Staatsakt vs Lügenpresse

Momentan ist in allen Medien vom Staatsakt zu Ehren des verstorbenen Richard von Weizsäcker die Rede. Unwillkürlich musste ich da an die letzten Wochen denken, als u.a. Pegida lauthals „Lügenpresse“ skandierte. „Lügenpresse“, so war da dann in derselben zu lesen, sei ein Begriff der Nazis, der, auch von Goebbels benutzt, dazu verwendet wurde, die freie Presse der Weimarer Republik zu diffamieren. Somit habe Pegida nunmehr ihr wahres, nazistisches Gesicht gezeigt. Aha. Nur wenige Blätter waren da journalistisch tiefer gegangen und wiesen darauf hin, das der Begriff Mitte des 19.Jh erstmals belegt sei und in der darauffolgenden Zeit von den unterschiedlichsten Personen und politischen Strömungen verwendet wurde, wie neben den Nazis auch von der DDR sowie den 68ern.

Warum erzähle ich euch all das? Der Begriff „Staatsakt“ ist eine 100%ige Wortschöpfung der Nazis und niemand stört sich offenbar an seinem Gebrauch. Victor Klemperer beschreibt in seinem Buch „LTI“ das Entsetzen, das ihn ergriff, als er in der Zeitung vom „Staatsakt zu Ehren der Rathenau-Beseitiger“ las.
Niemand käme auf die irre Idee, Richard v. Weizsäcker in die Nähe der Mörderbande der Organisation „Consul“ zu bringen, welche den damaligen Reichsaussenminister ermordete, nur weil ihm eine Zeremonie zuteil wird, die den gleichen Namen trägt.

Ich störe mich kaum an der Verwendung von Begriffen, die im 3.Reich ihren Ursprung haben oder dort besonders populär waren. Die wenigsten sind derartig belastet wie „Endlösung“ und verlangen dadurch einen überlegten Gebrauch. Viele sind unverfänglich, wie etwa „Dachorganisation“ oder erreichen wie bei „gleichschalten“ trotz leichter Anrüchigkeit eine hohe sprachliche Präzision.
Ich störe mich daran, das mit zweierlei Mass gemessen wird, das es in der öffentlichen Bewertung einen Unterschied gibt, ob Helmut Schmidt das Wort „entartet“ benutzt, oder Bernd Lucke. Ich störe mich an Medien, die bei „Lügenpresse“ hysterisch reagieren, „Staatsakt“ aber unbekümmert verwenden.

Unabhängig davon, ob es überhaupt sinnvoll ist oder nicht, wird man NS-affine Vokabeln ohnehin nicht aus dem allgemeinen Sprachschatz entfernen können, alleine schon deshalb, weil man es bei vielen nicht weiss. Bei „ausmerzen“ könnte man ja noch darauf kommen, aber wer weiss schon, das sich hinter „ummodeln“ Generalfeldmarschall Walter Model verbirgt, der ein Talent für provisorische Lösungen hatte, die dann meist auch noch funktionierten.

Gruss Goetz

Hallo Goetz,

die Häufigkeit der Erwähnung in gebundenen Büchern zeigt zwischen 1920 und 1940 eine ganz gleichmäßige (und vor 1920 stärkere) Steigung: https://books.google.com/ngrams/graph?content=Staats…

Schöne Grüße

MM

Interessant, danke! In Klemperers „LTI“ kam es mir so vor, als sei der Begriff damals neu aufgekommen, da Klemperer sich noch näher mit ihm beschäftigte.

Gruss Goetz

Hallo Goetz,

meine Ausgabe ist grad irgendwo auf Urlaub, steht jedenfalls nicht dort, wo sie sollte. Man müsste nachlesen, was genau Klemperer an der Verwendung des Wortes in diesem Zusammenhang anspricht. „Getäuscht“ hat er sich als sehr fleißiger, ja detailversessener Philologe sicher nicht.

  • Dass die bloße Verwendung eines despektierlichen Begriffs für die „Printmedien“ keinen „Nazi“ ausmacht, ist ziemlich offensichtlich, aber das gehört woanders hin.

Schöne Grüße

MM