der Schüler ein Programm aussuchen durfte. Im Rahmen des Programms wurde in Gestalt von relativ freier Projektarbeit in der Schule und im Betrieb eine komplexe Fragestellungen untersucht, mitunter auch mehrere.
Man könnte es in bezug auf die Universität von „kleiner Studienarbeit“ sprechen. Über die individuelle wpA mußte jeder Schüler eine Facharbeit anfertigen und verteidigen. Die Aufgabenstellung und die Benotung erschienen auf dem Reifezeugnis.
wpA wurde explizit zur Vorbereitung auf das Hochschulstudium und zur Vertiefung des selbständigen Arbeitens konzipiert.
Das Gegenstück zur wpA in der „Berufsausbildung mit Abitur“ war die wpT, die „wissenschaftlich-produktive Tätigkeit“.
Leider muß ich jetzt aufhören. Es kommt aber noch mehr.
reinerlein