Soziales Kapital

Hallo,

betreffs Bourdieus Habitustheorie taucht immer wieder das Schema auf, in dem kulturelle und ökonomisches Kapital als X- und Y-Achse dargestellt werden und die Gesellschaft wird in Clustern darin dargestellt.

Wo bleibt in diesem Schema das soziale Kapital? Welche Milieus verfügen über besonders viel, welche über wenig Kapital? Oder gibt es zusätzlich zu den beiden Dimensionen in jeder Ausprägung nochmal die Variante viel/wenig soziales Kapital, das dann die entsprechenden Ressourcen des jeweiligen Milieus freisetzt/nicht freisetzt?

Ich hab mal gelesen, dass Jugendliche mit höheren Schulabschlüssen eher Beratungsangebote im Internet einholen, als welche mit Hauptschulabschluss. Das würde z.B. bestätigen, dass soziales Kapital mit kulturellem Kapital anwächst - beziehungsweise sich spezifiziert und mehr Möglichkeiten eröffnet. Es sagt aber nichts über die Menge der Beziehungen aus.

Ist mehr soziales Kapital da, wenn ich total unterschiedliche Leute kenne? Oder wenn ich genau die kenne, die sich im gleichen Umfeld bewegen, wie ich? Oder wenn ich eben die richtigen kenne, die mir dann Tür und Tor öffnen?

Mal angenommen, ich kenne als Soziologe einen Arzt und einen Juristen, dann kann das sehr hilfreich und ergänzend sein. Aber wenn ich stattdessen zwei Soziologen kenne, dann ist mein berufliches Netzwerk stabiler und ich bin vermutlich ein besserer Soziologe, weil mein Habitus durch meine Kollegen geformt wird. Was von beidem ist als „mehr“ soziales Kapital?

Ich finde den Begriff irgendwie nicht gescheit in die Theorie eingeordnet, beziehungsweise, er sagt mir nix. Wird auf den Begriff überhaupt richtig eingegangen und hat es dazu Untersuchungen gegeben?

Hi,

vorab: eigentlich wollte ich nicht antworten, weil ich mit dem „sozialen Kapital“ bei Bourdieu ähnliche Verständnisprobleme habe wie Du, aber da Du bisher gar keine Antwort bekommen hast, vielleicht hilft ja etwas ignorance à deux.

betreffs Bourdieus Habitustheorie taucht immer wieder das
Schema auf, in dem kulturelle und ökonomisches Kapital als X-
und Y-Achse dargestellt werden und die Gesellschaft wird in
Clustern darin dargestellt.

Du meinst solche Schemata wie das auf S. 212/3 in Bourdieu, Die feinen Unterschiede?

Wo bleibt in diesem Schema das soziale Kapital?

Es passt da m.E. nicht richtig rein;
zum einen ist es bereits im ökonomischen und kulturellen Kapital, also in der Lage in diesem sozialen Raum, der durch öK und kK aufgespannt ist, enthalten;
zum anderen sind öK und kK individuelle Kapitalien, während das sK der sozialen Position eingeschrieben ist, die man innehat, also quasi mehr interindividuell ist.

Das sK ist ja das Kapital, das man auf Grund der Zugehörigkeit zu Netzwerken, Mitgliedschaften in Vereinen, gesellschaftlichen Beziehungen, etc. besitzt;

Eine Definition des sK: „Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu, Die verborgenen Mechanismen der Macht, S. 63)

Welche Milieus
verfügen über besonders viel, welche über wenig Kapital?

Da alle Kapitalien ineinander transformierbar sind, und zudem das sK nach Bourdieu einen „Multiplikatoreffekt“ besitzt, ist klar, dass es tendenziell höher ist, wenn die anderen Kapitalformen höher sind, denn zum einen wird das sK ja „ererbt“, dann normalerweise aber eben schon mit öK oder kK in Verbund, oder es muss durch Kapitaleinsatz „erworben“ werden, durch zeitintensives Pflegen sozialer Beziehungen, kostenintensive Vereinsmitgliedschaften, öK und kK voraussetzende Teilnahme an gesellschaftlichen Events, etc.

Damit verfügen sicher die Kapitalbesitzenden des angesprochenen Schemas wie beispielsweise die „Lehrer“ (sehr hohes kK, mäßiges öK) oder auch die „Industrieunternehmer“ (sehr hohes öK, unterdurchschnittliches kK), etc. sicherlich allesamt über hohes sK (zumindest dann, wenn es wie oben als Potentialität definiert ist, d.h. sie können es zumindest erwerben).

Zum zweiten sind wohl auch die kapitalärmeren Segmente des Schemas über das sK zu differenzieren; so verfügt der alte Handwerker auf dem Dorf sicher über höheres sK als der urbane Facharbeiter, auch wenn der Facharbeiter über mehr kK verfügt (das ist wohl auch einer der Gründe, warum der Segementbereich des „Handwerkers“ in diesem Schema in vertikaler Richtung so langgezogen ist, dass also die „Handwerker“ in punkto kK ziemlich einheitlich, in punkto öK ziemlich uneinheitlich sind, zumindest hat Bourdieu hier in diesem Segment die Unterscheidung „ländliche Gemeinden“ -neben Arbeitszeit, etc.- aufgenommen, was m.E. als sK zu verstehen ist)

hier könnte man auch sehr anschaulich ad hoc die Transformation in den Blick nehmen: der dorfansässige Handwerker, der zu sehr versucht, ökonomischen Profit aus seiner Mitgliedschaft in der Dorfgemeinschaft zu schlagen (denn traditionelle Dorfbewohner tendieren bekanntlich ja noch immer dazu, aus gemeinschaftlicher Verbundenheit heraus das Gesetz von Angebot und Nachfrage zu vernachlässigen), also sK in öK zu transformieren, dessen soziales Kapital wird z.B. durch Tratsch entwertet werden („Der nutzt uns aus!“, man grüßt ihn nicht mehr, Neidmechanismen, etc.).

Oder
gibt es zusätzlich zu den beiden Dimensionen in jeder
Ausprägung nochmal die Variante viel/wenig soziales Kapital,
das dann die entsprechenden Ressourcen des jeweiligen Milieus
freisetzt/nicht freisetzt?

nach der obigen Definition Bourdieus, das sk als „Gesamtheit aktueller und potentieller Ressourcen“ zu verstehen, erübrigt sich diese Frage meines Erachtens;
natürlich haben all die „Ingenieure“ (um willkürlich nur eine Position dieses Schemas zu nehmen) individuell unterschiedliches sK, aber sie sollten in der Regel dieselben Möglichkeiten der Transformation besitzen;

aber sicher könnte man wohl auch innerhalb der einzelnen sozialen Positionen anhand von z.B. Urbanität/Ruralität oder alt/jung versuchen, unterschiedliche Muster des sK auszumachen; ist bestimmt auch getan worden, ich bin aber in Sekundärliteratur zu Bourdieu eben leider überhaupt nicht fit.

Ich hab mal gelesen, dass Jugendliche mit höheren
Schulabschlüssen eher Beratungsangebote im Internet einholen,
als welche mit Hauptschulabschluss. Das würde z.B. bestätigen,
dass soziales Kapital mit kulturellem Kapital anwächst -

das ist sicher korrekt (auch das öK -der Eltern- spielt da ja mit hinein)

beziehungsweise sich spezifiziert und mehr Möglichkeiten
eröffnet. Es sagt aber nichts über die Menge der Beziehungen
aus.

das sK ist ja nicht eine reine Funktion der Menge der Beziehungen, es geht vor allem auch um die Qualität der Beziehungen.

Ist mehr soziales Kapital da, wenn ich total unterschiedliche
Leute kenne? Oder wenn ich genau die kenne, die sich im
gleichen Umfeld bewegen, wie ich? Oder wenn ich eben die
richtigen kenne, die mir dann Tür und Tor öffnen?

letzteres selbstverständlich!
das sK ist als „Nutzen“ operationalisiert; wenn ich 1000 Leute kenne, die mir allesamt nicht weiterhelfen können, dann ist mein sK nicht hoch, da es dann nicht in öK transformierbar wäre; der Witz an Bourdieus Kapitalienkonzept ist ja gerade die Transformierbarkeit.

„Das Beziehungsnetz ist ein Produkt individueller und kollektiver Investigationsstrategien […] die früher oder später einen Nutzen versprechen“

leider ohne Quellenangabe hier zitiert, aber sicherlich der Sache nach durchaus korrekt:
http://www.uni-konstanz.de/struktur/fuf/polfak/freit…

Viele Grüße
Franz

Hi,

mittlerweile ist die Sache ein bißchen klarer. Das soziale Kapital scheint tatsächlich (wie das symbolische) nicht genau in diesem Schema aufzugehen, in dem die zwei anderen Kapitalsorten mengenmäßig gemessen werden können. Mindestens eine dieser Kapitalsorten muss man beim sozialen Kapital immer mitdenken - es hat also keine eigenständige Qualität.

Bei Bourdieu störe ich mich immer daran, dass er so auf Herrschaft und den „Gipfel“ der Gesellschaft ausgerichtet ist - ich denke, für einen Juristen wäre es auch ziemlich unangenehm, einen Nachittag in einer Schreinerwerkstatt zu hospitieren und Fuß zu fassen. Deshalb macht es mir Probleme, wenn die Rede davon ist, dass sich soziales Kapital nach oben hin potenziert. Sind denn wirklich die Partizipationsmöglichkeiten nach oben hin größer, oder sind es einfach nur bestimmte Möglichkeiten, denen - in bestimmten Kreisen - ein größerer Wert zugesprochen wird?
Das führt dann gleich zu dem Schluss, dass z.B. Frauen diskriminiert werden, weil sie trotz besserer Noten seltener in höhere Positionen gelangen - aber ist es nicht auch ein Wert, ein erfülltes Leben zu haben, anstatt sich mit seiner Karriere krummzubuckeln? Wer bestimmt das!

Natürlich ist es denkbar, dass „Kontakte knüpfen“ mit zu einem gesellschaftsfähigen Habitus gehört. Aber knüpfen nicht alle anderen Leute auch, nur eben auf eine weniger explizite Art, Kontakte?

Ich hatte eigentlich nach theoretischen Untermauerungen für eine Netzwerkanalyse gesucht, Bourdieus Kapitalbegriff macht mir da Mühe. Colemann oder Putnam liegen da schon näher. Bourdieus Kapitalbegriff eignet sich - mal wieder - um kollektive Machtinteressen zu beschreiben, aber was der einzelne Handelnde durch seine Netzwerke gewinnt, das lässt sich in diesem Modell nicht so toll untersuchen.