Totalität ist kein 'Ganzes' im positiven Sinn?

Hallo,

Ich recherchiere gerade für eine Hausarbeit zur kritischen Theorie der Frankfurter Schule in einem Soziologie-Seminar zu den normativen Grundlagen der Soziologie. Ein genaues Thema habe ich noch nicht, da ich zuerst die Theorie vollständig verstehen möchte. Hab daran gedacht, evtl. den Kritischen Rationalismus aus Sicht der Kritischen Theorie zu kritisieren, aber mal gucken…

Nun zu meiner genaueren Frage: Bei meiner Recherche bin ich auf folgenden Satz gestoßen, den ich nicht genau verstehe, obwohl ich das Gefühl habe, dass er ziemlich wichtig ist:

„Totalität ist kein „Ganzes“ im positiven Sinn, sondern die dialektische Beziehung des Seienden zu dem, was es nicht ist. Darin liegt die Möglichkeit der Kritik.“

Anscheinend wird Adornos Begriff der Totalität hier genauer erläutert, der dem des Systems aus dem „Positivismus“ recht ähnlich zu sein scheint, aber sich nach Habermas ja ganz eindeutig von diesem unterscheidet.

Könnte mir vielleicht jemand diesen Zusammenhang einmal näher erläutern?

Zudem wäre ich dankbar, wenn mir jemand erklären könnte, was die „Negative Dialektik“ Adornos eigentlich konkret ist.

Vielen Dank im Voraus für alle, die sich hiermit beschäftigen möchten :smile:

Freundliche Grüße,
Veh

Hallo!

Deine Frage würde eigentlich eine extrem umfangreiche Antwort erfordern, weil du damit ins Innerste der Kritischen Theorie zielst.

Ich recherchiere gerade für eine Hausarbeit zur kritischen
Theorie der Frankfurter Schule in einem Soziologie-Seminar zu
den normativen Grundlagen der Soziologie. Ein genaues Thema
habe ich noch nicht, da ich zuerst die Theorie vollständig
verstehen möchte. Hab daran gedacht, evtl. den Kritischen
Rationalismus aus Sicht der Kritischen Theorie zu kritisieren,
aber mal gucken…

hier wäre ein recht umfangreiches und hilfreiches Buch zu diesem Vorhaben.
http://www.amazon.de/Positivismusstreit-Auseinanders…

Oder auch der ganz frühe Habermas selbst natürlich:
http://www.amazon.de/Zur-Logik-Sozialwissenschaften-…

Nun zu meiner genaueren Frage: Bei meiner Recherche bin ich
auf folgenden Satz gestoßen, den ich nicht genau verstehe,
obwohl ich das Gefühl habe, dass er ziemlich wichtig ist:

„Totalität ist kein „Ganzes“ im positiven Sinn, sondern die
dialektische Beziehung des Seienden zu dem, was es nicht ist.
Darin liegt die Möglichkeit der Kritik.“

In der Tat ist der wichtig.

„Positive Dialektik“ (Hegel) funktioniert grob gesagt so:

These -> Antithese -> Synthese=These² -> Antithese² -> … Synthese.

Irgendwann (das ist von vorne herein schon in der inneren Dynamik dieses dialektischen Prozesses enthalten; vgl. die Einführung zu Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘, wo er das einigermaßen verständlich zeigt; oder poste hier im Philosophiebrett, wo es ein paar Hegel-Experten gibt) kommt dann eine Synthese, die keine Antithese mehr notwendig hervorbringt, weil sie das „Ganze“ des Prozesses ist und damit keinen Widerspruch mehr beinhaltet, der den Prozess weitertreiben würde.
Bei Hegel ist dann der Zustand des absoluten Wissens erreicht, auf dem keine Philosophie mehr betrieben werden muss, sondern durchaus eine Art positivistischer Wissenschaft.

„Negativer Dialektik“ (Adorno) dagegen geht es, grob gesagt, nicht um eine alles abschließende Synthese (‚das Ganze‘), sondern um die Dynamik ‚These -> Antithese‘, also darum, dass jede These notwendig ihre Antithese hervorbringt, weil sie in ihr schon als Widerspruch enthalten ist.

Es sollte aus dieser etwas oberflächlichen Skizzierung der beiden Typen von Dialektik klar geworden sein, dass erstere eher affirmativ ist (Das ist so!) und zweitere eher kritisch (Das ist nicht so!), weil die erste ihren Akzent auf die (finale) Synthese setzt, zweitere auf die (unaufhörliche) Antithese.

Darum:
Hegel: „Das Ganze ist das Wahre.“ (es kommt keine Antithese mehr dazu)
Adorno: „Das Ganze ist das Unwahre.“ (es fehlt ihm die Antithese, und somit ist das ‚Ganze‘ gerade das ‚Unganze‘ oder das ‚falsche Ganze‘).

Anscheinend wird Adornos Begriff der Totalität hier genauer
erläutert, der dem des Systems aus dem „Positivismus“ recht
ähnlich zu sein scheint, aber sich nach Habermas ja ganz
eindeutig von diesem unterscheidet.

Der Kritische Rationalismus kennt weder Dialektik noch Totalität.
Entsprechend lehnt er Positive wie Negative Dialektik gleichermaßen ab.
Ich weiß also nicht, was dir da ähnlich erscheint. Dass der Kritische Rationalismus mit seinem Falsifikationsprinzip ebenfalls den Akzent auf das Negative legt?
(wobei Popper bereits den Begriff des „Negativen“ ablehnen würde).
Oder dass beide den Begriff „Kritik“ im Namen haben? M.E. in zwei völlig unterschiedlichen Bedeutungen.

Noch eine persönliche Meinung zu deinem Vorhaben:
In der Tat hat ein Vergleich der Kritischen Theorie mit dem Kritischen Rationalismus in der Soziologie aus fachhistorischen Gründen einen gewissen Sinn. Mehr Sinn finde ich dafür allerdings nicht. Ich halte es für einen Akt reiner Soziologiegeschichte, denn dieser Gegensatz wird so in der Soziologie nie wieder auftauchen.
Allerdings hat die Beschäftigung mit der Geschichte seines Fachs natürlich schon seine Wichtigkeit, keine Frage.

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Danke :smile: Ich habe beide Bücher besorgt und lese gerade fleißig. Ich denke ich habe die Kritische Theorie mittlerweile zu recht großen Teilen verstanden.

Es wäre allerdings hilfreich, wenn vielleicht jemand die Dialektik und die negative Dialektik mithilfe eines Beispiels erklären könnte.

„Es sollte aus dieser etwas oberflächlichen Skizzierung der beiden Typen von Dialektik klar geworden sein, dass erstere eher affirmativ ist (Das ist so!) und zweitere eher kritisch (Das ist nicht so!), weil die erste ihren Akzent auf die (finale) Synthese setzt, zweitere auf die (unaufhörliche) Antithese.“

Was meinst du hier mit dem „das ist so“ und dem „das ist nicht so“ in den Klammern?

„Totalität ist kein „Ganzes“ im positiven Sinn, sondern die
dialektische Beziehung des Seienden zu dem, was es nicht ist.
Darin liegt die Möglichkeit der Kritik.“

Den Satz selbst habe ich noch nicht ganz verstanden… Wird der Begriff der Totalität da mithilfe der negativen Dialektik erklärt, die du im letzten Beitrag erklärt hast?

Vielen Dank :smile:

Hallo!

Es wäre allerdings hilfreich, wenn vielleicht jemand die
Dialektik und die negative Dialektik mithilfe eines Beispiels
erklären könnte.

Na gut :wink:

Dialektik ist ja bekanntlich ein Dreischritt aus These, Antithese und Synthese. Um ein sehr triviales und künstliches Beispiel zu bringen:

I) Ich genüge mir selbst
II) Ich genüge mir nicht selbst, weil ich in Susi verliebt bin
III) In der Ehe mit Susi genüge ich mir nun wahrhaft selbst

im Selbstgenügen der Stufe I hat die Liebe zu einer anderen Person gefehlt, weshalb es zum Widerspruch zwischen I und II kommen musste, der dann in III aufgehoben wurde, weil ich mir nun inklusive der Liebe zu einer anderen Person voll genügen kann.

Ich denke, daraus wird verständlich, was dialektisches Denken grundsätzlich ist. Nun können beide, Positive wie Negative Dialektik, dieser Synthese III wieder eine Antithese IV gegenüberstellen und zu einer Synthese V gelangen:

III) In der Ehe mit Susi genüge ich mir nun wahrhaft selbst
IV) Ich genüge mir auch in der Ehe mit Susi nicht vollständig, weil ich von der Institution der Ehe abhängig bin
V) In der Ehe mit Susi und im deutschen Staat, der mir die Institution der Ehe sichert, genüge ich mir nun vollständig und wahrhaft

und so kanns dann weiter gehen.

Positive Dialektik zielt dabei auf ein ‚Ganzes‘, also auf eine ‚letzte‘ Synthese, die all die Widersprüche der einzelnen Dreischritte beinhaltet und selbst keinen Widerspruch mehr hervorbringt bzw. in sich trägt. Dies kann im obigen Beispiel etwa dann der Fall sein, wenn man voraussetzt, dass der Mensch im Staat sich selbst genügt, frei ist.

Negative Dialektik zielt dagegen eher darauf, in dieser ‚letzten‘ Synthese, also im Ganzen (des dialektischen Prozesses), das (durch das Vorausgesetze) Ausgeschlossene zu suchen, also quasi den (durch das Vorausgesetzte) unterdrückten Widerspruch, der dann so lauten könnte:

V) In der Ehe mit Susi und im deutschen Staat, der mir die Institution der Ehe sichert, genüge ich mir nun vollständig und wahrhaft
VI) Im Staat genüge ich mir nicht selbst, weil ich von ihm abhängig bin und damit unfrei

Hier gehts Negativer Dialektik nun nicht so sehr um eine mögliche Synthese VII, sondern um die Antithese bzw. Negation VI zu V, also um das Aufzeigen des vermeintlichen Ganzen V als falschem Ganzen bzw. als ein Ganzes, das eben auf Voraussetzungen beruht, die selbst nicht in die Dialektik eingeschlossen sind und daher die Bewegung der Dialektik bei V zum Stillstand bringen, indem sie die Antithese VI dadurch unterdrücken.

Im Grunde gehts Negativer Dialektik m.E. also um eine Kritik der Voraussetzungen, die es möglich machen, dass ein Ganzes gedacht werden kann, dass also irgendwann dem Dialektischen Prozess ein Ende gesetzt werden kann. Und es geht ihr daher um eine Wieder-Öffnung der dialektischen Bewegung.

„Es sollte aus dieser etwas oberflächlichen Skizzierung
der beiden Typen von Dialektik klar geworden sein, dass
erstere eher affirmativ ist (Das ist so!) und zweitere eher
kritisch (Das ist nicht so!), weil die erste ihren Akzent auf
die (finale) Synthese setzt, zweitere auf die (unaufhörliche)
Antithese.“

Was meinst du hier mit dem „das ist so“ und dem „das ist nicht
so“ in den Klammern?

sollte nur die Begriffe verdeutlichen:
Affirmation: ‚A ist p‘ bzw. ‚Das ist so‘
Negation: ‚A ist nicht p‘ bzw. ‚Das ist nicht so‘

„Totalität ist kein „Ganzes“ im positiven Sinn, sondern
die
dialektische Beziehung des Seienden zu dem, was es nicht ist.
Darin liegt die Möglichkeit der Kritik.“

Den Satz selbst habe ich noch nicht ganz verstanden… Wird
der Begriff der Totalität da mithilfe der negativen Dialektik
erklärt, die du im letzten Beitrag erklärt hast?

Ich tue mir immer schwer, philosophische Zitate ohne Kontext zu interpretieren.
Offensichtlich wird hier ja „Totalität“ als Beziehung eines X zu seinem Anderen, dem Non-X, definiert.
Also ganz im Sinne dessen, wie ich oben für die Negative Dialektik gezeigt habe, dass es ihr um das (negative) Verhältnis von V und VI geht, nicht wie der Positiven Dialektik um die Syntheses VII, die ein Ganzes ohne Beziehungs-Charakter wäre, also ohne inneren Widerspruch und ohne ein ‚Anderes‘.

Dieser Beziehungscharakter der Negativen Dialektik kreist bei Adorno letztlich um die Nicht-Identität von Begriff und Sache bzw. um die Zurückweisung der Voraussetzung der Identität von Begriff und Sache.
Das oben mit dem Staat und der Freiheit diente nur dem illustrativen Zweck, ein einigermaßen anschauliches Beispiel kohärent formulieren zu können.
Ich denke sowieso, man kann sich der Negativen Dialektik eigentlich auch gar nicht sinnvoll durch ein Beispiel nähern. Man muss sie sich abstrakt erarbeiten um sie korrekt erfassen zu können. Von daher bin ich mir gar nicht sicher, ob mein Beispiel nicht teilweise in die Irre führt, weil es diesen Aspekt der Nicht-Identität von Begriff und Sache ausblendet bzw. einfach auch gar nicht erfassen kann.

_ ℂ Λ ℕ Ð I Ð € _

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Vielen, vielen Dank für die ganze Mühe :smile: Dein Beispiel hat mir schon sehr geholfen. Hab seitdem auch noch etwas mehr gelesen und Informationen aus diversen Quellen und den Büchern, die du empfohlen hast, zusammengetragen. Ich glaube ich bin fast so weit, endlich loszulegen :wink: Wissenschaftstheoretisch-philosophische Hausarbeiten brauchen anscheinend erstmal ne Menge Vorarbeit, wenn man vorher noch nie was zu dem Thema gemacht hat.

Ich denke als Thema werde ich nun sowas wählen, wie:

„Der „Positivismusstreit“ in der deutschen Soziologie - Das Wertfreiheitsproblem aus Sicht des Kritischen Rationalismus und der Kritischen Theorie“

Ich würde zunächst den Kritischen Rationalismus als „Weiterentwicklung“ des Neopositivismus erklären und dann die Kritische Theorie anhand des Gesellschaftsbildes der Frankfurter Schule, aus dem ja sozusagen die „dialektische Einheit“ von Theorie und Praxis hervorgeht. Anschließend würde ich dann die Positionen beider Theorien zum Problem der Wertfreiheit in der Wissenschaft gegenüberstellen.

Oder wäre es eventuell besser, wenn ich direkt beide Theorien nebeneinander entwickle, also beispielsweise erst das Gesellschaftsbild beider Richtungen erläutere, dann den Erkenntnisprozess usw.? Meinem Dozenten ist nämlich ein „diskursiver Charakter“ des Hauptteils besonders wichtig…

Dankbare Grüße! :smile:

P.S.: Irgendwie war der Begriff „Positivismusstreit“ ziemlich dämlich gewählt, oder? Ich meine sowohl Popper und Albert, als auch Adorno und Habermas haben den ja schon in seinen Grundzügen abgelehnt…