Rationalität nach Habermas
Hi.
Jeder wird dem anderen implizit „Irrationalität“ vorwerfen, und doch nutzen beide, akademisches Niveau vorausgesetzt, ein großes Potential an Verstand.
… und handeln demnach meiner Definition folgend rational.
Dann muss ich zu einem gröberen Beispiel greifen, nämlich der rassistischen Argumentation in intellektuellen Nazi-Kreisen. Auch dort wird ein vergleichsweise hoher Aufwand an Verstandesleistung betrieben. Ein durchschnittlich gebildeter Mensch hätte in einer Diskussion mit Anhängern solcher Theorien nicht die geringste Chance, deren Argumente zu entkräften.
Ich will damit sagen, dass allein der Umstand, dass man auf einem gewissen intellektuellen Niveau argumentiert, diese Argumentation nicht per se „rational“ macht. Das ist natürlich wieder eine Definitionssache. Definiert man „rational“ als „den Verstand verwendend“ (wie du es offensichtlich tust), dann ist natürlich auch rassistische Argumentation rational. Allerdings wird der Rationalitätsbegriff dadurch nichtssagend.
Es ist schwierig das auseinander zu dröseln, da jede Überzeugung zwei Ebenen hat: Die intuitive (= irrationale) und die begründbare (= rationale).
Da muss ich aber kräftig widersprechen. Es gibt Überzeugungen, die völlig begründbar sind und ohne Intution auskommen, was allerdings nicht heißt, dass sie auf Beweisbarkeit fußen.
Beispiel Spiritualität: Ein echter Spiritueller weiß seine Einstellung zu begründen. Er beruft sich nicht auf Intuition, was das Recht des Künstlers ist. Vielmehr beruft er sich auf seine Erfahrung (des spirituellen Urgrunds) und darauf, dass zahllose andere Menschen sehr ähnliche Erfahrungen gemacht haben, die sie in Berichten niederlegten. Dass dieser Urgrund nicht beweisbar ist (d.h. für Außenstehende objektivierbar), habe ich schon mehrmals geschrieben. Doch seine Erfahrung ist unendlich viel mehr als nur eine Intuition. Insofern ist Spiritualität absolut rational.
Tatsächlich halte ich es auch für irrational eine Religion der anderen vorzuziehen, denn derjenige der das tut, folgt einem Dogma, das sich nicht durch den Verstand begründen lässt.
Aber wie steht es mit den atheistischen Bewusstseinsreligionen
des Fernen Ostens?
Mit denen kenne ich mich zu wenig aus.
Dann wird’s aber, mit Verlaub, Zeit, dass sich das ändert:smile:
denn die Entscheidung: „Ich erlebe ‚Gott‘ so und so und lebe meinen Glauben deswegen auf diese oder jene Weise.“ …
Dieser Satz ist mir zu vage, da ich aus ihm alles und nichts herausdeuten kann. Du setzt „Gott“ in Anführungszeichen? Warum?
Weil ich damit nicht den Gott der Bibel meinte, sondern das Wort „Gott“ als eine Metapher für die metaphysische Entität, an die jemand glaubt, verwendete.
Es gibt eine Menge alternativer Bezeichungsmöglichkeiten, sowohl aus dem religiösen wie aus dem philosophischen Bereich, z.B. Urgrund, das Eine, Weltgeist, das Numinose usw. Die artikellose Singularform „Gott“ ist und bleibt in unserem Kulturkreis die Bezeichnung eines personal gedachten Weltschöpfers. Als „Metapher“ taugt sie nicht, weil sie unweigerlich zu missverständlichen Assoziationen führt.
Mir wird immer klarer, dass ich die Begriffe rational und irrational gar nicht auf bestimmte Systeme anwenden kann, sondern nur auf das Verhalten einer Person.
Besagte Systeme sind das Produkt menschlicher Handlungen und Denkweisen. Insofern tragen sie die Rationalität oder Irrationalität dieser Handlungen und Denkweisen in sich. Soll heißen: Natürlich kann man das Kriterium der Rationalität auch auch Denk- bzw. Glaubenssysteme anlegen.
Wenn nun jemand sich zum christlichen Glauben (statt zum jüdischen) Glauben bekennt, dann ist diese Entscheidung irrational, weil er sie mit den Mitteln des Verstandes nicht begründen kann.
In der Praxis ist es der Regelfall, dass man als Kind bereits in diese Systeme hineinwächst. Von einer Entscheidung kann da nicht die Rede sein.
Wenn er sich nun im Begriffsschema einer Religion bewegt, dann kann er darin sehr wohl rational handeln. „Wie ist das Gleichnis vom verlorenen Sohn zu verstehen?“ ist eine sehr rationale Fragestellung.
Damit wird der Geltungsrahmen der Rationalität für meinen Geschmack viel zu eingeschränkt. Echte Rationalität sollte, denke ich, auch in die Tiefe gehen, also nicht nur an einer „geglaubten“ Oberfläche denkerisch operieren. Rationalität sollte also kritisch und hinterfragend sein. Im von dir genannten Beispiel heißt das: Der Fragende sollte zunächst die Textquelle hinterfragen, die besagtes Gleichnis enthält. Er sollte fragen: Ist der Text authentisch? Hat es die Person, die das Gleichnis erzählt, überhaupt gegeben? Ist das erzählte Gleichnis überhaupt auf diese Person zurückführbar, oder ist es der Person nachträglich in den Mund gelegt worden (unabhängig von der Frage, ob es die Person historisch gegeben hat)? Usw. usf.
Wenn all diese vorauslaufenden Fragen nicht gestellt und beantwortet werden, ist jede Überlegung über den „Sinn“ des Gleichnisses NICHT rational zu nennen, da ihre Basis, der Glaube an die (unbeweisbare) Historizität der Jesusfigur und an die (wissenschaftlich total fragwürdige) Authentizität der Jesussprüche, „irrational“ ist. Wenn du jetzt sagst, darauf käme es nicht an, die Überlegung wäre trotzdem „rational“ (bloß weil sie den Verstand benutzt), dann, sage ich, sind ALLE Überlegungen rational, auch die über die Verse von Nostradamus oder über die Zeitungshoroskope oder über die Orakel auf der Wahrsager-Hotline 0800-8478266.
Abschließend weise ich auf Habermas´ Rationalitätsmodell in seinem mittleren Werk „Erkenntnis und Interesse“ hin, in dem das „emanzipatorische Erkenntnisinteresse“ für das Streben nach Befreiung aus manipulativen Verhältnissen steht. Bezogen auf das vorausgehende Beispiel: Das Subjekt verhält sich nur dann rational, wenn es die Textquelle möglichst kritisch auf ihre Authentizität hin überprüft. So wie du das darstellst, ist das kein wirklich rationales Verhalten.
http://www.wirtschaftslexikon24.net/e/erkenntnisinte…
_Erkenntnisinteresse
In der Wirtschaftssoziologie:
erkenntnisleitendes Interesse, nach J. Habermas und K.O. Apel Bezeichnung für das Interesse, das einem bestimmten, durch eine spezifische methodologische Orientierung gekennzeichneten Wissenschaftstypus zugrunde liegen soll. Die Lehre von den E.n behauptet, dass den empirisch-analytischen Wissenschaften ein technisches (d.h. auf technische Verwertbarkeit der Ergebnisse gerichtetes), den „historisch-hermeneutischen“ Wissenschaften ein praktisches (d.h. auf Handlungsorientierung gerichtetes) und den „kritischen Sozialwissenschaften“ ein auf Lösung des „Subjekts aus der Abhängigkeit von hypostasierten Gewalten“ durch das Mittel der „Selbstreflexion“ gerichtetes emanzipatorisches Erkenntnisinteresse zugrunde liegt. Jedes dieser E.n stiftet danach ein je besonderes „transzendentales“ Bezugssystem, durch das die verschiedenartigen Typen der Forschung und der entsprechenden Forschungsergebnisse ihren spezifischen „Sinn“ erhalten._
Chan