Korrektur an einer Beauvoir-These
Hi Notensafe,
prima Artikel von dir. Gegen Beauvoirs Thesen lässt sich nicht viel sagen, aber in einem nicht unwesentlichen Punkt scheint sie daneben zu liegen. In „Das andere Geschlecht“ (La deuxième Sexe) behauptet sie in einem Abschnitt über Frühgeschichte:
Die Frau…
… mochte Erde, Mutter, Göttin sein, doch war sie dem Manne nicht gleichgestellt, ihre Macht bekundete sie nur jenseits des menschlichen Bezirks; sie stand also außerhalb. Die Gesellschaft ist immer eine männliche Gesellschaft gewesen; die politische Macht hat immer in den Händen der Männer gelegen.
Das ist nicht nur vereinfachend, sondern vermutlich auch falsch. Aktuell lässt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen, dass „die Gesellschaft“ nicht immer männlich dominiert war, sondern bis zum Neolithikum eine prinzipiell egalitäre war. Bis zum Neolithikum gab es - dem archäologischen Befund gemäß - keine männlichen Gottheiten, dafür aber eine weitverbreitete Verehrung von Muttergottheiten, denn bis zum Neolithikum war Vaterschaft unbekannt, die Fruchtbarkeit der Frau wurde auf die Wirkung einer göttlichen Ur-Mutter zurückgeführt. Die Einführung der Viehzucht führte zur Entdeckung der männlichen Teilhabe an der Fruchtbarkeit (ähnlich, wie man nur männliche Tiere gejagt hatte, wurden zunächst nur männliche Tiere geopfert bzw. verspeist, was zur Nachwuchslosigkeit der Herden führte - da ging den Männern ein Licht auf - das ist jedenfalls die entsprechende Hypothese). Auffällig ist auch, dass erst nach Einführung der Viehzucht der Phallus ein sakrales Symbol wurde (Funde aus dem 6. Jt. vuZ.), also Jahrzehntausende (!), nachdem man begonnen hatte, weibliche Merkmale kultisch darzustellen. Sakralität war in jenen und auch noch späteren Zeiten ganz wesentlich an Fruchtbarkeit geknüpft, also konnte „der Mann“ erst nach Entdeckung seiner Fruchtbarkeit 1) die Ebene des Sakralen betreten (als Stiergott usw.) und 2) mit diesem Backing seine soziale Stellung auf Kosten der Frau ausbauen (Einführung der Ehe als Mittel der Kontrolle über die Frau, männliches Königtum usw.).
Es ist unmöglich, dass „der Mann“ vor seiner Sakralisierung politische Dominanz ausgeübt hat, denn Herrschaft hatte im Alten Orient in historisch fassbarer Zeit immer die Legitimation durch Götter zur Bedingung, was wiederum ein Wissen um männliche Fruchtbarkeit voraussetzt, da ohne dieses, wie gesagt, der Mann kein sakrales Potential hatte, somit kein männlicher Gott denkbar war, der zur Legitimation eines männlichen Königs geeignet wäre. Dazu kommt, dass die frühen Könige gleichzeitig Priester waren (ob als Priesterkönig oder Königpriester, ist umstritten), was sakrale Kompetenz einschließt. Man kann daraus auf die prähistorischen Zeiten rückschließen und behaupten, dass die frühneolithischen und die paläolithischen Männer mangels Sakralität keine Dominanz ausüben konnten.
Man kann also davon ausgehen, dass die Dominanz weiblicher Gottheiten in der Frühgeschichte einherging mit einer egalitären Stellung der Frau in der Gesellschaft. Die Matriarchatsthese (Dominanz der Frauen) hat zwar ausgedient, die Egalitätsthese aber nicht, denn es spricht nichts gegen sie bzw. nichts für eine prähistorische Dominanz der Männer.
Ich zitiere, um meine Behauptungen über die Dominanz weiblicher Gottheiten, zu stützen, nachfolgend aus einigen Texten, darunter Steinkeller und Selz, zwei der bedeutendsten Mesopotamien-Experten der Welt.
Piotr Steinkeller (Assyriologe an der Harvard-Uni) zur Rolle der Göttin in der sumerischen Vor- und Frühgeschichte (aus On Rulers, Priests and the Sacred Marriage: Tracing the Evolution of Early Sumerian Kingship, 1999, zit. n.
[http://enenuru.net/pdfs/McGrath_ArchaicPantheon(Unde](http://enenuru.net/pdfs/McGrath_ArchaicPantheon(Unde)…
It appears quite certain that the earliest pantheon was dominated by female deities (…) In the course of time, the importance of male deities increased, though never superseding that of goddesses.
Über die prähistorische Muttergöttin äußern sich Espak und Selz so:
Peeter Espak (Doktor, Uni Tartu/Estland) in
http://dspace.utlib.ee/dspace/bitstream/handle/10062…
_The spread of the mother-goddess figure in almost all the early civilisations known to us might of course draw to the conclusion that the original divine figure in Eridu temple must have also been imagined female in gender. (Ancient Near Eastern Gods…, S. 13 Anm. 25)
The possibility of female dominance in early and more archaic stages of religion is certainly imaginable. It is possible to assume that also the divine power in Eridu must have been female in gender, and by later developments caused by the growth of male dominance in general, the original female deity was replaced by a male one. (ebd., S. 13)_
Gebhard J. Selz (Professor Uni Wien) in
http://academia.edu/2489201/Der_Vordere_Orient_im_4…
_Während es sich hier nicht um ein dauerhaft besiedeltes Zentrum (= Göbekli Tepe, Anm. Chan) handelt, finden wir im etwa 2.000 Jahre jüngeren Catal Höyük einen festen Siedlungsplatz .mit zentralen, vornehmlich einer „Muttergottheit“ geweihten KuItanlagen (Der Vordere Orient im 4. und 3. Jahrtausend v. Chr., S. 3)
Die Bedeutung der städtischen Kultur für das Weltbild darf den Blick nicht darauf verstellen, dass etwa die frühgeschichtliche Bedeutung aller Arten von „Fruchtbarkeitskulten“, die man zu Recht mit der allüberall bezeugten Verehrung von Muttergottheiten verbunden hat, in der mesopotamischen Weltanschauung auch für die nächsten Jahrtausende zentral blieb. (ebd., S. 6)_
Chan