Faszinosum Tiefe
Hi Avera,
du sprichst einen interessanten Unterschied in der Erlebnisform von „Tiefe“ an. Ja, in den Schilderungen von Angst in der Konfrontation mit Tiefe kommen beide - geradezu polaren - Empfindungen vor. Bei einem mehr diese, beim anderen mehr jene. Daß Tiefe „anzieht“ scheint mir die Grundstruktur dieses Gefühls zu sein. Auch von erfahrenen Bergsteigern wird das berichtet.
Tiefe ist ein „faszinosum“. Bereits Purkinje (Medizinische Jahrbücher, Wien 1820 ) beschreibt es als „Anziehungskraft der Tiefe“ und im Empedokles singt Hölderlin: „Und du in schauderndem Verlangen wirfst dich hinab, in des Aetna Flammen!“.
Aber wie überall gesellt sich zum Faszinosum der Schrecken (das Tremendum). In der Religionswissenschaft und -philosophie wird daher ja auch die Begriffs-Dyade „Faszinosum-Tremendum“ als Grundbegriff aller religiösen Erscheinungen angesehen. Das Faszinierende ist faszinierend, WEIl es schrecklich ist und das Schreckliche ist schrecklich, WEIL es faszinierend ist. Beides nimmt dem sicheren, festen Stand den Boden unter den Füßen weg.
„Der Blick in den Abgrund läßt den Blick schon im Abgrund und damit schon auf dem Weg in die Tiefe sein“ [zitiert nach H. Scheller: Das Problem des Raumes in der Psychopathologie. Stud. Gen. 10, 1957].
Dann kommt es darauf an, wie dieses „Gefühl“ sekundär verarbeitet wird, denn davon hängt ab, ob mehr der Charakter des Anziehenden oder der des Schreckens für die Haltung gegenüber der Tiefe zur Geltung kommt. Der eine fühlt sich in seiner Entscheidungsfähigkeit, der Anziehung nachzugeben oder nicht, irritiert - und ist ggf. davon wiederum irritiert. Dem anderen steht mehr die tödliche Konsequenz dieser Anziehung vor Augen und flieht daher vor dem Schrecken.
Bei genauerem betrachten dessen, was jemandem durch den Kopf geht, wenn er dem Anblick von Tiefe ausgesetzt ist, zeigt sich eine große Mannigfaltigkeit im Detail dieser Erlebnisse. Ob sie psychopathologisch relevant sind, ist dann eine andere Frage. Der Ausdruck „Höhenangst“, Akrophobie, ist eigentlich dem Erlebten nicht genau angepaßt. „Höhenschwindel“ schon eher. Aber eigentlich ist es Angst vor der Tiefe, denn diese ist das Objekt. Aber die Bezeichnung ist eh nicht so relevant.
Gruß
Metapher