Hallo,
Der Professor hat dann zum Abschluss eine Frage gestellt, die
wohl zum Bereich Transfer gehört.
„Wie sähe die Welt aus, wenn es keine Rituale gäbe?“
Mein Freund ist dazu nicht viel eingefallen. Es würden weniger
Menschen heiraten, hat er gesagt. Da hab ich als fachfremdes
dann vorgeworfen, dass ihm dazu mehr hätte einfallen können.
Damit tatest Du Recht
Ich hab vorgeschlagen, dass es ohne Rituale keine Kirchen und
keine Religionen geben würde, weil Kirche und Religion auf
Rituale angewiesen sind (hätte man beim Thema der
Magisterarbeit auch drauf kommen können).
Dann sind mir noch abendliche (Einschlaf-) und morgendliche
Rituale eingefallen und der Sonntag als Feiertag. Demzufolge
gäbe es keine Stundenpläne (und Uhren?), feste Arbeitszeiten,
Urlaub…mit der Folge, dass eine Arbeitswelt, wie wir sie
kennen nicht existent wäre.
Wenn man jetzt alles streichen würde, was im geringsten mit
Ritual zu tun hätte (von der Kleinkinderziehung, der
Entwicklung der Sprache(?) bis zum Umgang mit Verstorbenen),
wäre es dem Menschen nicht möglich Mensch zu sein.
Auf die Spitze getrieben und überspitzt formuliert: Den
Menschen würde es ohne Rituale nicht geben. Oder: Rituale sind
etwas entscheidendes, was den Menschen vom Tier unterscheidet.
Ich würde gerne wissen: Liege ich mit meiner Antwort irgendwie
richtig?
Ja, das passt irgendwie schon, allerdings:
-
es ist eine soziologische Binsenweisheit, dass keine Gesellschaftstypen bekannt sind, die nicht in irgendeiner Form ritualisiertes Handeln aufweisen würde,
-
es mag bei Kirche und Religion durchaus treffend sein, dass es in diesen Bereichen keine Alternative zum Ritual gibt (deshalb beschäftigt sich ja auch besonders die Religionssoziologie mit dem Ritual);
für die Arbeitswelt ist es die Frage, ob man denn z.B. den angeführten „Stundenplan“ als „Ritual“ verstehen will;
ich würde das dann nicht tun, wenn ich die geläufige Ritual-Definition nehme, die auch wikipedia anführt: „Ein Ritual ist eine nach vorgegebenen Regeln ablaufende, feierlich-festliche Handlung mit hohem Symbolgehalt. Sie wird häufig von bestimmten Wortformeln und festgelegten Gesten begleitet“
http://de.wikipedia.org/wiki/Ritual
das trifft m.E. auf einen Stundenplan selbst nicht zu, möglicherweise schon aber wiederum auf den Morgenappell, etc.
auch Dinge wie den „Urlaub“ oder den „Sonntag“ würde ich eher mit dem soziologischen Fachausdruck der „Institution“ bezeichnen als mit dem des „Rituals“ (die aber sowieso fließend ineinander übergehen):
„Institution ist in der Soziologie eine mit Handlungs-Rechten, Handlungs-Pflichten oder normativer Geltung belegte soziale Wirklichkeit, durch die Gruppen und Gemeinschaften nach innen und nach außen hin verbindlich (geltend) wirken oder handeln.“
http://de.wikipedia.org/wiki/Institution
- Solche Aussagen wie „Ohne Rituale wäre der Mensch ein Tier“, oder ähnliche, sind im Kontext einer Prüfung eigentlich nur sinnvoll, wenn man sich dafür auf einen bestimmten theoretischen Hintergrund -und damit auf eine bestimmte Definition von „Ritual“- beruft;
auch wenn es eher Anthropologie als Soziologie ist, würde z.B. Dein Satz „Rituale sind etwas entscheidendes, was den Menschen vom Tier unterscheidet“ wunderbar zur Institutionentheorie Arnold Gehlens passen, der den Menschen als „Ritualtier“ konzipiert;
mit dieser Angabe „nach Gehlen sind Rituale …“ ist Dein Satz vermutlich korrekt, wird er aber unspezifisch vorgebracht könnte man darauf antworten, dass auch bei Tieren Rituale beobachtbar sind, und daher der Satz falsch ist;
z.B. Der bekannte Zoologe „Jörg Hess schildert in seinem Beitrag ‚Übergänge im Leben von Tieren‘, wie auch bei Tieren ungewöhnliches, im Kontext sonst ‚unsinniges‘ ritualisiertes Verhalten auftritt, beispielsweise bei Formen von Trauer und Verlust.“
http://www.socialnet.de/rezensionen/452.php
Könnte mir jemand, der sich gut mit Ritualen und
Gedankenexperimenten auskennt (und am besten noch lange
Soziologie studiert hat oder sogar noch an der Uni lehrt)
sagen, was der Professor für eine Antwort erwartet hätte?
Um das sagen zu können, müsste man nicht Ritualforscher, sondern Gedankenleser sein … aus Erfahrung kann ich aber berichten, dass die Gedanken von Soziologieprofessoren meist besonders unleserlich sind.
Professoren benutzen solche lächerlich unspezifischen Fragen wie die geschilderte normalerweise in Zwischenprüfungen und Nebenfachprüfungen (wo die Anforderungen nicht sonderlich hoch sind) einfach als eine Art „Gesprächsangebot“, um zu sehen, ob der Geprüfte in seiner Antwort die soziologische Fachsprache beherrscht (was in der Regel das eigentlich Interessierende ist);
auf so eine lapidare Frage gibt es logischerweise keine klare Antwort, höchstens die obige Binsenweisheit; sie dient m.E. bloß als ein Stimulus um den Redefluss am Laufen zu halten.
Viele Grüße
Franz