Schule in der DDR

Hallo Reinerlein,

das ist mal wieder ein wunderbarer fundierter Beitrag von Dir. Eines nur: Du schreibst:

Russischschulen setzten ab Klasse 3 ein, so früh wie keine andere Spezialschule.

Ich bin mir aber vollkommen sicher (weil ich das über den Einschulungsjahrgang 1988 weiß), dass zumindest in der letzten Zeit mindestens die (musikbetonte!) Georg-Friedrich-Händel-Oberschule (nach der Wende ein Gymnasium) in Berlin-Friedrichshain ebenfalls in Klasse 3 einsetzte. Ob das auch für ältere Jahrgänge gilt, müsste ich meine Schwiegermama fragen, die auch auf dem „Händel“ war.

Liebe Grüße
Immo

Hi,

da streit ich mich nicht, das weißt du einfach besser :9

die Franzi

Nachtrag Schule + polytechnischer Unterricht
Hallöle.

Tut mir leid für den späten Kommentar, aber ich war leider eine Weile durch Krankheit außer Gefecht.

Auch wenn Deine Prüfung bestimmt schon vorbei ist, stehen 2 Fragen noch aus, die ich demnächst auch beantworten werde, doch erst einmal ein Nachtrag zu Deinem Kommentar.

Also was ich schon internalisiert habe, ist, dass 1946 eine
8jährige Einheitsschule gegründet wurde […]

Ich habe eine Reihe von Graphiken entworfen, die hoffentlich gut illustrieren, wie die Strukturen fluktuierten.

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Der Schulalltag in der Grundschule war in den 50ern geprägt von jährlichen Reformen; in der Oberschule herrschte Ruhe.

Hierzu ein zeitgenössisches Beispiel:

 POS EOS
 B-Zweig

Klasse 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
<small>54/55</small><small>61/62</small><small>62/63</small><small>65/66</small>

Deutsche Sprache 8 12 14 16 8 6 5 5 5 4 4 4

Mathematik 5 5 6 6 6 6 6 5 5 5 6 5
Physik 3 3 3 3 3 3 3
Astronomie 2\*
Chemie 2 3 2 3 3 3
Biologie 3 2 2 2 2 3 3 3
Erdkunde 2 2 2 2 2 2 1 1

Werken 1 1 1 2 2 2
Nadelarbeit 1 1 1
TZ 1 1 1 1
UTP 3 4 4 4 4 4

Russisch 5 5 4 3 3 3 3 2\*
Englisch 2 2\* 3 2\*

Geschichte 1 2 2 2 2 2 2 3
Staatsbürgerkunde 1 1 1 1

Kunst 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
Musik 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1

Sport 1 1 2 3 3 3 2 2 2 2 2 2


S Pflichtstunden 17 21 26 30 33 33 34 34 36 37 37 37

+ Englisch 4 4 

+ gesellsch.-
nützl. Tätigkeit 2 2


\* Englisch+Russisch: Verkürzung von 3 Std. -1 (Lehrermangel),
 Astronomie: 1 Std. +1 (Sondergenehmigung)

Dies ist die vollständige Stundentafel, die meinen Schulbesuch 1954-1966 bestimmte und die ich aus meinen alten Schülertagebüchern (Hausaufgabenheften) zusammengesetzt habe.

Bei genauem Hinsehen ist diese Stundentafel ein Flickwerk aus vielen verschiedenen Stundentafeln, denn ich wurde zum 1.9.1954 in die Grundschule eingeschult. In der 1. Klasse galten für uns noch die alten Lehrpläne von 1951/52, d.h. 40 Wochen Schule, von denen 40 Wochen vom Lehrplan vorgeschrieben wurden! Ab der 2. Klasse (1.9.1955) traten die Lehrpläne von 1954 in Kraft: Das Schuljahr wurde auf 38 Unterrichtswochen verkürzt, wovon nur noch 37 Wochen Lehrplanstoff beinhalteten. 1 Woche diente der Wiederholung und Vorbereitung auf die in den 50ern noch üblichen zentralen Versetzungsprüfungen - in unserem Falle für die I. Versetzungsprüfung, die Ende der 4. Klasse absolviert werden mußte.


Die I. Versetzungsprüfung umfaßte:

- die schriftlich-mündliche Prüfung in Deutsch in Form eines Diktates, 45 Minuten, ~300 Wörter
- die schriftliche Prüfung in Mathematik in Form von Rechenaufgaben, 45 Minuten, 7 bis 10 Aufgaben

1956 wurde unsere Grundschule zur Mittelschule. Wegen personeller und materieller Knappheiten konnte jedoch keine 9. Klasse eingerichtet werden. Die Schule übernahm daher die Rolle des Grundschulteils der Mittelschule. Schüler, die die Mittlere Reife erlangen wollten, mußten die 9. und 10. Klasse sowie schriftliche und mündliche Prüfungen im Nachbarort besuchen, wo eine teilausgebaute Oberschule Unterstützung für umliegende Grund- und Mittelschulen leistete.

Die Stundentafel für Grund- und Mittelschulen trat für uns ab der 3. Klasse in Kraft. Und 1957 dann die Stundentafel für Mittelschulen.

Die Frage der Polytechnisierung blieb aber weiterhin ungeklärt und die „zehnklassige allgemeinbildende Mittelschule“ wurde zum Kampfziel der politischen Führung. 1957 wurde die Auseinandersetzung um die künftige Richtung des DDR-Schulwesens durch die SED-Revanchismusdebatte gestoppt. Ab 1958 sollte kein Mittelschulwesen mehr sondern so schnell wie möglich ein vollkommen polytechnisiertes, mathematisch-naturwissenschaftliches Oberschulwesen errichtet werden.

1958 folgte die Stundetafel für die polytechnische Mittelschule mit den Fächern „Einführung in die soziaistische Produktion in Industrie und Landwirtschaft“ und „Unterrichtstag in der Produktion“. Des weiteren wurde die „gesellschaftlich-nützliche Tätigkeit“ etabliert, d.h. Arbeitseinsätze der Schüler wie z.B. große Altstoffsammlungen, Pflege der Grünanlagen der Schule oder des Dorfes, Tätigkeiten im Schulgarten, Hilfe bei Baumaßnahmen der Schule usw.

Es entfielen die Versetzungsprüfungen und die zentralen Kontrollarbeiten im Januar, so daß wir die ersten waren, die in der 4. Klasse keine Prüfung mehr bestehen mußte, um in die 5. Klasse versetzt zu werden.

Und 1959 schließlich wurde die zehnklassige allgemeinbildende polytechnische Oberschule geschaffen - stark vereinfacht gesprochen: Einheitsrealprogymnasium für alle Kinder. Das Schuljahr umfaßte 38 Wochen. Die Lehrpläne der POS, die erstmals geschlossen als Lehrplanwerk bezeichnet wurden, bildeten die Grundlage für 30 Wochen. Die restlichen Wochen standen dem Lehrer frei zur Verfügung, z.B. für Wiederholung, Festigung, Praktika in der Produktion oder für über den Lehrplan hinausgehenden Stoff. Auch ließen die Stoffpläne dem Lehrer größere Freiheiten. Zum Beispiel konnte der Deutschlehrer in bezug auf die Pflichtliteratur öfter aus verschiedenen Alternativen aussuchen. Es wurde nicht wie in den 50ern einfach ein bestimmtes Werk vorgeschrieben, sondern es wurden zwei oder drei, mitunter mehr, nebeneinandergestellt. Unter Margot Honecker verringerten sich diese Freiheiten übrigens wieder…

Meine Schule konnte 1960 ihre erste 9. Klasse und 1961 ihre erste 10. Klasse einrichten. Die jährlichen Reformen hörten auf und es gab bis in die 80er nur relativ geringe Korrekturen, vor allem traten kampagnenmäßig neue Lehrpläne in Kraft und ab den 70ern nahm der politisch-ideologische Druck deutlich zu. Der Strukturfindungsprozeß jedoch wurde mit der POS 1959 abgeschlossen.

Wie obige Stundentafel des weiteren zeigt, wechselte ich zur 9. Klasse auf die EOS in den B-Zweig, wodurch ich erneut mitten in den Reformstrudel geriet. :smile:
Eigentlich war diese Schule noch keine richtige EOS, sondern eher halbe-halbe aus alter Oberschule und neuer erweiterter Oberschule.
Auf Grund materieller und personeller Knappheiten gab es Verzögerungen im Umbau der alten Oberschule und es galt die Übergangsstundentafel der EOS, die eigentlich nur für das Schuljahr 1959/60 gedacht war. Die Sternchen in der Tabelle zeigen die Abweichungen von den amtlichen Vorschriften; Kürzungen um -1 Std. von 3 Stunden auf 2 Stunden wegen Lehrermangels in Englisch und Russisch und +1 Std. von 1 Stunde auf 2 Stunden in Astronomie durch Sondergenehmigung.

Der polytechnische Unterricht entsprach in der 9. und 10. Klasse dem der POS. In der 11. und 12. Klasse hingegen erfolgte die berufliche Grundbildung , das heißt, es wurden spezielle Inhalte aus der Berufsausbildung vermittelt, die auch den Lehrlingen in dieser Form beigebracht wurden.

Des weiteren boten verschiedene erweiterte Oberschulen die Möglichkeit, gleichzeitig zum Abitur eine Berufsausbildung zu absolvieren. Das Modell hieß Abitur mit Berufsausbildung (AmB), nicht zu verwechseln mit Berufsausbildung mit Abitur (BmA).

Ich z.B. lernte während der 9.-12. Klasse einen vollwertigen Beruf, wobei die Akzentuierung auf Schule und dem späteren Studium lag. Rechtlich galten wir als Schüler und hatten Schulferien. Diese wurden jedoch verkürzt; mindestens die Hälfte jeder schulfreien Phase mußte im Betrieb verbracht werden. So wurden aus 8 bzw. 9 Wochen Sommerferien höchstens 4 Wochen, aus 3 Wochen Winterferien wurde 1 Woche, aus 1 Woche Herbstferien wurde 1/2 Woche etc.

Die 4 Wochenstunden des Fachs UTP wurden in der 11. und 12. Klasse für berufstheoretischen und berufspraktischen Unterricht herangezogen.

Im Nachhinein hat sich dieses Modell nicht wie erhofft bewährt, es wurde 1967 wieder abgeschafft. Die Belastungen für die Schüler stellten den größten Gegenwind dar und die Bewerberzahlen für erweiterte Oberschulen, die ab der 9. Klasse eine Facharbeiterausbildung durchführten, brachen drastisch ein.

Zudem befürchtete die politische Führung, daß die Hochschulvorbereitung leiden könnte und die Marschroute „Der Standardweg zur Hochschule führt über die Berufsausbildung.“ volkswirtschaftlich nicht umzusetzen sei.

Der EOS erging es in den 60ern somit wie der Baisschule in den 50ern: Die richtige Struktur zu finden, gelang erst nach einer Weile durch viele verschiedene Reformen und Fehlversuche. Die EOS wurde Ende der 60er wieder klar zur hochschulvorbereitenden Institution und die Versuche der Professionalisierung mündeten in der wissenschaftlich-praktischen Arbeit (wpA).

Wie lief das denn?
Berufsausbildung und Abitur gleichzeitig zu machen? Ich weiß,
dass das dann ein Jahr länger gedauert hat, aber das muss doch
ziemlich stressig gewesen sein…

Das war ziemlich anstrengend, ja. Es wurden deswegen auch nur maximal 6% eines Abschlußjahrganges der POS zugelassen, nämlich die besten Schüler. Die Verschmelzung von Abitur und Berufausbildung glückte auch dauerhaft nur in den Grundberufen, das heißt in den qualitativ hochwertigen, fachtheoretisch anspruchsvollen Ausbildungsberufen der DDR, die eben diese besonders straffe Strukturierung aufwiesen.

Die BmA konnte lt. meinen Unterlagen 1984 in 86 Berufen begonnen werden, wovon 56 Grundberufe darstellten. Die restlichen Berufe wurden so ausgesucht, daß das Unternehmen Beruf+Abitur in den drei Jahren gelingen konnte.

Es entfielen in der BmA beruflicherseits alle Fächer des Ausbildungsplanes wie Mathematik usw., weil diese Fächer als Abiturlehrgang unterrichtet wurden. Und auch sonst nutzte man Synergien, um berufliche Inhalte auf ihre Essenz zusammenschrumpfen zu können, ohne daß der BmA jedoch Nachteile entstanden.

Stellt man die amtlichen Stundentafeln, die Lehrpläne und die Prüfungsanforderungen der normalen Berufsausbildung und der EOS denen der BmA gegenüber, zeigt sich:

  • der Abiturstoff war identisch
  • die berufliche Grundlagenbildung war nahezu identisch; der berufstheoretische Anteil vollständig, der berufspraktische Anteil nahezu
  • die berufliche Spezialbildung war ebenfalls nahezu identisch, nur daß auf bestimmte Details verzichet wurde, z.B. das Kennenlernen des künftigen Arbeitsplatzes

In der BmA galten die Schulferien nicht, denn rechtlich war man kein Schüler sondern Lehrling. Folglich verfügte man über 24 Tage Urlaub im Jahr; wenn keine Schule war, wurde im Betrieb gewerkelt. Auf diese Weise hatten die Lehrlinge in der BmA nach 3 Jahren auch soviele praktische Ausbildungstage wie die Lehrlinge in der normalen Berufsausbildung nach 2 Jahren.

Der Sonnabend war im Gegensatz zur EOS frei. Stoffkürzungen suchte man jedoch vergebens, mitunter mußte in der BmA sogar mehr Stoff bewältigt werden, z.B. berufsrelevante Sachverhalte, die in der EOS nicht gelehrt wurden, so daß mehr Eigenstudium und selbstgesteuertes Lernen gezeigt werden mußte, um die Anforderungen bewältigen zu können.

Die wissenschaftlich-produktive Tätigkeit (wpT), die in den 80ern in den einheitlichen Rahmenplan eingeführt wurde, stellte außerdem sicher, daß die BmA tatsächlich eine gute Studienvorbereitung garantierte, und daß die Probleme der 60er Jahre nicht mehr auftreten konnten, als die Absolventen der BmA nicht ausgedehnt und einheitlich genug auf das Hochschulstudium vorbereitet wurden.

Die Plätze für eine BmA waren bestimmten Betrieben und somit Betriebsberufsschulen zugeteilt, so daß normalweise quer durch die Deutsche Demokratische Republik gefahren werden mußte und vor Ort eine Unterbringung in einem Wohnheim oder Internat erfolgte.

80% der Absolventen der BmA studierten ingenieurwissenschaftliche Fächer oder wurden Lehrer; reichlich 25% der Studienanfänger kamen von der BmA.

reinerlein


P.S.

Ein Wort noch zum Fach „Einführung in die sozialistische Produktion in Industrie und Landwirtschaft“: Als ich in die Schule ging, hatte ESP einen relativ unpolitisch-pragmatischen Charakter. Ich lernte z.B. noch „Braunkohle ist ein schlechter Energieträger“, den die DDR in Ermangelung anderer Rohstoffe so effizient gewinne muß wie möglich, um solange Energie bereitzustellen, ehe neue Technologien fossile Energieträger überflüssig werden lassen. Es hieß, Braunkohle ist dreckig, der Heizwert ist gering und der Abbau wird nur billig, wenn er hochtechnisiert und im großen Stil abläuft.
Später hingegen lautete die offizielle Meinung der politischen Führung anders, daß nämlich an unserer guten Braunkohle nichts auszusetzen sei.


Solche Dinge meinte ich, als ich sagte, daß die DDR kein unbeweglicher Klotz war, der immer nur in der Honecker-Form der 80er Jahre existierte.





Politische Beeinflussung wurde nur spürbar, wenn es um die roten Schlußfolgerungen aus dem Lauf der Geschichte ging. Es war eben immer: „Die Westdeutschen machen weiter wie bisher, Reichtumstreben, monokapitalistisch, faschistisch, ohne Konsequenzen aus Hitlerdeutschland zu ziehen. Und wir machen es erstmals auf deutschem Boden anders und deswegen ist unsere Sicht der Dinge richtig und überlegen.“.

Der Rest war eher angewandter Marxismus im besten Sinne. Sozusagen die positiven Aspekte des Wortes Ideologie, was ja gerne unter den Tisch gekehrt wird. Denn in Ideologie steckt auch Idee und Ideal drin, und die Werte, die der polytechnische Unterricht versuchte mitzugeben, fehlen der heutigen Jugend hinten und vorne. Das geht schon mit der Wertschätzung von Volkseigentum und Eigentum anderer Leute los…

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