Die Story ist eine vampireske Coverversion von Thomas Manns Novelle ´Der Tod in Venedig´.
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Aus den Ermittlungsakten der Kriminalpolizei von Venedig
im Fall Jacques-Henri Goncourt, im Alter von 48 Jahren
am 10. März 2015 in Venedig verstorben
und verdächtig der schweren Körperverletzung in mindestens drei Fällen:
(Es folgt der Wortlaut des handschriftlichen Abschiedsbriefs des Verdächtigen, datiert vom 10.03.2015 und graphologisch als echt bestätigt)
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Mein Name ist Jacques-Henri Goncourt, ich bin Kunstmaler mit der höchsten Auszeichnung der Académie Francaise, und ich tue gerade das, wozu mich ein unergründliches Schicksal verdammt hat:
Ich schlage meine Zähne in den Hals einer jungen Frau.
Wer vermag zu beschreiben, welche Visionen mich erfüllen, wann immer ich dies tue?
Niemand.
Denn es ist unmöglich.
Nehmt die größten Dichter der Weltliteratur, sperrt Ovid, Dante, Shakespeare, Milton und Goethe in eine Kammer, gebt ihnen Tinte und Papier und befehlt ihnen bei Strafe der Folter und des Todes, das von mir Geschaute in Worte zu fassen - sie würden versagen.
Auch ich, Goncourt, der berühmte Maler des Phantastischen, der mit Salvador Dalí und Ernst Fuchs in einem Atemzug genannt wird, bin nur ein elender Stümper, wenn es gilt, meinen Visionen eine materielle Gestalt zu verleihen. Und doch verzaubern diese Bilder die Menschen in einem Maße, dass ich mit Geld und Ehre überhäuft werde.
Ich bin ein Versager, und niemand, außer mir, weiß es.
Ich bin, was noch schlimmer ist, ein zur Vision Verdammter.
Ich trinke und trinke die rote Ewigkeit und schaue das Unsagbare.
Doch während ich dies tue, erschlafft die junge Frau in meinen Armen.
Ich muss aufhören. Sofort. Sie darf nicht sterben. Ich ziehe meine Zähne heraus und lege die Frau behutsam auf das Sofa. Marina heißt die Kleine - eine Prostituierte aus dem Westen Venedigs, die ich in einer jener Bars ansprach, wo Touristen die schnelle Lust suchen. Die Bissstellen an ihrem Hals sind deutlich erkennbar, aber es fließt kaum noch Blut. Ich sammle meinen Speichel im Mund und lecke ein paar Mal über die Wunde. Kein Mensch weiß, dass Vampirspeichel eine hochgradig heilende Wirkung hat. In spätestens drei Stunden wird die Haut völlig regeneriert sein. Mindestens so lange dauert auch die Ohnmacht, in die Marina gefallen ist. Wenn sie aufwacht, wird sie sich kaum noch an mich erinnern können und mit Sicherheit nicht an den Biss.
Ich lege ihr das Zehnfache von dem Betrag auf den Tisch, den wir für einen normalen Service vereinbart hatten. Auf den Service habe ich verzichtet, nicht aber auf den Biss, den ich unbedingt brauchte.
Seit fünf Wochen bin ich in Venedig.
Marina war die dritte, an der ich mich sättigte.
An solche Probleme bin ich gewöhnt.
Ich habe sie im Griff.
Aber es gibt ein ganz anderes Problem.
Und das habe ich nicht im Griff.
Es heißt:
Alessandro.
Ich verlasse das Haus, in dem Marina wohnt, und eile durch die gewundenen Gassen von Venedig. Mein falsches Schnauzbärtchen landet in einem Gully. Die Sonnenbrille stecke ich zurück ins Etuie und die Seidenhandschuhe in meine Jackentasche. Immer noch steht mir das Geschaute vor Augen, doch es verblasst mit jedem Schritt, den ich in Richtung meines Hotels zurücklege. Sei´s drum - was mich dort erwartet, ist wichtiger.
Genauer gesagt, w e r mich dort erwartet.
Alessandro.
Er steht Modell für mein neuestes Gemälde. Ich nenne es ´Das Grab des Phöbos´. Das klingt düster, ich weiß. Und paradox. Kann ein Lichtgott sterben? Ich fürchte, ja.
Ich erreiche mein Hotel noch rechtzeitig, also vor dem Eintreffen Alessandros. Es gehört nicht zu den Topabsteigen wie jene in Stein gehauenen Luxusdampfer auf dem Lido, aber die kenne ich zur Genüge, so wie man mich dort seit Jahren kennt. Hier, in einem Mittelklassehotel, bin ich von wohltuender Anonymität.
Ich habe die einzige Suite gemietet, eine Flucht von drei Zimmern, von denen mir eines als Atelier dient. Mit einer ungeduldigen Bewegung ziehe ich das Tuch von dem Bild auf der Staffelei. Ich atme tief durch.
Ein Goncourt, der alles übertrifft, was ich je schuf.
Und warum?
Es ist nicht der visionäre Hintergrund, in dem sich, wenngleich unsäglich ausgedünnt, meine Visionen widerspiegeln, nein.
Es ist die Vordergrundgestalt, die Figur des Gottes Phöbos, erstehend aus dem Licht und in tiefste Finsternis stürzend. Genauer: es ist die Gestalt Alessandros, die jenen Gott verkörpert auf eine Weise, als wäre er dafür geboren. Fast ist das Bild vollendet. Es fehlt noch der letzte Schliff in der Gestaltung der Augenpartie. Ein Gott im Angesicht seines Todes - wie mag er blicken?
Heute gilt es, diese Aufgabe zu meistern.
Um die Kraft dafür zu haben, hatte ich Marina beißen müssen.
Ich lege die Utensilien zurecht.
Dabei nagt der Tod an meiner Seele.
Bei jeder Bewegung habe ich das Gefühl, ich machte sie zum letzten Mal. Vor fünf Wochen hätte ich über diesen Gedanken gelacht. Ich, Jacques-Henri Goncourt, unter anderem Namen geboren am 3. August 1311 in Paris, mit einer Lebenserwartung von mehr als tausend Jahren - warum sollte ich mit siebenhundert Jahren sterben?
Ich lege mir auch ein paar Papierbögen und einen Füllhalter zurecht, um einen Brief zu verfassen.
Dann klopft es drei Mal und wieder drei Mal.
Das vereinbarte Zeichen.
Ich öffne mit hämmerndem Herzen die Tür.
Alessandro tritt ein.
Er ist achtzehn und von schlankem, aber kräftigem Wuchs. Seine schwarzen Locken umrahmen ein Antlitz von einer Anmut, als habe Phidias sein größtes Werk nicht in Stein, sondern in Fleisch erschaffen und ihm den Namen ´Alessandro´ gegeben. Dass dieser moderne Gott mit Jeans und Lederjacke und Kopfhörern erscheint, verhindert nicht, dass das Licht des Olymp in meiner nach Terpentin duftenden Hotelsuite in hellstem Glanze erstrahlt. Während er lässig nickend an mir vorbeigeht, kämpfe ich gegen die Schwäche an, die meine Glieder erfasst. Was mich schwächt, ist mein Kampf gegen die Wollust, die mich umfängt, wenn ich an Alessandro auch nur denke. Seine physische Nähe aber ist der Overkill für meine Souveränität. Um sie wiederzuerlangen, gibt es nur zwei Mittel:
Erstens, ihn zu malen.
Dann bin ich frei.
Aber nur, solange mein Pinsel über die Leinwand gleitet.
Oder, zweitens, in seinem Blut zu schwelgen.
Was ich noch nie tat.
Denn das wäre gleichbedeutend damit, Alessandro in einen Vampir zu verwandeln. Und dagegen sträubt sich jede Faser meines Seins.
Frauen bleiben Menschen, wenn ein Vampir sie beißt. Warum, das kann sich keiner unter den Vampiren erklären. Einer sagte mal, im Scherz natürlich, dass sie andere Mittel haben, einen Mann auszusaugen. Wird aber ein Mann gebissen, dann verwandelt er sich in einen Vampir. Unwiderruflich. Mit allen Vor- und Nachteilen dieser Transformation.
Das will ich Alessandro nicht antun. Ich selbst wurde als Zwanzigjähriger von einem Priester gebissen. Das war 1331. Würde ich Alessandro beißen, dann lebte er noch bis in das 4. Jahrtausend hinein. Aber in welche Risiken würde ich ihn stürzen - das Aufrechterhalten falscher Identitäten durch die Jahrhunderte, die Bisse, zwei oder drei Mal im Monat, an wehrlosen Frauen und vielleicht auch Männern, die er bräuchte, um zu überleben, die ständige Gefahr, erwischt zu werden und vielleicht für Jahrhunderte in Gefängnissen zu sitzen oder als Objekt für die Wissenschaft zu dienen…
Unmöglich.
Es gibt eine Grenze.
Hier muss ich sie ziehen.
Unmöglich ist aber auch, dass ich sie ziehe, ohne einen Preis dafür zu zahlen.
Denn ich bin süchtig nach Alessandro, seit ich ihn vor vier Wochen kennenlernte. Meine Seele ist auf ihn ausgerichtet wie eine Kompassnadel auf den magnetischen Pol.
Ich brauche sein Blut.
Ich muss ihn beißen.
Ich muss.
Ich darf es aber nicht.
Das geht mir durch den Kopf, während Alessandro sich in Pose setzt. Heute braucht er sich nicht auszuziehen, da es nur noch um die Augenpartie geht. Alles in mir ist dankbar dafür. Denn das macht es mir leichter.
Und es gelingt. Jeder Strich sitzt, als hätte Leonardo mir aus dem Jenseits die Hand geführt. Ich bin glücklich. Mein Lebenswerk hat einen Höhepunkt erreicht - das ´Grab des Phöbos´ ist vollendet. Meinem Galeristen habe ich gestern mitgeteilt, dass er es morgen abholen kann. Er wird extra dafür aus Paris einfliegen.
Alessandro wirft einen Blick auf das Bild, als ich es signiere, und lächelt zufrieden. Auch wenn er nicht zur Gänze erkennt, um was für ein Meisterwerk es sich handelt, so fühlt er doch, dass er an etwas Großem Anteil genommen hat. Ich drücke ihm eine Menge Geld in die Hand, viel mehr als vereinbart. Er dankt mir wortreich und bietet mir an, ihn morgen auf ein Schwätzchen in dem Café zu treffen, wo wir uns kennengelernt haben. Ich sage zu. Er setzt seine Kopfhörer auf und verlässt meine Suite.
Sofort mache ich mich an das Verfassen des Briefes.
Dann gehe ich ins Badezimmer.
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Anmerkung der Kriminalpolizei:
Signore Goncourt wurde am Morgen des 11. März 2012 vom Hotelpersonal tot im Badezimmer
seiner Suite aufgefunden. Laut Gerichtsmediziner hat er sich mit einer Überdosis
Schlaftabletten das Leben genommen.
Aufgrund der Angaben im Abschiedsbrief wurde Signorina Marina Gallesco von der Polizei
gefunden und vernommen. Sie kann sich nur schwach an den Kunden erinnern und
weist keinerlei Spuren eines Bisses auf. Die medizinische Untersuchung wird
aber fortgesetzt, da mögliche Neben- und Nachwirkungen nicht auszuschließen
sind. Die Suche nach den im Brief genannten zwei weiteren Opfern ist im Gange.
Nach Signore Alessandro, Nachname unbekannt, wird zum Zwecke einer Vernehmung noch
gesucht.
Das Gemälde ´Das Grab des Phöbos´ wurde an den Pariser Galeristen Gabriel Bucard
ausgehändigt, der sein Eigentumsrecht durch eine vertragliche Todesfallklausel
nachweisen konnte.