Hallo Iris,
ganz sicher hilft ein intaktes soziales Netz dabei, mit mancherlei Unbill im Leben klarzukommen. Ein Problem dabei ist aber beispielsweise, dass Mitgefühl oft ein denkbar schlechter Berater ist. Suchtproblematiken und eine ganze Reihe anderer psychischer Erkrankungen zeigen die Tendenz, sich zu veschlimmern, wenn der Betroffene liebevolle Unterstützung erfährt.
Solange das soziale Umfeld stützt und hilft, besteht für den Betroffenen keine Notwendigkeit, etwas an seinem Leben zu verändern. Er kommt ja auch so zurecht. Zwar oft nicht gut, aber mit weniger Anstrengung, als ihn eine wirkliche Veränderung kosten würde.
Und ich meine, einen irgendwie gearteten Leidensdruck - sei er bei der Person oder bei mir im Umgang mit der Person kann man immer erkennen.
Das mag durchaus zutreffen. Allerdings nützt es in den meisten Fällen in keinster Weise, wenn ein Außenstehender den Leidensdruck erkennt. Solange der Betroffene ihn nicht selbst in einer Stärke erfährt, die ihn zum Handeln motiviert, hilft der aufmerksamste Beobachter nichts.
Aber um Probleme zu erkennen haben wir ja ein Mundwerk und die Fähigkeit zu sprechen und zu fragen
Was aber, wenn das Gegenüber nicht gewillt ist, zu antworten? Was, wenn es lieber weiter hungert/ säuft/ Tabletten nimmt/ sich schneidet/…?
Und selbst wenn er redet: Nach meiner Erfahrung ist es in den meisten Fällen so, dass die Betroffenen zwar durchaus eine gewisse Gesprächsbereitschaft zeigen, aber letzten Endes den Helfer nur benutzen. Oft nicht willentlich oder in böser Absicht, aber durchaus im Sinne ihrer Erkrankung. Sie erzählen oft wortreich ihr schlimmes Schicksal (ich meine das nicht ironisch, denn es ist tatsächlich häufig wirklich schlimm), beklagen die Kälte ihres Umfeldes, signalisieren, wie wichtig man ihnen ist und meinen das durchaus ernst - und machen genauso weiter wie bisher.
Ich gehe nämlich davon aus, dass viele Macken, Neurosen und was es da alles gibt daraus resultieren, dass die Menschen sich einsam, nicht ernst genommen fühlen und kein gutes, aufmerksames Umfeld haben.
Ein nicht zu unterschätzender Teil psychischer Störungen ist genetisch (mit-)bedingt und/ oder hat einen gestörten Hirnstoffwechsel aufzuweisen. Da braucht es unter anderem unbedingt medikamentöse Unterstützung, um eine Chance auf Besserung zu haben. Oft machen Medikamente eine Therapie erst möglich. Gerade mitfühlende Mitmenschen neigen sehr dazu, dem Betroffenen von Medikamenten abzuraten, weil sie eine rein affektive Abwehr dagegen haben. Das hat oft fatale Auswirkungen.
Denn ich ziehe daraus den Schluss, dass Psychotherapie heute das leisten soll, was früher noch ganz selbstverständlich das Umfeld geregelt hat.
Ich glaube, das ist Wunschdenken. Früher hat man über bestimmte Dinge niemals geredet. Das erweckt den Anschein, als habe es die nicht gegeben oder sie seien „auf natürlichem Weg“ gelöst worden. In Drittländern ist das nach wie vor zu beobachten. Das heißt aber bei weitem nicht, dass es dort keine psychischen Krankheiten/ Störungen gibt. Sie werden nur nicht untersucht und thematisiert.
Vielleicht liege ich auch falsch und es ist ein Segen, dass jeder heute die Möglichkeit hat, sich wirklich professionell beim Leben helfen zu lassen?
Ich würde das bejahen. Das heißt nicht, dass ich dir nicht grundsätzlich darin zustimmen würde, dass gegenseitige Aufmerksamkeit und Zuwendung von Nöten ist. Und es schließt ein, dass es natürlich auch Menschen gibt, die ihre Neurosen durch Therapie-Shopping pflegen und hegen. Nach meiner Erfahrung ist es für die meisten Menschen aber ein Segen, dass Psychotherapeuten nach und nach den Nimbus des „Irrenarztes“ verlieren und damit die Möglichkeit eröffnen, auch eine verletzte oder kranke Psyche heilen zu lassen.
Schöne Grüße,
Jule