Spritiualität --- Rationalität --- Irrationalität

Hallo,

mich beschäftigen Abgrenzungs-, Zuordnungs- oder möglicherweise nur Definitionsprobleme.

Unter Rationalität wird meist eine Art „vernunftgeleitetes Denken und Handeln“ (Bsp. aus Wiki-Definition) verstanden. Wenn also Rationalität über „instrumentellen Verstand“ hinaus als Vernunft betrachtet wird, ist Spiritualität (zur groben Definition s. unten *) demzufolge beinhaltet.

Oder wäre S. dann dem Gegenüber „Irrationalität“ zuzuordnen?

Oder ist S. komplementär und Vernunft die Summe aus Ratio-Verstand und Spiritualität (und Irrationalität)?

Welche Ansätze/Gedanken verfolgt oder bevorzugt ihr hierzu?
Welche wesentlichen Ansätze finden sich in der Philosophie?

Zur Vermeidung religiöser Nebendebatten, die nur verwässern würden, würde ich eine weltlich-humanistische Spiritualität im Sinne von Joachim Kahl als Grundlage voraussetzen. Danke.

nasziv

* Spritualität:
Geistigkeit, Geistorientiertheit, Intuition
Innere Lebenseinstellung, Gemüt, Gefühl, Mut, etc.

Vernunft und Spiritualität
Hi.

mich beschäftigen Abgrenzungs-, Zuordnungs- oder
möglicherweise nur Definitionsprobleme.

Die erstgenannen Probleme hängen zunächst mal am dritten, dem Definitionsproblem.

Unter Rationalität wird meist eine Art „vernunftgeleitetes
Denken und Handeln“ (Bsp. aus Wiki-Definition) verstanden.

Daraus folgt bereits, dass es eigentlich um den Vernunftbegriff geht. Ich denke, als Ausgangsbasis tut´s die Vernunftdefinition von Wiki:

Der Begriff Vernunft bezeichnet in seiner modernen Verwendung die Fähigkeit des menschlichen Denkens, aus den im Verstand durch Beobachtung und Erfahrung erfassten Sachverhalten universelle Zusammenhänge in der Welt durch Schlussfolgerung herzustellen, deren Bedeutung zu erkennen, Regeln und Prinzipien aufzustellen und danach zu handeln

Damit wird ein Rahmen abgesteckt, der überhaupt nicht - ich wiederhole: überhaupt nicht - in irgendeinem Gegensatz zur Spiritualität steht bzw. eine solche grundsätzlich ausschließt.

Oder wäre S. dann dem Gegenüber „Irrationalität“ zuzuordnen?

Nur für oberflächliche Naturalisten bzw. Materialisten ist das so. Die nämlich kennzeichnen alles, was sie nicht kennen oder verstehen, als irrational.

Oder ist S. komplementär und Vernunft die Summe aus
Ratio-Verstand und Spiritualität (und Irrationalität)?

„Komplementär“ ist der deutlich sinnvollere Ansatz, aber immer noch unrund.

Welche Ansätze/Gedanken verfolgt oder bevorzugt ihr hierzu?

Nehmen wir nochmal die obige Vernunftdefinition. Hier heißt es:

Der Begriff Vernunft bezeichnet (…) die Fähigkeit des menschlichen Denkens, aus den im Verstand durch Beobachtung und Erfahrung erfassten Sachverhalten universelle Zusammenhänge in der Welt durch Schlussfolgerung herzustellen

Das Material, aus dem die Vernunft ihre Schlüsse zieht, ergibt sich also aus der „Beobachtung“ und der „Erfahrung“. Das bedeutet nicht automatisch und zwingend, dass es nur um naturwissenschaftliche Erfahrung geht. Denn der Mensch kann auch auf anderen Ebenen wahrnehmen und beobachten. Im Alltag ist das z.B. die psychologische Ebene. Hier kann der Mensch Verhaltensweisen und -muster anderer Menschen beobachten und studieren. Die aber liegen auf der hermeneutischen Ebene, also im Bereich der Interpretation von Symbolen. Kein Messgerät kann diese Ebene erfassen, hier versagt also die Naturwissenschaft, und doch wird niemand behaupten, dass keine Erkenntnis auf dieser Ebene möglich sei. Im Bereich des menschlichen Unbewussten liegen die Dinge noch deutlich unexakter, aber auch dafür gibt es eine Wissenschaft, die Psychoanalyse, über deren Wissenschaftlichkeit und damit Vernünftigkeit es einen hinreichenden, wenngleich nicht vollständigen Konsens gibt.

Bisher habe ich zwei Ebenen angesprochen, die naturwissenschaftliche und die hermeneutische. Jetzt komme ich zur dritten Ebene, und das ist die spirituelle.

Ich folge damit der Einteilung, die Ken Wilber in den 80ern in seinem Werk „Die drei Augen der Erkenntnis“ einführte. Als vorläufige Definition der S. schlage ich vor: Die S. geht davon aus, dass der Welt eine „geistige“ Substanz zugrundeliegt, die die Quelle aller Erscheinungen ist. Mit Substanz ist hier einfach das gemeint, auf das alles Einzelne in letzter Konsequenz reduzierbar ist. Als geistig wird diese Substanz in der S. deshalb betrachtet, weil sie lebendig ist, und das sogar im höchsten Maße. Das unterscheidet diesen Substanzvorstellung von den mehr materialistisch ausgerichteten. Spinoza hatte z.B. einen solchen Substanzbegriff, den er mit „Gott“ gleichsetzte, allerdings nicht mit einem personalen Gott. Die Spiritualität geht nämlich davon aus, dass es einen solchen Gott - der als Person ja von der Welt unterschieden werden müsste - nicht gibt. Vielmehr ist die „göttliche“ Substanz im panentheistischen Sinne (zu unterscheiden vom Pantheismus) auch die Substanz des materiellen Kosmos.

All das mal vorausgesetzt, ergibt sich für den Zusammenhang von Vernunft und Spiritualität folgendes:

Spirituelle Erfahrung bedeutet die Erfahrung der Welt als Geistiges. Wenn also Vernunft

die Fähigkeit des menschlichen Denkens (ist), aus den im Verstand durch Beobachtung und Erfahrung erfassten Sachverhalten universelle Zusammenhänge in der Welt durch Schlussfolgerung herzustellen,

dann kann sie sehr wohl auch auf den spirituellen Erfahrungsbereich angewendet werden. Was die spirituellen Religionen ja auch tun. Sie schließen z.B. aus spirituellen Zusammenhängen auf moralisch erforderliche Regeln (praktische Vernunft).

Ein Gegensatz kann hier nur von Leuten konstruiert werden, die der S. grundsätzlich skeptisch oder sogar feindlich gegenüberstehen. Es gibt dafür im www zahlreiche Beispiele, sie werden sich in diesem Thread wahrscheinlich auch noch zu Wort melden (hallo, Balazs und Jugador!).

Skeptiker argumentieren gerne damit, dass S. nicht beweisbar und deshalb „irrational“ sei. Ich habe auf solche Argumente schon zigmal geantwortet und werde nicht müde, es immer wieder zu tun. An dieser Stelle soll genügen, dass eine Million Dinge nicht objektiv (also für andere) beweisbar sind, und doch ist man von ihrer Realität überzeugt.

Natürlich kann man Skeptiker nicht mit Worten überzeugen. Das Spirituelle wird nämlich nur von denen erkannt, die dazu begabt und fähig sind. Das ist nun mal so. Der eine kann´s, der andere nicht. C´est la vie. Ich weiß dafür nicht, wie man eine Million macht. Andere zaubern sowas aus dem Hut. Die Begabungen sind eben unterschiedlich verteilt.

Welche wesentlichen Ansätze finden sich in der Philosophie?

Am überzeugendsten ist der Ansatz von Ken Wilber (sorry, Ralf). Denn der stellt seine Theorie in den größtmöglichen Rahmen, der auch die modernen westlichen Wissenschaften umfasst.

Zur Vermeidung religiöser Nebendebatten, die nur verwässern würden,

Womit du den Rahmen einer Debatte bereits einzuschränken versuchst. Wenn du schon ein Thema exponierst, dann solltest du nicht im vornherein evtl. dir missliebige Theorien schlechtreden. Das ist sehr unwissenschaftlich und auch nicht gerade weise.

würde ich eine weltlich-humanistische Spiritualität im Sinne von Joachim Kahl als Grundlage voraussetzen.

Bei der Schnelldurchsicht von Kahls Seite

http://www.philosophia-online.de/mafo/heft2001-03/ka…

bin ich auf viele nette Floskeln gestoßen, aber auf keine substantielle Aussage, die etwas mit Spiritualität zu tun hätte. Vielleicht kannst du genauer darlegen, was an Kahl so toll ist?

Chan

Hallo!

Damit wird ein Rahmen abgesteckt, der überhaupt nicht - ich
wiederhole: überhaupt nicht - in irgendeinem Gegensatz zur
Spiritualität steht bzw. eine solche grundsätzlich
ausschließt.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich nach unserem letzten unerfreulichen Zusammentreffen einem Posting von Dir rundum zustimmen und es auch noch besternen könnte. So ist es aber nun geschehen.

Ich möchte es noch ein wenig erweitern:

Spiritualität und Rationalität sind keine Gegensätze, sondern sie bewegen sich auf verschiedenen „Achsen“. Das Gegenteil von Rationalität ist Irrationalität. Das Gegenteil von Spiritualtiät ist Materialismus. Nun gibt es vier mögliche Kombinationen:

materialistisch-rational ist die moderne Naturwissenschaft.
spirituell-irrational ist z. B. die Esoterik oder die Astrologie.
spirituell-rational ist kritische Auseinandersetzung mit der selbst erlebten Geistigkeit.
materialistisch-irrational ist z. B. die Homöopathie.

Michael

Hi Ch´an

Hier kann ich nicht voll zustimmen:smile:

Kein Messgerät
kann diese Ebene erfassen, hier versagt also die
Naturwissenschaft,

Stimmt lange nicht mehr, und man kann klar vorauszusehen, dass da noch dramatischere Durchbrüche sich abzeichnen.

und doch wird niemand behaupten, dass keine
Erkenntnis auf dieser Ebene möglich sei.

Klar sogar den Magen wird eine Art unabhängiges bewusstes Denken zugeschrieben.
Es scheint eine Naturgesetz zu sein den Experimentator arg zu unterschätzen, Wunschdenken:smile:

Chan

Balázs

Wenn also Rationalität über „instrumentellen Verstand“ hinaus

Mit welchem Nutzen?

als Vernunft betrachtet wird, ist Spiritualität (zur groben
Definition s. unten *) demzufolge beinhaltet.

Mit welchem Ziel?

Oder wäre S. dann dem Gegenüber „Irrationalität“ zuzuordnen?

Mit welchem Nachteil?

Welche Ansätze/Gedanken verfolgt oder bevorzugt ihr hierzu?
Welche wesentlichen Ansätze finden sich in der Philosophie?

Mit welchem Vorteil?

Zur Vermeidung religiöser Nebendebatten, die nur verwässern
würden, würde ich eine weltlich-humanistische Spiritualität im
Sinne von Joachim Kahl als Grundlage voraussetzen. Danke.

Kahl, Metzinger, Tugenhadt, Frank, Dennett, Nagel, Putnam, Foucault, Derride u. v. a. Gegenwartsphilosophen bieten Konzepte ohne religiösen Bezug, wie zum Beispiel Wilber, der Hegels Idealismus „weiterspinnt“.

CJW

Fahler!

  1. Fehler!
  2. Derrida…
  3. Wie zum Beispiel DAGEGEN Ken Wilber…
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Das Problem der Definition des Irrationalen
Hi Michael.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich nach unserem letzten unerfreulichen Zusammentreffen

Dass ich auf Deschner noch eins drauf setze, ist im www kein Geheimnis. Natürlich ist das nicht für jeden erfreulich.

Damit wird ein Rahmen abgesteckt, der überhaupt nicht - ich
wiederhole: überhaupt nicht - in irgendeinem Gegensatz zur
Spiritualität steht bzw. eine solche grundsätzlich
ausschließt.

Ich möchte es noch ein wenig erweitern:

Spiritualität und Rationalität sind keine Gegensätze, sondern
sie bewegen sich auf verschiedenen „Achsen“. Das Gegenteil von
Rationalität ist Irrationalität. Das Gegenteil von
Spiritualtiät ist Materialismus. Nun gibt es vier mögliche
Kombinationen:

materialistisch-rational ist die moderne Naturwissenschaft.
spirituell-irrational ist z. B. die Esoterik oder die
Astrologie.
spirituell-rational ist kritische Auseinandersetzung mit der
selbst erlebten Geistigkeit.
materialistisch-irrational ist z. B. die Homöopathie.

Interessanter Ansatz bezüglich der Differenzierungen, dem ich bedingt zustimme, bedingt insofern, weil „Esoterik“ hier einer gesonderten Definition bedarf. Möglicherweise definierst du sie als den Bereich all der sich als spirituell ausgebenden Theorien, die zu irrationalen Schlussfolgerungen und Praktiken gelangen. Dabei sollte wiederum der Begriff des „Irrationalen“ klargestellt werden, was alles andere als einfach ist.

Wir werden schnell feststellen, dass dieser Begriff kaum eindeutig definierbar ist. Als Gegenteil oder Verneinung des Rationalen gibt er nicht viel her, da auch der Rationalitäts-Begriff keine eindeutigen und klaren Konturen hat.

Was also ist das Irrationale? Das Unbeweisbare? Dann wäre vieles irrational, was im Alltag als selbstverständlich vorausgesetzt wird, z.B. die Annahme, es gäbe andere Ichs außer dem eigenen, oder es gäbe überhaupt ein Ich.

Ist Astrologie irrational? Du behauptest es. Ich selbst bin null überzeugt von der Astrologie, kann aber nicht definitiv ausschließen, dass in irgendeiner Weise etwas an ihr dran ist. Also ist für mich nicht erwiesen, dass sie irrational, d.h. widervernünftig, ist. Vielleicht habe ich sie ja noch gar nicht verstanden? Nein, das Irrationale muss sich definitiv an seinen negativen Folgen für die Menschen erweisen, vorher bin ich nicht bereit, es als solches zu verurteilen.

Ist es irrational, an die Wirkung von Amuletten zu glauben? Keine Ahnung. Ich habe kein Urteil darüber. Vielleicht gibt es ja eine Wirkung über das Suggestive hinaus, die ich nicht kenne. Also halte ich mich mit der Irrationalitätskeule in solchen und ähnlichen Dingen zurück. Die nämlich packe ich erst aus, wenn es um wirklich gravierende Angelegenheiten geht, nämlich um Menschenleben.

Deine Einteilung im Einzelnen:

materialistisch-rational ist die moderne Naturwissenschaft.

Das betrifft zum einen den Begriff des Zweckrationalen (instrumentelle Vernunft), so wie Habermas ihn in Anlehnung an Weber verwendet. Zweckrational sind Verfahren, die in sinnvoller Weise der Erfüllung eines technischen Zweckes dienen. Davon unterscheidet Habermas die kommunikative Rationalität, also bestimmte Modalitäten der zwischenmenschlichen Kommunikation, deren Hauptkennzeichen ist, repressionsfrei zu sein, d.h. Standpunkte werden argumentativ und begründend durchgesetzt, nicht durch Gewalt oder Manipulation.

spirituell-irrational ist z. B. die Esoterik oder die Astrologie.

Ohne nähere Begründung steht das nur sehr thesenhaft da. Wie unterscheidest du denn die Esoterik von den (großen) Religionen? Warum sind diese in deinen Augen nicht „spirituell-irrational“? Ich habe das Thema der „doppelten Moral“ kürzlich im Relibrett aufgeworfen im Zusammenhang damit, dass man an die „Kleinen“ oft härtere Maßstäbe anlegt als an die Großen. Du warst damit nicht gemeint, aber was würdest du jetzt auf die Frage antworten, warum „die“ Esoterik irrationaler sein soll als z.B. der Islam, das Judentum oder das Christentum? „Beweisen“ können all diese Richtungen ihre Prämissen nicht.

spirituell-rational ist kritische Auseinandersetzung mit der selbst erlebten Geistigkeit.

Plus systematische Theorienbildungen im Hinblick auf Kosmologie, Ethik und Psychologie. Ansonsten verbleiben solche Auseinandersetzungen im subjektiven Rahmen und können anderen nichts nützen. Die Geschichte der Philosophie und Religion ist voll von solchen Theoriebildungen (Buddhismus, Vedanta, Neuplatonismus usw.). Natürlich sind auch diese Theorien nicht „beweisbar“, jedoch nachvollziehbar für all jene, die das „Geistige“, also Spirituelle, schon einmal in seiner wahren Natur erfahren haben.

materialistisch-irrational ist z. B. die Homöopathie.

Auch hier will ich keinen Standpunkt beziehen, da ich von der Unmöglichkeit eines Nutzens der H. keine fundierte Überzeugung habe. Mögen sich die Anhänger und Gegner streiten und die Sache irgendwann klären. Für mich ist der Glaube an die Entstehung von Geist, Bewusstsein und Leben aus dem Materiellen ein vortrefflicher Kandidat für das Materialistisch-Irrationale. Diesen Glauben, der etwas Religiöses hat, weil er der Materie etwas „Göttliches“ zuspricht, ist nämlich logisch widersinnig, was selbst hochintelligente Wissenschaftler nicht daran hindert, ihm zu huldigen.

Soviel für heute.

Chan

Hallo!

Was also ist das Irrationale? Das Unbeweisbare? Dann wäre
vieles irrational, was im Alltag als selbstverständlich
vorausgesetzt wird, z.B. die Annahme, es gäbe andere Ichs
außer dem eigenen, oder es gäbe überhaupt ein Ich.

Beweisbarkeit ist zwar eine hinreichende Bedingung für Rationalität, jedoch keine notwendige.

Für mich ist eine Behauptung „rational“, wenn derjenige, der sie äußert, durch den Einsatz seines Verstandes zu ihr gelangt ist, d. h. es handelt sich nicht einfach um ein „Bauchgefühl“ oder das unreflektierte Nachplappern eines Dogmas.

Ist Astrologie irrational? Du behauptest es. Ich selbst bin
null überzeugt von der Astrologie, kann aber nicht definitiv
ausschließen, dass in irgendeiner Weise etwas an ihr dran ist.

Sie ist zunächst einmal nicht plausibel, weil es kein tragfähiges Modell dafür gibt, dass die Sterne in irgendeiner Weise mit unserem Schicksal interagieren. Wenn nun jemand verstanden hat, dass die Astrologie nicht plausibel ist, und trotzdem an ihre Bedeutung glaubt, dann handelt er irrational. Um meine Definition von weiter oben aufzugreifen: Er entscheidet sich gegen die Aussage seines Verstandes und richtet sich nach seinem Bauchgefühl.

spirituell-irrational ist z. B. die Esoterik oder die Astrologie.

Ohne nähere Begründung steht das nur sehr thesenhaft da. Wie
unterscheidest du denn die Esoterik von den (großen)
Religionen? Warum sind diese in deinen Augen nicht
„spirituell-irrational“?

Ich habe nicht behauptet, dass sie es nicht seien. Ich habe lediglich für „spirituell-irrational“ zwei andere Beispiel gewählt. Tatsächlich halte ich es auch für irrational eine Religion der anderen vorzuziehen, denn derjenige der das tut, folgt einem Dogma, das sich nicht durch den Verstand begründen lässt.

Ich habe dieses Beispiel aus einem anderen Grund vermieden, nämlich weil Religiosität mehrere Ebenen hat. Die Tradition, die Bräuche und die Überlieferung sind vollkommen irrational. Es gibt z. B. keinen vernünftigen Grund an die Dreifaltigkeit Gottes zu glauben. Wer das tut, tut es nicht aufgrund rationaler Überlegungen, sondern weil er so erzogen wurde oder den christlichen Glauben „aus dem Bauch heraus“ angenommen hat.

Die andere Ebene aber, die eigene persönliche Auseinandersetzung mit dem Glauben, hat durchaus einen rationalen Teilaspekt, denn die Entscheidung: „Ich erlebe ‚Gott‘ so und so und lebe meinen Glauben deswegen auf diese oder jene Weise.“ hat durchaus mit Überlegungen zu tun.

Die Ablehnung aller Formen von Religiosität wird gerne als „rationale“ Alternative zum „irrationalen“ Glauben dargestellt. Jedoch liegt es meiner Überzeugung nach nicht am Rationalismus sondern am Materialismus. Jemand der die Welt nur materialistisch sieht, der also alles geistige ausklammert, der gelangt nicht zum Glauben, egal ob er sich rational oder irrational verhält. Derjenige, der jedoch akzeptiert, dass es auch eine geistige Wirklichkeit gibt, kann durch rationale Überlegungen ebenso zum Atheismus wie zur Religiosität gelangen.

Mit Religiosität meine ich hier ausdrücklich jede Form von Religiosität. Wenn man sich einer speziellen Religion anschließt, dann ist diese Entscheidung irrational. (Die Idee, dass sich jemand die Glaubensinhalte aller Religionen anschaut und wie die Wahlprogramme von Parteien vergleicht, bevor er sich für die eine oder andere Religion entscheidet, ist wohl eher konstruiert als der Wirklichkeit entsprechend).

Das wird nun alles ziemlich verwirrend, und gerade deshalb habe ich das Beispiel „Astrologie“ gewählt, weil es dort klarer ist: Wer an Astrologie glaubt, entscheidet sich bewusst für etwas, was der Vernunft widerspricht. „Esoterik“ war kein gutes Beispiel, weil es in der Tat schierig ist für Esoterik eine scharfe Definition zu finden.

Schließlich möchte ich noch anfügen, dass „irrational“ und „rational“ nicht mit „schlecht“ und „gut“ verwechselt werden dürfen. Manchmal ist es gut, irrationale Entscheidungen zu treffen. Das gilt für die Liebe genauso wie für Glaubensangelegenheiten. Rationalität ist nur dann vorzuziehen, wenn es um die Fragen der Erkenntnis geht.

Michael

1 Like

Hallo!

materialistisch-rational ist die moderne Naturwissenschaft.
spirituell-irrational ist z. B. die Esoterik oder die
Astrologie.
spirituell-rational ist kritische Auseinandersetzung mit der
selbst erlebten Geistigkeit.
materialistisch-irrational ist z. B. die Homöopathie.

Ich möchte Ch´an auch beistimmen, bezüglich der
Definitionsfrage zur Irrationalität.

Ich würde ja auch gern Esoterik, Astrologie und Homöopathie
einfach als irrational klassieren, aber ganz so einfach
darf man es sich aber wohl doch nicht machen.

Diese Disziplinen habe alle den Makel der nicht konsequenten
Anwendung naturwissenschaftlicher Methodik.
Aber ist das schon gleichzusetzen mit Irrationalen Denken?
Ich denke nicht.
Unwissenschaftlich ist nicht gleich Irrational.
Gruß Uwi

Hallo!

Unwissenschaftlich ist nicht gleich Irrational.

Damit hast Du wohl recht.

Ich sollte also präzisieren: Nicht die Disziplin Astrologie ist irrational, sondern ihre Ausübung trotz besseren Wissens.

Genauso die Homöopathie: Es handelt sich per se um den kausal-durchdachten Versuch, Krankheiten mit bestimmten Mitteln zu heilen. Die Idee, die dahinter steckt, ist zwar vielleicht falsch, aber deswegen nicht irrational. Irrational ist das, was ich damit mache: Ich weiß, dass Meditonsin-Tropfen mir nicht gegen einen Infekt helfen können. Und ich schlucke sie trotzdem. Warum? Ich kann das nicht erklären - es ist irrational.

Michael

Hallo,

Ich sollte also präzisieren: Nicht die Disziplin Astrologie
ist irrational, sondern ihre Ausübung trotz besseren Wissens.

Möglicherweise …

Und ich schlucke sie trotzdem. Warum? Ich kann das nicht
erklären - es ist irrational.

Naja, das Problem steht ja etwas anders.
Anhänger der Homöopathie habe ja ganz klar Erklärungsmodelle.
Sie akzeptieren nur nicht die „trivialen“ na-wi Erklärungen,
wie Autosuggestion und Plazeboeffekt.
Statt dessen wird eben die Lehre von der gespeicherten
Information im Wasser als relevant angenommen.
Wenn man gegen die NaWi aus diversen Gründen eine gewisse Antipathie hat, dann ist diese Haltung durchaus nachvollziehbar.
So stellt sich die Frage nach Irrationalität auch als Frage
des persönlichen Weltbildes und wird damit nicht einfacher.
Gruß Uwi

Ergänzung

Statt dessen wird eben die Lehre von der gespeicherten
Information im Wasser als relevant angenommen.

Dass Homöopathie trotz aller Diskussion um die Wirkung
trotzdem messbare Effekte hat, kann man ja nicht mal abstreiten.
Deshalb ist die Nutzung aus psychologischer Sicht durchaus
sinnvoll, zumindest aus Sicht des Therapeuten.

Die strittige Frage ist ja nur die klinische Wirkung.
Gruß Uwi

Hallo!

Unwissenschaftlich ist nicht gleich Irrational.

Ja, sicher.
Irrational ist aber, wenn man behauptet das Unwissenschaftlichkeit rational ist:smile:
Rational ist das was das Ratio selbstreflektierend erkennen kann.
Und wer behauptet was besseres zu haben soll das zeigen Punkt.
Nicht seinen Vorstellungsraum bzw. seinen Inhalt, das haben wir alle mit alles möglichen und unmöglichen Inhalten je nach dem was unser Ratio dort abgelegt hat zur weiteren Bearbeitung.

Danach wird aber geprüft.

Motto: die Prüfung des Puddings war und ist und bleibt das Essen.

Gruß Uwi

Balázs

Hallo,

Michael schreibt von verschiedenen „Achsen“, auf denen sich Spiritualität und Rationalität bewegen, du von verschiedenen Ebenen des Erfahrens und Umsetzens:

Nehmen wir nochmal die obige Vernunftdefinition…

Bisher habe ich zwei Ebenen angesprochen, die naturwissenschaftliche und die hermeneutische. Jetzt komme ich zur dritten Ebene, und das ist die spirituelle.

und ziehst Wilber heran:

Ich folge damit der Einteilung, die Ken Wilber in den 80ern in seinem Werk „Die drei Augen der Erkenntnis“ einführte.

Wobei er in „Eros, Kosmos, Logos“ (führe ich mir, so denn mir Zeit hierfür bleibt, zu Gemüte nach Abbruch des Lesens von „Integrale Spiritualität“, um erst einmal seine theoretischen Grundlagen und Konzepte näher kennen zu lernen) diese Unterscheidung nicht mehr vornimmt. Spiritualität/Bewusstsein betrachtet er nach meinem Verständnis hier als integrale, umschließende und übergeordnete Sphäre, als Ergebnis höherer evolutionärer Entwicklung/Fortschreitens. Er kommt den von dir erwähnten Substanzvorstellungen nah, legt aber Wert auf dynamische Betrachtung. Vermisse ich grundsätzlich ein wenig, dynamische Aspekte. Spiritualität wird häufig statisch, quasi als Eigenschaft dargestellt, welche grundsätzlich (und schädlich) verursachend für rationale/irrationale Entscheidungen ist.

Aus diesem Zusammenhang heraus stellt sich mir als Abgrenzungskriterium die Frage, ob Rationalität/Irrationalität, damit Vernunft/Unvernunft, lediglich die Art des Denkens und Handelns und Entscheidens darstellen. Spiritualität dagegen als „Motor“ die treibende Kraft, bewegende Substanz für beide ist. Dies würde Spiritualität eine eigenständige Qualität und Stellung verleihen.

Zur Vermeidung religiöser Nebendebatten, die nur verwässern würden, würde ich eine weltlich-humanistische Spiritualität im Sinne von Joachim Kahl als Grundlage voraussetzen.

Muss ich noch etwas dazu sagen: Meine Erfahrungen in der virtuellen und realen Welt besagen, dass Spiritualität überwiegend und undifferenziert mit Religion oder (New-age-)Esoterik gleichgesetzt wird. Ich möchte religiös-fundamentalistische Diskussionen vermeiden. Ein wenig gleitet die Diskussion hier auch ab (Homöopathie: Rational/irrational-wissenschaftlich/unwissenschaftlich?), andererseits richten diese Beiträge aufgrund der sachlichen Tonlage keinen Schaden an :smile:.

Bei der Schnelldurchsicht von Kahls Seite bin ich auf viele nette Floskeln gestoßen, aber auf keine substantielle Aussage, die etwas mit Spiritualität zu tun hätte.

In einem Vortrag „Westlich-humanistische Spiritualität — Seele des Atheismus“ grenzt er ab zu religiösem Spiritismus. Finde ich für meine Fragen sinnvoll.

Vielleicht kannst du genauer darlegen, was an Kahl so toll ist?

Ist daher nicht wichtig, ob (überhaupt) oder was an ihm grundsätzlich so toll ist.

nasziv

PS: Danke an alle für die bisherige Diskussion, sie ist für mich hilfreich. @ Claus: Tippselfehler im Betreff und anderswo, fehlende Worte etc. mit zunehmender Tendenz dem Alter geschuldet. Sorry.

Das MOTIV bleibt verborgen…

@ Claus: Tippselfehler im Betreff und
anderswo, fehlende Worte etc. mit zunehmender Tendenz dem
Alter geschuldet. Sorry.

Solange die Grundfrage nicht geklärt wird, wofür was gut sein soll, braucht man eigentlich nicht mehr zu diskutieren und könnte sich demnach alle weiteren Worte sparen. Die Klärung der Grundfrage ist den religiös Gläubigen seit Jahrtausenden gar nicht selbst bewusst und statt dessen projizieren sie die ihnen selbst verborgenen Bedürfnisse in ein „Jenseits“, mit lauter Wunschfantasien, an die man von vornherein GLAUBEN muss und die nach kritischer Reflexion UNWISSENHEIT sind.

Damit ist alles gesagt und eine ernsthafte Diskussion ist deshalb auch ausgeschlossen.

Noch zwei Anmerkungen dazu:

Erstens, ich mag den Begriff „Mystik“ deshalb nicht, weil er ursprünglich aus der religiösen Denktradition stammt. Deshalb wird auch Wilber zu Recht kritisiert oder von den führenden Gegenwartsphilosophen so weit ich sehe nicht in die internationalen philosophischen Debatten integriert.

Zweitens, ich mag auch den Begriff „Spiritualität“ nicht, weil er aus derselben religiösen Denktradition stammt, und spreche deshalb lieber von Introspektion als Abgrenzung im Sinne von William James, um nicht von vornherein eine ÜBERMENSCHLICHKEIT in den Himmel zu projizieren, als Wunsch nach Erlösung von menschlicher Machtlosigkeit dem Tod gegenüber, wobei das MOTIV den Projizierenden selbst verborgen bleibt.

CJW

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Unmessbarkeit des Symbolischen
Hi Balazs.

Kein Messgerät kann diese Ebene erfassen, hier versagt also die Naturwissenschaft

Stimmt lange nicht mehr, und man kann klar vorauszusehen, dass da noch dramatischere Durchbrüche sich abzeichnen. und doch wird niemand behaupten, dass keine Erkenntnis auf dieser Ebene möglich sei.

Ich hatte geschrieben:

… auf der hermeneutischen Ebene, also im Bereich der Interpretation von Symbolen. Kein Messgerät kann diese Ebene erfassen, hier versagt also die Naturwissenschaft.

Was ich meine, ist, dass Messgeräte das Symbolische nicht erfassen können. Wie auch? Messgeräte funktionieren analog, Symbole aber symbolisch (was sonst). Symbole sind also nicht messbar.

Aus Wiki „Messung“:

Eine Messung ist das Ausführen von geplanten Tätigkeiten zu einer quantitativen Aussage über eine Messgröße durch Vergleich mit einer Einheit.

Symbole haben keine quantitative Komponente, die gemessen werden könnte. Nehmen wir das Peace-Zeichen. Egal, ob es zwei Zentimeter oder zwanzig Meter Durchmesser hat: das Zeichen steht für den Begriff „Frieden“. Was soll daran messbar sein? Auch symbolische Handlungen wie z.B. sprachliche Kommunikation ist inhaltlich nicht messbar. Man kann die Zahl der Wörter oder ihre Lautstärke usw. messen, nicht aber ihre Bedeutung.

Du wirst deine obige Behauptung also schon etwas genauer begründen müssen, statt nur eine These zu präsentieren. Argumentieren heißt nämlich: BEGRÜNDEN, nicht nur behaupten.

Klar sogar den Magen wird eine Art unabhängiges bewusstes Denken zugeschrieben.

Mein Magen liest spätabends sogar Hegels „Phänomenologie des Geistes“, während ich mir die Pornoszenen von „Spartacus“ reinziehe:smile:

Chan

Alle Religionen in einen Topf?
Hi.

Für mich ist eine Behauptung „rational“, wenn derjenige, der sie äußert, durch den Einsatz seines Verstandes zu ihr gelangt ist, d. h. es handelt sich nicht einfach um ein „Bauchgefühl“ oder das unreflektierte Nachplappern eines Dogmas.

Was heißt „Einsatz des Verstandes“? Mein Einwand:

Verstandesleistungen beruhen auf Prämissen, die nicht beweisbar sind, sondern intuitiv als wahr vorausgesetzt werden. Zwei Menschen können über die gleiche Frage zu verschiedenen Behauptungen gelangen, obwohl beide ihren Verstand gleichwertig einsetzen. Beispiel: eine Debatte Kommunist versus Kapitalist. Jeder wird dem anderen implizit „Irrationalität“ vorwerfen, und doch nutzen beide, akademisches Niveau vorausgesetzt, ein großes Potential an Verstand.

Daher wären hier, um deine These plausibel zu machen, konkrete Beispiele nützlich.

Ist Astrologie irrational?

Sie ist zunächst einmal nicht plausibel, weil es kein tragfähiges Modell dafür gibt, dass die Sterne in irgendeiner Weise mit unserem Schicksal interagieren.

Ich will hier keine Debatte über Astrologie anleiern, aber es gibt gewiss einige astrologische „Modelle“, die für ihre Anhänger als tragfähig gelten. Du behauptest, die Astrologie sei irrational, und begründest das damit, dass die vorhandenen Modelle nicht tragfähig sind. Genau diese von dir behauptete Nichtragfähigkeit aber solltest du begründen, da sonst hier wieder nur eine trockene These steht ohne Gründe, die sie stützen. Rationalität bedeutet nämlich auch: Behauptungen BEGRÜNDEN (können).

Die Astrologie begründet die Interaktion Sterne / Menschen übrigens mit dem Prinzip „Wie oben, so unten“ (das Analogie-Prinzip).

Wenn nun jemand verstanden hat, dass die Astrologie nicht plausibel ist, und trotzdem an ihre Bedeutung glaubt, dann handelt er irrational.

Wenn - klar. Aber so ist es ja nicht. Die Anhänger sind von der Nichtplausibilität eben nicht überzeugt. Also handeln sie nicht „irrational“, wenn sie an die Astro glauben. Sie sitzen vielleicht einem wissenschaftlichen Irrtum auf, ja, aber das hat mit Irrationalität nichts zu tun (das hat bereits Uwi zu bedenken gegeben).

Um meine Definition von weiter oben aufzugreifen: Er entscheidet sich gegen die Aussage seines Verstandes und richtet sich nach seinem Bauchgefühl.

Dein Argument kann schon deswegen nicht überzeugen, weil du es offensichtlich auf Laien beziehst. Du musst aber die Astro-Profis ins Visier nehmen, wenn du die Rationalität von Astrologie beurteilst. Und die argumentieren ziemlich verstandesmäßig, wenngleich auf Prämissen gründend (z.B. das Analogie-Prinzip), die nicht in letzter Konsequenz beweisbar sind.

Wie unterscheidest du denn die Esoterik von den (großen) Religionen? Warum sind diese in deinen Augen nicht „spirituell-irrational“?

Ich habe nicht behauptet, dass sie es nicht seien. Ich habe lediglich für „spirituell-irrational“ zwei andere Beispiele gewählt.

Gebongt.

Tatsächlich halte ich es auch für irrational eine Religion der anderen vorzuziehen, denn derjenige der das tut, folgt einem Dogma, das sich nicht durch den Verstand begründen lässt.

Das mag bei den Glaubensreligionen, also den monotheistischen, zutreffen, da bin ich der letzte, der dir widersprechen würde. Aber wie steht es mit den atheistischen Bewusstseinsreligionen des Fernen Ostens?

Die andere Ebene aber, die eigene persönliche Auseinandersetzung mit dem Glauben, hat durchaus einen rationalen Teilaspekt, denn die Entscheidung: „Ich erlebe ‚Gott‘ so und so und lebe meinen Glauben deswegen auf diese oder jene Weise.“ hat durchaus mit Überlegungen zu tun.

Dieser Satz ist mir zu vage, da ich aus ihm alles und nichts herausdeuten kann. Du setzt „Gott“ in Anführungszeichen? Warum? Warum überhaupt dieses Wort, wenn du es im gleichen Atemzug relativierst? Gibt es keine Alternativen? Wie stehst du übrigens zu meiner improvisierten Definition von Spiritualität in meiner ersten Antwort? Ich sprach dort von Erfahrung des „Göttlichen“, nicht einfach nur von Glauben, der etwas Unspirituelles ist. Oben sprichst du aber im Zusammenhang mit deiner Haltung von „Glauben“, obwohl dieser Begriff kein ideales Aushängeschild einer betont rationalen Haltung ist, um die du dich zu bemühen scheinst. Und du sprichst von „Überlegungen“, die deine Religiosität von der kritisierten Bauchgefühl-Religiosität abheben. Nun, überlegen tun sicher auch viele Theologen, sie verwenden ganze Bücher darauf, und doch „glauben“ sie an die Dreifaltigkeit usw. Wie also hebst du dich von all dem ab?

Die Ablehnung aller Formen von Religiosität wird gerne als „rationale“ Alternative zum „irrationalen“ Glauben dargestellt.

Das sind die abendländischen Nachwehen einer historisch begründeten Paranoia vor Religiosität. Jede Religion wird von den Materialisten automatisch als gleich irrational wie das Christentum angesehen. Psychologisch ist das nachvollziehbar, es gleicht einem konditionierten Reflex als Reaktion auf ein Phänomen, das man mit autoritärer Gewalt assoziiert. Muss man diese materialistischen Reflexe über Gebühr ernstnehmen? Ich denke nicht.

Jedoch liegt es meiner Überzeugung nach nicht am Rationalismus sondern am Materialismus. Jemand der die Welt nur materialistisch sieht, der also alles geistige ausklammert, der gelangt nicht zum Glauben, egal ob er sich rational oder irrational verhält.

Mit dem Glaubensbegriff habe ich immer Probleme. Er harmoniert für meinen Geschmack so gar nicht mit dem Vernunftbegriff. Wie hebt sich der Glaube vom Bauchgefühl ab? Kannst du das mal erläutern? Vielleicht gibt es ja auch einen alternativen Begriff, der deine Haltung rüberbringt.

Derjenige, der jedoch akzeptiert, dass es auch eine geistige Wirklichkeit gibt, kann durch rationale Überlegungen ebenso zum Atheismus wie zur Religiosität gelangen.

Statt „akzeptiert“ würde ich „erkennt“ sagen. Den Rest des Satzes verstünde ich nur, wenn es hieße: „sowohl zum Atheismus als auch zur Religiosität gelangen“. Das wäre dann die Spiritualität, übrigens ein schöneres Wort als „Religiosität“, welches für meinen Geschmack zu sehr mit den monotheistischen Systemen verknüpft ist.

Wenn man sich einer speziellen Religion anschließt, dann ist diese Entscheidung irrational.

Das wird nicht jeder gerne lesen :smile: Jedenfalls stehst du hier unter Begründungsdruck. Einfach nur pauschal zu sagen: Jedes religiöse System ist irrational (genau das machst du implizit), das ist zu wenig.

Chan

Das Atman-Projekt
Hi Nasziv.

Bisher habe ich zwei Ebenen angesprochen, die naturwissenschaftliche und die hermeneutische. Jetzt komme ich zur dritten Ebene, und das ist die spirituelle.

und ziehst Wilber heran:

Ich folge damit der Einteilung, die Ken Wilber in den 80ern in seinem Werk „Die drei Augen der Erkenntnis“ einführte.

Wobei er in „Eros, Kosmos, Logos“ (…) diese Unterscheidung nicht mehr vornimmt.

Der Sache nach schon, nur dass sie in diesem Werk in sein neues Quadrantensystem eingebaut ist. Ab S. 160 geht er auf die diversen Erkenntnisbereiche an und unterscheidet die beiden rechten Quadranten (die Bereiche des äußerlichen Erkennens) von den beiden linken (die Bereiche des inneren Erkennens, d.h. der Interpretation). Die hermeneutische Ebene aus den „Drei Augen“ entspricht hier dem Wir-Quadranten, die technisch-analytische Ebene aus den „Drei Augen“ ist ein Teil des oberen rechten Quadranten.

Spiritualität/Bewusstsein betrachtet er nach meinem Verständnis hier als integrale, umschließende und übergeordnete Sphäre, als Ergebnis höherer evolutionärer Entwicklung/Fortschreitens.

Das tut er seit seinem Buch „Atman-Projekt“ von 1980, in dem er jede menschliche Motivation auf das unbewusste Streben des Subjekts nach der Einheit von Atman-Brahman zurückführt. Höherentwicklung (vertikale Dynamik) nennt er dort Transformation im Unterschied zur Translation, die eine horizontale Dynamik bedeutet.

Er kommt den von dir erwähnten Substanzvorstellungen nah, legt aber Wert auf dynamische Betrachtung.

Der spirituelle Substanzbegriff ist kein stofflicher. Er besagt einfach, dass etwas allem Einzelnen zugrundeliegt. Er wird per definitionem so verstanden, dass er sprachlich nicht ausdrückbar ist. Gröbere Erscheinungsformen dieser „Substanz“ in Wilbers System sind z.B. die Ebenen des Subtilen (Feinstofflichen) und Kausalen, welche er der vedantischen Lehre entlehnt. Die höchste, tiefste und umfassendste Ebene (sozusagen) nennt er das Nonduale. Natürlich ist auch dieser Begriff dualistisch, da er das Duale verneint. Am geeignetsten halte ich persönlich den mahayanistischen Begriff der Shunyata, den er der Sache nach, wenn auch nicht explizit, im Kapitel über das Nonduale (ab S. 378) ausführt.

Vermisse ich grundsätzlich ein wenig, dynamische Aspekte.

In diesem Thread? Alles der Reihe nach :smile: Erst gilt es die Basics abzuklären. Es gibt nicht einmal einen Konsens über die Begriffe des Rationalen und Irrationalen. Vermutlich ist das auch unmöglich.

Spiritualität wird häufig statisch, quasi als Eigenschaft dargestellt, welche grundsätzlich (und schädlich) verursachend für rationale/irrationale Entscheidungen ist.

Keine Ahnung, wen du meinst, aber man muss nicht jedes Gerede ernst nehmen.

Aus diesem Zusammenhang heraus stellt sich mir als Abgrenzungskriterium die Frage, ob Rationalität/Irrationalität, damit Vernunft/Unvernunft, lediglich die Art des Denkens und Handelns und Entscheidens darstellen. Spiritualität dagegen als „Motor“ die treibende Kraft, bewegende Substanz für beide ist. Dies würde Spiritualität eine eigenständige Qualität und Stellung verleihen.

Dieser Ansatz entspricht, wenn ich ihn recht verstehe, der Theorie Wilbers im „Atman-Projekt“, verwendet aber einen ungeeigneten Basisbegriff („Spiritualität“). Letztere nämlich ist eine sehr bewusste Haltung, während das, was du vermutlich meinst, ein weitgehend unbewusste Dynamik hat. Soll heißen, das gewöhnliche Subjekt sehnt sich unbewusst nach der „Erleuchtung“ bzw. Einheit seines „Ich“ mit dem Urgrund (Brahman usw.), lebt diese Sehnsucht aber nur an Ersatzobjekten aus (pseudospirituelle, also mythologisierende Religiosität, Geld, Sex usw.). Das nennt Wilber Translation, das Umherirren auf einer niederen Ebene. Nur einige wenige sind zur Transformation fähig, also zu einer konstruktiven Bewusstseinsdynamik. Nur hier kann man von Spiritualität sprechen.

Muss ich noch etwas dazu sagen: Meine Erfahrungen in der virtuellen und realen Welt besagen, dass Spiritualität überwiegend und undifferenziert mit Religion oder (New-age-)Esoterik gleichgesetzt wird. Ich möchte religiös-fundamentalistische Diskussionen vermeiden.

Es ist absolut nicht klar, was du mit „religiös-fundamentalistisch“ meinst. Die Haltung fanatischer Bibel-Hardliner? Einen zähnefletschenden Islamismus? Vermutlich meinst du eher „dogmatisch“. Aber auch das ist nur ein Schlagwort, mit dem man Andersdenkende schlechtredet. Denn stets ist der Andersdenkende dogmatisch, man selbst aber ein Freidenker :smile:

Bei der Schnelldurchsicht von Kahls Seite bin ich auf viele nette Floskeln gestoßen, aber auf keine substantielle Aussage, die etwas mit Spiritualität zu tun hätte.

In einem Vortrag „Westlich-humanistische Spiritualität — Seele des Atheismus“ grenzt er ab zu religiösem Spiritismus. Finde ich für meine Fragen sinnvoll.

Hier ist der Text:

http://www.kahl-marburg.privat.t-online.de/kahlau_at…

Ich persönlich finde solche Formeln wie „Liebe zur Welt“ nicht übermäßig hilfreich. Was ist damit gesagt? Keine Ahnung :smile: Kahl erläutert sie als die „Liebe zu Mensch und Tier, Treue zur Erde und ein planetarisches, ja kosmisches Zusammengehörigkeitsgefühl“. Ich halte die drei Kernbegriffe Liebe, Treue und Zusammengehörigkeitsgefühl für absolut nichtssagend, sorry. Das sind schöne Floskeln fürs Gästebuch bei Tante Gerda, aber keine philosophisch-ethisch sinnvollen Kategorien.

Wenn du willst, können wir das ausdiskutieren, aber es gehört vermutlich nicht zum Thema des UP.

Chan

Hi Ch´an

Kein Messgerät kann diese Ebene erfassen, hier versagt also die Naturwissenschaft

Stimmt lange nicht mehr, und man kann klar vorauszusehen, dass da noch dramatischere Durchbrüche sich abzeichnen.

Ich hatte geschrieben:

… auf der hermeneutischen Ebene, also im Bereich der Interpretation von Symbolen.

Habe verstanden (hoffe ich:smile:.

Kein Messgerät kann diese Ebene erfassen, hier versagt also die :Naturwissenschaft.

Was ich meine, ist, dass Messgeräte das Symbolische nicht
erfassen können.

Ja und ist mir bewusst:smile: und daher voll einverstanden.

Wie auch? Messgeräte funktionieren analog,

Wider ja. Und?
Unsere Kategorien aber offensichtlich nicht, die funken klar nach der zweiwertigen Logik (warum das so ist ist ja gut ermittelt:smile:. Es ist eine ganz andere Frage ob sie geeignet ist die „Realität“ voll zu erfassen.
Das zu untersuchen ist aber auf dieser Ebene die notwendige Aufgabe.
Was dazu zu erst getan werden muss ist eine nüchterne Inventar an vorhandenen Werk bzw. Denkzeugen zu machen.

Wie sollte das gehen ohne Experimentieren und prüfen?

Symbole aber symbolisch (was sonst). Symbole sind also nicht
messbar.

Ja, aber erklärbar.

Aus Wiki „Messung“:

Eine Messung ist das Ausführen von geplanten Tätigkeiten zu
einer quantitativen Aussage über eine Messgröße durch
Vergleich mit einer Einheit.

Und? Messung hier ist als ein mesokosmischer Begriff definiert (nach Brauchbarkeit in diesem gut begrenzten Rahmen)
Muss der deshalb außerhalb Gültigkeit haben?
Damit hat man sich ja seit eh und je auseinandergesetzt (das Gültigkeitsproblem)

Symbole haben keine quantitative Komponente, die gemessen
werden könnte.

Ja, wir interpretieren sie und was noch bedenklicher ist wir bilden sie selbst.

Nehmen wir das Peace-Zeichen. Egal, ob es zwei
Zentimeter oder zwanzig Meter Durchmesser hat: das Zeichen
steht für den Begriff „Frieden“. Was soll daran messbar sein?

Richtig, daran nichts, gar nichts, stimmt aber nur auf weiteres:smile:
Aber, dass wie wir dieses Symbol geschaffen haben das können wir ermitteln (messen:smile:
Und wenn uns das (wie auch immer)möglich ist warum sollen wir darauf verzichten? Was soll uns hindern? Dabei auf unangenehme Erkenntnisse zu stoßen? Das wäre ja Reli pur:smile:)))

Auch symbolische Handlungen wie z.B. sprachliche Kommunikation
ist inhaltlich nicht messbar.

Stimmt so kategorisch nicht. Und wenn das aber wirklich so wäre was sollte das uns über die „Wahrheit“ sagen?

Man kann die Zahl der Wörter
oder ihre Lautstärke usw. messen, nicht aber ihre Bedeutung.

Ja. Was ist aber dabei das Problem? Immerhin sind sie die einzige was wir zu intersubjektive Kommunikation zur Zeit zur Verfügung haben.
Bei Bedarf landet man da unweigerlich in die Definitionstheorie:smile:
Na und? Die Frage ist nur, dann ob wir das auch mit der erforderlichen/notwendigen Präzision können:smile:))))

Du wirst deine obige Behauptung also schon etwas genauer
begründen müssen, statt nur eine These zu präsentieren.

Gut, das versuche ich so weit mir das möglich ist.

Argumentieren heißt nämlich: BEGRÜNDEN, nicht nur behaupten.

Richtig. Und vernünftig Argumentieren heißt zusammenhängend und willkürfrei:smile:))

Und eine These stellt sich offen für alle denkbare Kritik.
Die ist lange nicht eine Behauptung!

Klar sogar den Magen wird eine Art unabhängiges bewusstes Denken zugeschrieben.

Mein Magen liest spätabends sogar Hegels „Phänomenologie des
Geistes“, während ich mir die Pornoszenen von „Spartacus“
reinziehe:smile:

Na ja, wer weist das heute so genau? Ob das dein (mein) Magen tut oder was noch nicht erforschtes, tja???.
Also unsere Devise soll heißen (nach Che:smile: vamos Mutchatchos:smile:

Chan

Balázs

Hallo!

Für mich ist eine Behauptung „rational“, wenn derjenige, der sie äußert, durch den Einsatz seines Verstandes zu ihr gelangt ist, d. h. es handelt sich nicht einfach um ein „Bauchgefühl“ oder das unreflektierte Nachplappern eines Dogmas.

Was heißt „Einsatz des Verstandes“? Mein Einwand:

Verstandesleistungen beruhen auf Prämissen, die nicht
beweisbar sind, sondern intuitiv als wahr vorausgesetzt
werden. Zwei Menschen können über die gleiche Frage zu
verschiedenen Behauptungen gelangen, obwohl beide ihren
Verstand gleichwertig einsetzen. Beispiel: eine Debatte
Kommunist versus Kapitalist. Jeder wird dem anderen implizit
„Irrationalität“ vorwerfen, und doch nutzen beide,
akademisches Niveau vorausgesetzt, ein großes Potential an
Verstand.

… und handeln demnach meiner Definition folgend rational. Es ist schwierig das auseinander zu dröseln, da jede Überzeugung zwei Ebenen hat: Die intuitive (= irrationale) und die begründbare (= rationale).

Ist Astrologie irrational?

Sie ist zunächst einmal nicht plausibel, weil es kein tragfähiges Modell dafür gibt, dass die Sterne in irgendeiner Weise mit unserem Schicksal interagieren.

Ich will hier keine Debatte über Astrologie anleiern, aber es
gibt gewiss einige astrologische „Modelle“, die für ihre
Anhänger als tragfähig gelten.

Da möchte ich auf meine Antwort an Uwi verweisen. Er hat mich davon überzeugt, dass die Astrologie an sich nicht irrational ist. Ich präzisierte, dass das Glauben an Astrologie wider besseren Wissens irrational ist. (Das Beispiel Astrologie ohne nähere Erläuterung war also ungeschickt gewählt).

Tatsächlich halte ich es auch für irrational eine Religion der anderen vorzuziehen, denn derjenige der das tut, folgt einem Dogma, das sich nicht durch den Verstand begründen lässt.

Das mag bei den Glaubensreligionen, also den monotheistischen,
zutreffen, da bin ich der letzte, der dir widersprechen würde.
Aber wie steht es mit den atheistischen Bewusstseinsreligionen
des Fernen Ostens?

Mit denen kenne ich mich zu wenig aus. Es ist möglich, dass das, was ich über Dogmen gesagt habe, nur für die monotheistischen Religionen gilt. Und auch da gibt es Abstufungen. Der Katholizismus kennt mehr Dogmen als der Protestantismus.

Die andere Ebene aber, die eigene persönliche Auseinandersetzung mit dem Glauben, hat durchaus einen rationalen Teilaspekt, denn die Entscheidung: „Ich erlebe ‚Gott‘ so und so und lebe meinen Glauben deswegen auf diese oder jene Weise.“ hat durchaus mit Überlegungen zu tun.

Dieser Satz ist mir zu vage, da ich aus ihm alles und nichts
herausdeuten kann. Du setzt „Gott“ in Anführungszeichen?
Warum?

Weil ich damit nicht den Gott der Bibel meinte, sondern das Wort „Gott“ als eine Metapher für die metaphysische Entität, an die jemand glaubt, verwendete.

Und du
sprichst von „Überlegungen“, die deine Religiosität von der
kritisierten Bauchgefühl-Religiosität abheben. Nun, überlegen
tun sicher auch viele Theologen, sie verwenden ganze Bücher
darauf, und doch „glauben“ sie an die Dreifaltigkeit usw. Wie
also hebst du dich von all dem ab?

Ich will mich überhaupt nicht abheben und ich sprach auch nicht über meinen eigenen Glauben oder Unglauben, sondern darüber, dass Religiosität immer mehrere Aspekte beinhaltet - ähnlich, wie ich es weiter oben bei Deinem Kapitalismus/Kommunismus schon beschrieben habe, nur noch mit wesentlich mehr Ebenen.

Wenn man sich einer speziellen Religion anschließt, dann ist diese Entscheidung irrational.

Das wird nicht jeder gerne lesen :smile: Jedenfalls stehst du hier
unter Begründungsdruck. Einfach nur pauschal zu sagen: Jedes
religiöse System ist irrational (genau das machst du
implizit), das ist zu wenig.

Mir wird immer klarer, dass ich die Begriffe rational und irrational gar nicht auf bestimmte Systeme anwenden kann, sondern nur auf das Verhalten einer Person. Wenn nun jemand sich zum christlichen Glauben (statt zum jüdischen) Glauben bekennt, dann ist diese Entscheidung irrational, weil er sie mit den Mitteln des Verstandes nicht begründen kann. Wenn er sich nun im Begriffsschema einer Religion bewegt, dann kann er darin sehr wohl rational handeln. „Wie ist das Gleichnis vom verlorenen Sohn zu verstehen?“ ist eine sehr rationale Fragestellung.

Aus Zeitgründen habe ich einige Deiner zahlreichen Fragen übergangen. Wenn Dir die eine oder andere besonders wichtig war, hak einfach noch einmal nach.

Michael