TCAS und RA

Hallo zusammen,

zu dem Zusammenstoß am Bodensee zunächst ein paar Fakten (soweit bisher bekannt) und Grundannahmen meinerseits.

a) Beide Crews erhielten vor dem Zusammenstoß von ihrem TCAS (Traffic Alert and Collision Avoidance System) eine TA (Traffic Advisory = Verkehrsmeldung/-warnung), d.h. jede der Crews wusste von der anderen Maschine incl. Position, Kurs und Höhe.

b) Beide Crews erhielten vor dem Zusammenstoß von ihrem TCAS eine RA (Resolution Advisory = Ausweichanweisung). Für die Boing lautete diese „Descent“, für die Tupolev „Climb“.

c) Das TCAS löst Konfliktsituationen (derzeit noch) ausschließlich durch vertikale Separierung auf, also durch Anweisungen zum Steigen oder Sinken, jedoch nicht durch Anweisungen zur Änderung des Steuerkurses. Die beiden TCAS der beteiligten Maschinen stellen sicher, dass nicht beide Maschinen die gleiche RA erhalten, sondern immer eine ein „Descent“, die andere ein „Climb“.

d) Beide Crews mussten damit rechnen, dass in der jeweils anderen Maschine ebenfalls ein TCAS aktiv ist, das ebenfalls eine RA geben würde. Diese musste gemäß c) entgegengesetzt der eigenen RA lauten.

Daraus folgt, dass eine der RA genau entgegengesetzte Reaktion die eigene Maschine mehr oder weniger genau in den Flugweg der anderen Maschine hineinführt, zumindest dann, wenn der Zeitpunkt des Manöverbeginns und die Steig- oder Sinkrate identisch sind. Dies ist IMHO auch der Grund dafür, dass RAs des TCAS gemäß internationaler Regelung Priorität gegenüber Anweisungen des Lotsen haben. Wenn man mit der Funktionsweise des TCAS vertraut ist, müssen einem diese Zusammenhänge gegenwärtig sein.

Wenn also die Piloten der Tupolev eine RA „Climb! Climb!“ erhielten und sich statt dessen an die Anweisungen der ATC hielten und sanken, musste ihnen doch eigentlich klar sein, dass dies mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Kollision oder zumindest zu einem Near Miss (Fastzusammenstoß) führen würde.

Meine Frage an die Fachleute: Ist diese Gedankenkette korrekt oder übersehe ich etwas Entscheidendes?

Ein Problem, das ich durchaus sehe: Die Piloten hatten extrem wenig Zeit, sich zwischen den Anweisungen von TCAS und ATC zu entscheiden. Dieser Konflikt war (meine Vermutung) wohl auch der Grund dafür, dass sie auf die erste Anweisung der ATC („descend flight level 350, expedite, I have crossing traffic“) nicht reagiert haben. Erst bei der zweiten Aufforderung („descent level 350, expedite descent“) haben sie bestätigt und den Sinkflug eingeleitet.

Wie heute in der Zeitung steht, sind russische Piloten lt. Aussage eines russischen Sprechers daran gewöhnt, „sich an die Anweisungen von Behörden zu halten“. Fatal in diesem Fall …

Grüße
Sebastian

Hallo Sebastian,

a) Beide Crews erhielten vor dem Zusammenstoß von ihrem TCAS
(Traffic Alert and Collision Avoidance System) eine TA
(Traffic Advisory = Verkehrsmeldung/-warnung),

das ist korrekt, laut den Daten der beiden Cockpit Voice Recorder.

d.h. jede der Crews wusste von der anderen Maschine incl.
Position, Kurs und Höhe.

Das ist möglich, aber nicht zwingend richtig. TCAS kann auch aktiv sein, ohne daß die anderen Flugzeug im Cockpit graphisch dargestellt werden. Weiterhin kann TCAS nur die Entfernung eines anderen Flugzeuges genau messen, hat aber gelegentlich mit der Richtung Schwierigkeiten (bauartbedingt). Auch wird die Position nicht graphisch angezeigt. In beiden Fällen kann es trotzdem Warnungen (TA und RA) geben.
Wenn in beiden Maschine die graphischen Anzeigen des TCAS aktiv waren und beobachtet wurden, dann sind auf alle Fälle Höhe und relative Position bekannt. Der Kurs der Flieger geht nicht in die Berechnungen von TCAS ein.

b) Beide Crews erhielten vor dem Zusammenstoß von ihrem TCAS
eine RA (Resolution Advisory = Ausweichanweisung). Für die
Boing lautete diese „Descent“, für die Tupolev „Climb“.

Korrekt.

c) Das TCAS löst Konfliktsituationen (derzeit noch)
ausschließlich durch vertikale Separierung auf, also durch
Anweisungen zum Steigen oder Sinken, jedoch nicht durch
Anweisungen zur Änderung des Steuerkurses. Die beiden TCAS der
beteiligten Maschinen stellen sicher, dass nicht beide
Maschinen die gleiche RA erhalten, sondern immer eine ein
„Descent“, die andere ein „Climb“.

Richtig.

d) Beide Crews mussten damit rechnen, dass in der jeweils
anderen Maschine ebenfalls ein TCAS aktiv ist, das ebenfalls
eine RA geben würde. Diese musste gemäß c) entgegengesetzt der
eigenen RA lauten.

Nein, diese Schlußfolgerung ist nicht richtig. TCAS kann auch dann RAs aussprechen, wenn in der anderen Maschine kein TCAS eingebaut ist, das TCAS defekt ist oder der Transponder in der anderen Maschine im Modus „TA only“ betrieben wird, der das Auslösen von RAs unterdrückt.
Wenn es in beiden Maschine einen RA gibt, dann ist er koordiniert. Wenn es nur in einer Maschine einen RA gibt, dann ist er nicht koordiniert. Piloten haben keine Möglichkeit festzustellen, welcher Fall zutrifft.

Daraus folgt, dass eine der RA genau entgegengesetzte Reaktion
die eigene Maschine mehr oder weniger genau in den Flugweg der
anderen Maschine hineinführt,

Nicht unbedingt… TCAS RA warnt ja nicht NUR vor einer Kollision, sondern auch schon bei einer deutlichen Unterschreitung der Sicherheitsabstände.
Natürlich wird es extrem knapp (bis hin zur Kollision), wenn man die TCAS RA genau entgegengesetzt befolgt.

Dies ist IMHO auch der Grund dafür, dass RAs des TCAS gemäß
internationaler Regelung Priorität gegenüber Anweisungen des
Lotsen haben.

Das ist die Frage… gibt es wirklich eine internationale, verpflichtende Regelung? WENN die Aussage der russischen Behörden authentisch sind (darauf würde ich im Moment nicht vertrauen), dann ist das zu bezweifeln. Der Untersuchungsbereicht muß sich dieses Themas annehmen und ggf. entsprechende Empfehlungen aussprechen.

Wenn man mit der Funktionsweise des TCAS vertraut ist, müssen
einem diese Zusammenhänge gegenwärtig sein.

Richtig… sollten ist vielleicht das besser Wort. :-/

Ein Problem, das ich durchaus sehe: Die Piloten hatten extrem
wenig Zeit, sich zwischen den Anweisungen von TCAS und ATC zu
entscheiden. Dieser Konflikt war (meine Vermutung) wohl auch
der Grund dafür, dass sie auf die erste Anweisung der ATC
(„descend flight level 350, expedite, I have crossing
traffic“) nicht reagiert haben.

Gut möglich… sicher auch eine gute Frage, warum der Pilot so reagiert hat…

Markus

Hallo Markus,

erstmal vielen Dank für Deine ausführliche Antwort.

Wenn in beiden Maschine die graphischen Anzeigen des TCAS
aktiv waren und beobachtet wurden, dann sind auf alle Fälle
Höhe und relative Position bekannt. Der Kurs der Flieger geht
nicht in die Berechnungen von TCAS ein.

Ach so, dazu müsste man dann die „gegnerische“ Maschine über einen längeren Zeitraum auf der TCAS-Anzeige beobachten, um daraus auf den Kurs zu schließen, und die Zeit hatte man sicher nicht.

Natürlich wird es extrem knapp (bis hin zur Kollision), wenn
man die TCAS RA genau entgegengesetzt befolgt.

Zumindest dann, wenn die andere Crew auch eine RA erhalten hat. Wenn nicht, dann fliegen die auf gleicher Höhe weiter, dann wäre es egal, wohin man ausweicht, Hauptsache weg aus der aktuellen Höhe. Aber man muss wohl immer zumindest damit rechnen, dass beide Crews koordinierte RAs erhalten haben und darf deshalb auf keinen Fall entgegengesetzt reagieren.

Was man mal wieder gut erkennen kann: Es müssen eigentlich immer mehrere Probleme in unglücklicher Konstellation zusammenkommen, damit so etwas passiert, aus einem Grund allein stürzt kaum ein Flugzeug ab.

Grüße
Sebastian

Hallo,

im Wesentlichen stimmen Deine Beschreibungen und Schlußfolgerungen im ersten Posting und Markus hat dazu eine excellente Antwort verfaßt.

In einem Punkt allerdings liegst Du falsch: Es gibt keine internationale Vorschrift die besagt, daß eine TCAS-Advisory Vorrang vor ATC-Anweisungen hat.
Das ist lediglich (und zu Recht) eine sog. „Company rule“, also eine betriebsinterne Verfahrenanweisung seitens mancher Airlines an ihre Piloten.
Nichtsdestotrotz widerspricht es - klare Anweisung dazu hin oder her - natürlich dem gesunden Menschenverstand einer TCAS-Advisory nicht zu folgen, denn erstens ist die Wahrscheinlichkeit eines Systemfehlers extrem klein und zweitens deutet ein „Anspringen“ des TCAS darauf hin daß dem Lotsen bereits ein Staffelungsfehler unterlaufen sein muß. Beides führt zu dem Schluß daß man einer TCAS-Advisory IN JEDEM FALL folgen sollte.
Daß der Tupolew-Pilot trotzdem der ATC-Anweisung den Vorrang gegeben hatte könnte - vielleicht - in der Tat mit anerzogenem Gehorsam gegenüber behördlicher Authorität erklärt werden.

Noch ein Wort zu der bereits von Markus erwähnten Möglichkeit das TCAS lediglich im „Warnmodus“, aber ohne die Möglichkeit, eine RA zu bekommen, zu betreiben: das macht z. B. bei Engine failures oder anderen techn. Problemen Sinn, denn das TCAS würde in einem solchen Fall nicht wissen daß die eigene Maschine eine eventuelle Climb-Anweisung nicht im notwendigen Umfang umsetzen kann. Deswegen schaltet man es in der Praxis in einer solchen Situation in den „TA only“-Modus.

Gruß,

MecFleih

Vielen Dank für die Antworten! (owT)
… hier steht wirklich nix!