Vernunft und Spiritualität
Hi.
mich beschäftigen Abgrenzungs-, Zuordnungs- oder
möglicherweise nur Definitionsprobleme.
Die erstgenannen Probleme hängen zunächst mal am dritten, dem Definitionsproblem.
Unter Rationalität wird meist eine Art „vernunftgeleitetes
Denken und Handeln“ (Bsp. aus Wiki-Definition) verstanden.
Daraus folgt bereits, dass es eigentlich um den Vernunftbegriff geht. Ich denke, als Ausgangsbasis tut´s die Vernunftdefinition von Wiki:
Der Begriff Vernunft bezeichnet in seiner modernen Verwendung die Fähigkeit des menschlichen Denkens, aus den im Verstand durch Beobachtung und Erfahrung erfassten Sachverhalten universelle Zusammenhänge in der Welt durch Schlussfolgerung herzustellen, deren Bedeutung zu erkennen, Regeln und Prinzipien aufzustellen und danach zu handeln
Damit wird ein Rahmen abgesteckt, der überhaupt nicht - ich wiederhole: überhaupt nicht - in irgendeinem Gegensatz zur Spiritualität steht bzw. eine solche grundsätzlich ausschließt.
Oder wäre S. dann dem Gegenüber „Irrationalität“ zuzuordnen?
Nur für oberflächliche Naturalisten bzw. Materialisten ist das so. Die nämlich kennzeichnen alles, was sie nicht kennen oder verstehen, als irrational.
Oder ist S. komplementär und Vernunft die Summe aus
Ratio-Verstand und Spiritualität (und Irrationalität)?
„Komplementär“ ist der deutlich sinnvollere Ansatz, aber immer noch unrund.
Welche Ansätze/Gedanken verfolgt oder bevorzugt ihr hierzu?
Nehmen wir nochmal die obige Vernunftdefinition. Hier heißt es:
Der Begriff Vernunft bezeichnet (…) die Fähigkeit des menschlichen Denkens, aus den im Verstand durch Beobachtung und Erfahrung erfassten Sachverhalten universelle Zusammenhänge in der Welt durch Schlussfolgerung herzustellen
Das Material, aus dem die Vernunft ihre Schlüsse zieht, ergibt sich also aus der „Beobachtung“ und der „Erfahrung“. Das bedeutet nicht automatisch und zwingend, dass es nur um naturwissenschaftliche Erfahrung geht. Denn der Mensch kann auch auf anderen Ebenen wahrnehmen und beobachten. Im Alltag ist das z.B. die psychologische Ebene. Hier kann der Mensch Verhaltensweisen und -muster anderer Menschen beobachten und studieren. Die aber liegen auf der hermeneutischen Ebene, also im Bereich der Interpretation von Symbolen. Kein Messgerät kann diese Ebene erfassen, hier versagt also die Naturwissenschaft, und doch wird niemand behaupten, dass keine Erkenntnis auf dieser Ebene möglich sei. Im Bereich des menschlichen Unbewussten liegen die Dinge noch deutlich unexakter, aber auch dafür gibt es eine Wissenschaft, die Psychoanalyse, über deren Wissenschaftlichkeit und damit Vernünftigkeit es einen hinreichenden, wenngleich nicht vollständigen Konsens gibt.
Bisher habe ich zwei Ebenen angesprochen, die naturwissenschaftliche und die hermeneutische. Jetzt komme ich zur dritten Ebene, und das ist die spirituelle.
Ich folge damit der Einteilung, die Ken Wilber in den 80ern in seinem Werk „Die drei Augen der Erkenntnis“ einführte. Als vorläufige Definition der S. schlage ich vor: Die S. geht davon aus, dass der Welt eine „geistige“ Substanz zugrundeliegt, die die Quelle aller Erscheinungen ist. Mit Substanz ist hier einfach das gemeint, auf das alles Einzelne in letzter Konsequenz reduzierbar ist. Als geistig wird diese Substanz in der S. deshalb betrachtet, weil sie lebendig ist, und das sogar im höchsten Maße. Das unterscheidet diesen Substanzvorstellung von den mehr materialistisch ausgerichteten. Spinoza hatte z.B. einen solchen Substanzbegriff, den er mit „Gott“ gleichsetzte, allerdings nicht mit einem personalen Gott. Die Spiritualität geht nämlich davon aus, dass es einen solchen Gott - der als Person ja von der Welt unterschieden werden müsste - nicht gibt. Vielmehr ist die „göttliche“ Substanz im panentheistischen Sinne (zu unterscheiden vom Pantheismus) auch die Substanz des materiellen Kosmos.
All das mal vorausgesetzt, ergibt sich für den Zusammenhang von Vernunft und Spiritualität folgendes:
Spirituelle Erfahrung bedeutet die Erfahrung der Welt als Geistiges. Wenn also Vernunft
die Fähigkeit des menschlichen Denkens (ist), aus den im Verstand durch Beobachtung und Erfahrung erfassten Sachverhalten universelle Zusammenhänge in der Welt durch Schlussfolgerung herzustellen,
dann kann sie sehr wohl auch auf den spirituellen Erfahrungsbereich angewendet werden. Was die spirituellen Religionen ja auch tun. Sie schließen z.B. aus spirituellen Zusammenhängen auf moralisch erforderliche Regeln (praktische Vernunft).
Ein Gegensatz kann hier nur von Leuten konstruiert werden, die der S. grundsätzlich skeptisch oder sogar feindlich gegenüberstehen. Es gibt dafür im www zahlreiche Beispiele, sie werden sich in diesem Thread wahrscheinlich auch noch zu Wort melden (hallo, Balazs und Jugador!).
Skeptiker argumentieren gerne damit, dass S. nicht beweisbar und deshalb „irrational“ sei. Ich habe auf solche Argumente schon zigmal geantwortet und werde nicht müde, es immer wieder zu tun. An dieser Stelle soll genügen, dass eine Million Dinge nicht objektiv (also für andere) beweisbar sind, und doch ist man von ihrer Realität überzeugt.
Natürlich kann man Skeptiker nicht mit Worten überzeugen. Das Spirituelle wird nämlich nur von denen erkannt, die dazu begabt und fähig sind. Das ist nun mal so. Der eine kann´s, der andere nicht. C´est la vie. Ich weiß dafür nicht, wie man eine Million macht. Andere zaubern sowas aus dem Hut. Die Begabungen sind eben unterschiedlich verteilt.
Welche wesentlichen Ansätze finden sich in der Philosophie?
Am überzeugendsten ist der Ansatz von Ken Wilber (sorry, Ralf). Denn der stellt seine Theorie in den größtmöglichen Rahmen, der auch die modernen westlichen Wissenschaften umfasst.
Zur Vermeidung religiöser Nebendebatten, die nur verwässern würden,
Womit du den Rahmen einer Debatte bereits einzuschränken versuchst. Wenn du schon ein Thema exponierst, dann solltest du nicht im vornherein evtl. dir missliebige Theorien schlechtreden. Das ist sehr unwissenschaftlich und auch nicht gerade weise.
würde ich eine weltlich-humanistische Spiritualität im Sinne von Joachim Kahl als Grundlage voraussetzen.
Bei der Schnelldurchsicht von Kahls Seite
http://www.philosophia-online.de/mafo/heft2001-03/ka…
bin ich auf viele nette Floskeln gestoßen, aber auf keine substantielle Aussage, die etwas mit Spiritualität zu tun hätte. Vielleicht kannst du genauer darlegen, was an Kahl so toll ist?
Chan