H wie Hola.
Unser Sohn (12 Jahre alt) kam, entgegen der Empfehlung der
Grundschule, aufs Gynmasium. Hintergrund unserer damaligen
Entscheidung war das allseits bescheinigte Potential
Als glühender Verfechter der Einheitsschule wie immer von mir die Kritik:
Warum habt ihr nicht gefragt, was euer Kind gerne gewollt hätte?
Warum habt ihr euch nicht selber überlegt, inwieweit der Zuspruch
zum Gymnasium vernünftig oder realistisch ist?
Es ist allseits bekannt, daß in den Grundschulen heute einiges
im Argen liegt, bspw. eine üppige Unterforderung, fehlende
ernsthafte Benotung der Kinder et cetera.
Heute (6. Klasse) stehen die Noten nach wie vor schlecht und
der erste blaue Brief weist auf die Versetzungsgefährdung hin.
Was eindeutig zeigt, daß sich die Grundschullehrer fundamental
geirrt haben. Wer leicht lernt, hat niemals Probleme mit
den Leistungen oder gar mit der Versetzung.
(Unter den Bedingungen: anständige Erziehung + geistige Gesundheit)
Ich vermute eher, wegen des mäßigen Niveaus der Grundschule wurde
hier das Leistungsvermögen und auch der Leistungswille falsch
eingeschätzt. Die nicht unbedingt aussagekräftigen Zensuren der
Grundschulen bekräftigen das, denn trotz Empfehlung fürs Gymnasium
zeigt euer Kind ja nichts, was dem angemessen ist.
Die Klassenlehrerin bescheinigt ihm nach wie vor
entsprechendes Potential, sagt aber auch, dass er noch zu
kindlich sei, um das selbstständige Arbeiten eines
Gymnasiasten zu verstehen und umzusetzen.
Das beißt sich.
Ein Kind, was potentiell etwas kann, zeigt das auch, und sei es nur sporadisch.
Der Hinweis auf die fehlende geistige Reife ist ein Alarmsignal
erster Güte für EUCH, daß er niemals frühzeitig auf das
Gymnasium hätte gehen dürfen.
Es ist mit Abstand das peinlichste überhaupt, das Kind vom Gymnasium
wieder herunternehmen zu müssen. Ich weiß wovon ich rede.
1993, als hier in den Neuen Ländern formal die Einheitsschule der DDR
zerschlagen war, herrschte unter den Eltern wegen der „neuen Sitten“
große Verwirrung.
Obgleich ich mit Abstand der Leistungsstärkste der Klasse war,
ging ich auf die Realschule.
Dabei überließ meine Mutter mir die Entscheidung.
Warum tat sie das? Ihre Argumentation war logisch wie auch einfach:
*Ich* mußte doch in die Schule gehen, nicht meine Mutter, d.h.
ich mußte auch wissen, was ich zumindest grob wollte.
Meine Unterstufenlehrerin legte mir dann im Einzelgespräch dar,
wie sich wohl das gegliederte Schulsystem in Sachsen ausprägen wird.
Wichtigster Punkt damals: Auch nach der 10. Klasse stand der Weg
ans Gymnasium offen.
Damit war die Sache für mich eindeutig:
Ich konnte nicht verlieren, sondern nur gewinnen, indem ich mir das
Gymnasium - was zu der Zeit ja noch eine Einrichtung ohne Praxiserfahrung war - verkneife.
Anders gesagt, man hält sich alle Optionen offen, statt die
gymnasiale Laufbahn mit Zwang und ungewissem Ausgang schon mit
der 4. Klasse zu zementieren.
Wer weiß denn, ob ein Kind überhaupt später auf das Gymnasium möchte?
Bis 16 ändert sich doch die halbe Welt - niemand kann wissen,
was für Lebenspläne, was für Sichtweisen, was für Interessen,
was für Neigungen usw. die eigenen Kinder ausprägen.
Meine Überlegung damals mit 10 Jahren war also: Meine Chancen
verschlechtern sich nicht, also lasse ich mir selber Zeit und
schaue mit 16 Jahren, was ich dann möchte.
Die Vorteile einer guten Realschule - 1. die „polytechnische“ Bildung,
2. die im Ggs. zum gymnasialen Niveauruck gleichmäßig steigende
Anforderungskurve u.v.m. - wurden mir erst mit der Zeit bewußt.
(Daß die Entscheidung pro Realschule deutlich die bessere war,
kam in der vollen Tragweite sogar erst nach dem Abitur zum Vorschein.)
Und als ich eben auf der Realschule war, kamen einige meiner
ehemaligen Klassenkameraden (!) vom Gym zurück (und auch andere).
Für die war es schwer!
Neu in der Klasse - und dann das Stigma „hat es auf dem Gymnasium
nicht gepackt“ auf der Stirn. Den unvermeidlichen Spott dafür
inbegriffen.
Da das damals noch andere Zeiten waren, war auch der vielbeschworene
Wissensunterschied defacto nicht vorhanden. Es konnte also von keinem
meiner ehemaligen Freunde in punkto Lernrhythmus profitiert werden.
Besonders schwerwiegend war das Defizit im Profilunterricht.
Technik wird am Gymnasium nicht angeboten, weshalb die Wechsler nicht
nur ein Jahr verloren hatten, sie kamen ja nicht in die gleiche Klassenstufe wie am Gymnasium, sondern sie mußten auch noch den vergleichsweise anspruchsvollen Stoff des Profilfaches nachholen.
(In dem Falle volle zwei Schuljahre Technik ohne Erbarmen.)
Denen ist der Hintern ordentlich auf Grundeis gegangen, weil sich
manche vermutlich einbildeten, daß die Realschule zum Selbstläufer würde.
Auch die Prüfung nach der 10. Klasse verschärfte die Situation.
Am Gymnasium war das Abitur immer noch weit weg. Doch in der
9. Klasse Realschule tickte die Uhr. Vier schriftliche Prüfungen
plus zwei oder mehr mündliche Prüfungen. Stoff: gesamte Mittelstufe,
also 5. bis 10. Klasse.
Was ich damit sagen möchte - wenn ihr euer Kind auf die Realschule
schicken wollt, tut es jetzt, ohne zu zögern.
Denn ab Klasse 7 beginnt der Profilunterricht an den Realschulen.
Allerdings würde ich das nachholen, was ihr schon vor zwei Jahren versäumt habt: Fragt erstmal euer Kind. Begeht nicht den gleichen
Fehler noch einmal, wieder irgendwas „per elterlichem Dekret“
festzulegen.
Macht euerm Sohn klar, daß er sich auf den Hosenboden setzen muß.
Macht ihm klar, was für BildungsCHANCEN noch auf ihn warten, daß
er immer noch ein vollwertiges Abitur erhalten kann, oder vielleicht
gibt es bei euch ja Einrichtungen wie das Berufliche Gymnasium.
(In Bayern heißt das FOS13 und ist dort gerade in der Stabilisierung.)
Macht ihm klar, daß der Wechsel auf die Realschule Entfaltungsfreiheit
bedeutet, und sich Alternativen zum Tunnelblick auf die Hochschulreife
ergeben können.
Macht ihm ebenso klar, was mit einem Verbleib auf dem Gymnasium
verbunden ist (ordentlich reinknien).
Besprecht die sich auftuenden Wege mit ihm und konsultiert ihn
wenigstens beim Entscheidungsprozeß.
*Er* muß doch die Schule meistern, nicht ihr. Das bedeutet aber auch,
daß er nicht das meistern muß, was ihr vielleicht gerne hättet.
(Das Gymnasium ist ja in Deutschland traditionell mit Status behaftet,
mit Oberschichtattitüde und dem sozialen Aufstieg bzw. der sozialen
Abschottung nach unten.)
Grüße