Ich habe Euch eine Geschichte einkopiert, zu der ich auf der Suche nach Interpretationsansaetzen bin. Bei meiner Abiturpruefung wurde sie mir vorgelegt und ich versagte recht klaeglich. Dann habe ich sie 20 Jahre vergessen und nun wiedergefunden. Ich finde sie sehr anruehrend, aber es faellt mir schwer, sie zu deuten.
Es wuerde mich sehr freuen, wenn Ihr mir Eure spontanen Eindruecke erzaehlen koenntet. Oder vielleicht mir Seiten nennen koennt, wo ich an naehere Informationen komme.
Danke schoen im voraus!
viele Gruesse,
Karin
Christa Reinig: Skorpion
Er war sanftmuetig und freundlich. Seine Augen standen dicht beieinander. Das bedeutete Hinterlist. Seine Brauen stiessen ueber der Nase zusammen. Das bedeutete Jaehzorn. Seine Nase war lang und spitz. Das bedeutete unstillbare Neugier. Seine Ohrlaeppchen waren angewachsen. Das bedeutete Hang zum Verbrechertum. Warum gehst du nicht unter die Leute? fragte man ihn. Er besah sich im Spiegel und bemerkte einen grausamen Zug um seinen Mund. Ich bin kein guter Mensch, sagte er. Er verbohrte sich in seine Buecher. Als er sie alle ausgelesen hatte, musste er unter die Leute, sich ein neues Buch kaufen gehen. Hoffentlich gibt es kein Unheil, dachte er und ging unter die Leute. Eine Frau sprach ihn an und bat ihn, ihr einen Geldschein zu wechseln. Da sie sehr kurzsichtig war, musste sie mehrmals hin- und zurücktauschen. Der Skorpion dachte an seine Augen, die dicht beieinanderstanden und verzichtete darauf, sein Geld hinterlistig zu verdoppeln. In der Strassenbahn trat ihm ein Fremder auf die Fuesse und beschimpfte ihn in einer fremden Sprache. Der Skorpion dachte an seine zusammengewachsenen Augenbrauen und liess das Geschimpfe, das er ja nicht verstand, als Bitte um Entschuldigung gelten. Er stieg aus, und vor ihm lag eine Brieftasche auf der Strasse. Der Skorpion dachte an seine Nase und bueckte sich nicht und drehte sich auch nicht um. In der Buchhandlung fand er ein Buch, das haette er gern gehabt. Aber es war zu teuer. Es haette gut in seine Manteltasche gepasst. Der Skorpion dachte an seine Ohrlaeppchen und stellte das Buch ins Regal zurueck. Er nahm ein anderes. Als er es bezahlen wollte, klagte ein Buecherfreund: Das ist das Buch, das ich seit Jahren suche. Jetzt kauft’s mir ein anderer weg. Der Skorpion dachte an den grausamen Zug um seinen Mund und sagte: Nehmen Sie das Buch. Ich trete zurueck. Der Buecherfreund weinte fast. Er presste das Buch mit beiden Haenden an sein Herz und ging davon. Das war ein guter Kunde, sagte der Buchhaendler, aber fuer Sie ist auch noch was da. Er zog aus dem Regal das Buch, das der Skorpion so gern gehabt haette. Der Skorpion winkte ab: Das kann ich mir nicht leisten. - Doch, Sie koennen, sagte der Buchhaendler, eine Liebe ist der anderen wert. Machen Sie den Preis. Der Skorpion weinte fast. Er presste das Buch mit beiden Haenden fest an sein Herz, und, da er nichts mehr frei hatte, reichte er dem Buchhaendler zum Abschied seinen Stachel. Der Buchhaendler drueckte den Stachel und fiel tot um.