Sozialdarwinismus

Hallo!

Ein Freund von mir betont immer wieder, dass er es bedauere, dass es keinen Sozialdarwinismus (mehr) gäbe.

Was genau kann man sich denn darunter eigentlich vorstellen?
(Was er sich darunter vorstellt werde ich ihn nächstes Mal fragen).

Und welche Argumente sprechen dagegen?

Mir fällt es manchmal schwer, mit ihm darüber zu diskutieren (vor allem, weil er als Arzt ja eigentlich gerade dafür sorgt, dass die Schwachen überleben statt auszusterben, wenn man das mal so grob ausdrücken will).

Er ist jedenfalls davon überzeugt, dass er da in der Ordnung ganz oben stünde, wobei mich dann wiederum wundert, dass er sich hat sterilisieren lassen - müsste so jemand nicht dafür sorgen, dass er sich reichlich fortpflanzt?

Ich hätte gern ein paar Argumentationshilfen, und natürlich gern mehr Fakten.

Danke und Gruß
sagt
Noi

Der Darwinismus oder die Evolutionstheorie ist eine deskriptive Theorie wie alle wissenschaftlichen Theorien, will sagen: Er wertet nicht.

Ganzanders der Sozialdarwinismus: Der will die Prinzipien der Evolutionstheorie auf das Zusammenleben der Menschen übertragen. Dabei macht er aber ein paar Fehler: Beispielsweise den, vom Überleben des Stärksten zu sprechen. Das hat darwin nie getan, sondern er hat gesprochen vom „survival of the fittest“, wobei „the fittest“ von „to fit“ = passen, anpassen kommt und meint, dass der überlebe, der sich seiner Umwelt am besten angepasst hat.
Sodann kommt der Sozialdarwinismus nicht ohne Wertung aus: Er muss bestimmen, welches Eigenschaften wertvoll und welche weniger wertvoll sind. Und dementsprechend muss er die weniger wertvollen Eigenschaften zurückdrängen, ausmerzen, herauszüchten.
Das beeutet: Sozialdarwinismus ist immer eine Ideologie von oben nach unten, wird immer von den angeblich Starken, Guten, Überlebensfähigen propagiert und geht immer zu Lasten der anderen, die unten sind.
Im Grunde also nichts als biologisch getarnter Zynismus und blanke Menschenverachtung.

Hallo!

Ergänzend dazu:

Der (biologische) Darwinismus stellt fest, dass manche Individuen bessere Fortpflanzungs- und Überlebenschancen als andere haben und sich daher ihre Gene über lange sich praktisch von selbst durchsetzen werden. Es handelt sich um eine logische Konsequenz.

Der Sozialdarwinismus weist jedoch bestimmten Individuen ein Recht oder eine Pflicht auf, sich über die anderen zu stellen und diese zu verdrängen. Das ist praktisch das Gegenteil von dem, was Darwin gesagt hat. Hätten die Sozialdarwinisten ihn richtig verstanden, würden sie sagen: „Wir müssen gegen die Juden, Neger, Behinderten, Schwulen … überhaupt nichts unternehmen, denn es werden sich ohnehin auf lange Sicht unsere edleren Gene durchsetzen.“ (Das wäre kaum weniger chauvinistisch, aber es wäre wenigstens darwinistisch).

Michael

3 Like

Und ich halte es auch für einen Irrglauben, der Mensch könne Naturgesetze aushebeln oder sogar umformen. Die Meinung, es sei nicht natürlich, wenn z.B. eine Gesellschaft die Schwachen unterstützt, begründet sich auf der Vorstellung der Mensch stünde über der Natur. Der Mensch, auch mit seiner ganzen Technik und allem „Künstlichen“, ist genauso Teil der Natur und unterliegt ihren Gesetzen wie alles Andere auch.
Der Sozialdarwinismus ist wie bereits gesagt eine Vorstellung die von Menschen mit bestimmen Ansichten geschaffen wurde und hat nichts mit der natürlichen Auslese zu tun.
In vielen „Naturvölkern“, die heute noch so leben wie vor tausenden Jahren, überlässt man Kranke, Schwache und Behinderte, die nicht für sich selbst sorgen können, ihrem Schicksal. Diese Menschen kennen Begriffe wie Auslese, Darwinismus oder Sozialdarwinismus nicht. Sie können es sich einfach nicht leisten den Schwachen zu helfen, weil ihr eigenes Überleben schon einen Großteil ihrer Energie kostet.
Deutschland z.B. kann es sich leisten die Pflege von Schwerbehinderten durch die Gesellschaft zu finanzieren. Das wird nicht nur getan weil man es sich leisten kann, sondern aus Gründen des Mitgefühls, der Solidarität, der Menschlichkeit…

1 Like

Ansatz hinfällig
Der Sozialdarwinismus macht meinem Verständnis nach Aussagen darüber, dass sich irgendwelche Menschen gegenüber irgendwelchen anderen Menschen durchsetzen (müssen). Ich finde, dass jeder Mensch das Recht auf Leben hat und dass die Diskussion des Sozialdarwinismus’ deswegen hinfällig ist.

Gruß
Paul

Sehe ich auch so. Wenn jemand bedauert, dass es keinen Sozialdarwinismus mehr gibt, dann weiss er entweder nicht was Sozialdarwinismus ist, oder er gehört tatsächlich zu denen, die der Meinung sind, man müsse „unwertes Leben“ in die Gaskammer stecken.

1 Like

Legitimation
Hallo Noi,

wenn es eine Konstante in der menschlischen Geschichte gibt, so ist es die Ungleichheit. In manchen Urwaldvölker mögen die Unterschiede gering sein, bei den großen Kulturvölkern waren und sind auch die Unterschiede groß.

Wenn nun die Menschen die Frage stellten, warum einige in großem Wohlstand lebten, während gleichzeitig einige hundert Meter entfernt im Hunger und Elend verreckten, so fielen die Erklärungen im Laufe der Zeit unterschiedlich war.

Früher lautete es, die Götter wollen es so oder es ist Schicksal.

Mit dem Aufkommen des Protestantismus und dem Humanismus änderte sich das Bild des Menschen. Danach hieß es, dass die Menschen wegen ihrer Faulheit und Unmoral arm blieben.

Mit dem Darwinismus begannen einige Leute die Kriterien der Selektion auf die menschliche Gesellschaft zu projizieren. Nun waren die Menschen arm, krank und in Elend, weil ihre genetischen Anlagen minderwertig waren.

Diese Haltung ist heutzutage nicht mehr in Mode. In der heutigen Gesellschaft gilt die Freiheit des Einzelnen für viele Menschen als das höchste Gut. Platt gesagt gilt, dass jeder seines Glückes Schmied ist. Wer also arm und in elend lebt ist selber dran schuld, weil er zu bequem und und zu feige ist, Chancen zu nutzen.
Wenn diese Haltung mit Argumenten und Gefühlen untermauert wird, wird diese Haltung zur Ideologie, wie man sie bei den FDP-Liberalen oder den US-Republikanern findet.

Was haben alle diese Haltungen über die Zeit gemeinsam?
Sie legitimieren die Ungleichheit und sie geben den Gewinnern das gute Gefühl aufgrund der eigenen Überlegenheit an der eigenen Position zu sein. Ein schlechtes Gewissen oder Mitleid werden mit diesen Haltungen überflüssig.

Wie es Ideologien nun mal so an sich haben, beruhen sie auf Glauben und Gefühlen. Argumente dienen eher zur Bekräftgung.

Das wäre also der Ansatz für ein Gespräch.
Wie sähe eine Welt mit Sozialdarwinismus aus?
Wie würde er sich darin fühlen?
Warum?

Gruß
Carlos

Hey Carlos,

Danke für die Horizonterweiterung, die du mir mit deinem Beitrag geschenkt hast.

1 Like

Die (übrigens reichlich überhebliche) Ansicht Deines „Freundes“ beruht auf zwei Denkfehlern :
zum einen zählt er wohl nicht unbedingt zu den „fittest“, denn wenn dem so wäre, so wäre er auch heutigentags in einer gesellschaftlich überlegenen Position (auch heutigentags existiert der sogenannte „Sozialdarwinismus“, wenn auch ein wenig eingeschränkt, trotz des modernen Sozialstaates, wie ein kritischer Blick auf unsere Gesellschaft, bzw. die gesamte Welt bestätigt), also etwa Großkapitalist, Staatschef, Pop- oder Filmstar, etc. und nicht ein „unbedeutendes, kleines Doktorlein“…
zum zweiten wäre bei ungebremstem „Sozialdarwinismus“ über kurz oder lang alles unter seiner „selbstangemaßten Entwicklungsstufe“ mehr oder weniger ausgerottet/versklavt, sodaß sich der „soziale Wettbewerb“ für ihn weitaus schwieriger gestalten würde, bzw. auch er selbst irgendwann zu den „Unterlegenen“ zählen würde (und damit ausstirbt)…
Abgesehen davon bedeutet „survival of the fittest“ nicht, daß die „Stärksten, Besten oder Tüchtigsten“ sich durchsetzen, sondern die „Angepaßtesten“ und, gerade in gesellschaftlicher Hinsicht, „Mittelmäßigsten“ (was er wohl nicht so gerne hören wird, attestiert er sich doch mit seinen Aussagen genau jene Mittelmäßigkeit, von der sich abzuheben vermutlich der Zweck der Äußerung seiner Ansichten ist.)

liebe Grüße
nicolai

Hallo

Danke für die Horizonterweiterung, die du mir mit deinem
Beitrag geschenkt hast.

Zunächst ein mal freue mich über jede Resonanz und ganz besonders über positive.
Ich habe noch weiterhin darüber nachgedacht und mir ist klar geworden, dass mein Beitrag, bestehend aus wenigen Zeilen platt und undifferenziert bleiben muss.
Wie sahen im Laufe der Zeit die Unterprviligierten ihr Los?
Welche Rolle spielen Religion und Wissenschaft? (z.B. Christentum und das
Welche Rolle spielen die Öffentlichkeit und die Medien.

Über dieses Thema lassen sich Bücher schreiben, was auch schon gemacht wurde´, z.B. „Das Kapital“.

Gruß
Carlos

Danke!
Ihr Lieben!

Danke für eure tollen Beiträge. Ihr habt mir das Ganze nochmal sehr schön aufgeschlüsselt, ein paar sehr gute Argumente verschafft - und meinen komischen Freund sehr treffend charakterisiert.

herzliche Grüße

Noi