Hallo Norbert,
zum besseren Verständnis müssen wir uns auf einige Voraussetzungen einigen.
Jeder Mensch hat im Kopf ein „Bild“ von dieser Welt und folglich auch von dem Unternehmen, in dem er tätig ist. Dieses „Bild“ (ich bleibe jetzt bei Unternehmen) ist nie vollständig. Das liegt u. a. daran, dass selten vollständige Informationen über irgendwelche Sachverhalte vorliegen, unsere Wahrnehmungsfähigkeit begrenzt ist und zudem noch das Gehirn (unbewusst) entscheidet, was uns bewusst wird und was nicht. Mit anderen Worten: unser „Bild“ im Kopf vom Unternehmen ist immer unvollständig, daher meist auch falsch, aber dennoch in der Regel gut brauchbar.
OK soweit?
Eine weitere Voraussetzung ist, dass ein Unternehmen nicht nur aus den offiziellen Strukturen besteht (Organigramme, dokumentierte Verfahren usw.). Neben dieser formalen Organisation gibt es auch die informelle. Dazu können wir die Unternehmenskultur, Normen, Werte und Leitbilder zählen. Diese Dinge sind den Mitarbeitenden zum Teil gar nicht bewusst. Nur ein neuer Mitarbeiter wundert sich manchmal, über „merkwürdige“ Regularien, Spielregeln und „Stammesbräuche“. Nach ca. sieben Monaten hat er diese auch „intus“ (wenn nicht, dann probt er vielleicht einen Aufstand oder verlässt das Unternehmen). Dieses Phänomen ist auch als „Betriebsblindheit“ oder „Tunnelblick“ bekannt.
OK soweit?
Weitere Annahmen: Wir stellen uns ein Unternehmen vor, in dem es irgendwelche Konflikte gibt: Projekte werden nicht rechtzeitig abgeschlossen, Kunden beklagen die Qualität der Dienstleistungen usw.
Die Geschäftsführung (GF) dieses Unternehmen beauftragt nun einen Berater (ich bleibe bei der männlichen Ausprägung, es könnte selbstverständlich auch eine Beraterin sein). Diesem schildert die GF das zu lösende Problem.
Nun, was ich oben über die unvollständigen Bilder im Kopf geschrieben habe, gilt auch für die GF und den Berater. Das ist keine gute Voraussetzung, um ein komplexes Problem zu lösen.
Jetzt zu Deiner Frage:
Ein erfahrener Berater weiß das alles. Er weiß auch, dass die GF auch ein Teil des Problems sein kann.
Im weiteren Verlauf wird der Berater die Mitarbeitenden entlang der Linie befragen, um die Ursachen des Konflikts zu ermitteln. Wenn er dabei einen vorbereiteten Fragebogen verwenden würde, dann würde er das mögliche Problemfeld einengen auf Dinge, die vorher in seinem Kopf waren. Die von ihm formulierten Fragen entsprächen dann dem, was er als „Bild“ im Kopf hat (angereichert durch das, was er von der GF erfahren hat). Das ist zwar manchem Berater nicht unangenehm, weil er bestimmt schon eine Lösung dafür auf Lager hat, die er dann verkaufen kann. Für das Unternehmen bringt das meist nicht viel.
Hier setzt nun „Storytelling“ als Erhebungs- und Analyseverfahren auf der Basis von Erzählungen an. Voraussetzung: strikte Anonymität. Der Berater bittet die Mitarbeitenden in Einzelgesprächen, die Geschichten zu erzählen, die sie im Unternehmen erlebt haben. Aus den vielen Einzelgeschichten und deren innere Logik entsteht dann ein neues „Bild“ vom Unternehmen. Es wird eine Menge Wissen über das Unternehmen transportiert. Es kommen Dinge zur Sprache, über die sonst wenig oder gar nicht gesprochen wird: heimliche Spielregeln, Tabus usw.
Nun kommt die Analysephase: Das ist ein aufwendiger, mehrphasiger Prozess mit Präsentation der Ergebnisse, den ich hier im Detail nicht schildern kann. Wir müssen davon ausgehen, dass der Berater über ein fundiertes Wissen, beispielsweise über Semantik und Unternehmenskulturern, verfügt, um Schlussfolgerungen ziehen zu können aus Aussagen, die für andere wie Banalitäten klingen mögen. Damit ist es dann möglich, bessere Anknüpfungspunkte für nachhaltige Problemlösungen zu finden.
Soweit zu meinem unvollständigen „Bild“ von der Sache. Storytelling wird auch noch zu anderen Zwecken eingesetzt (zum Beispiel im Marketing und zur Vorbereitung von Zukunftsprojekten), aber davon kann ich aufgrund fehlender Erfahrung mit gutem Gewissen nichts berichten. Ich hoffe dennoch, dass das Grundanliegen und das Prinzip von Storytelling deutlich geworden sind.
Gruß,
Uli