Hallo,
ich bin zwar kein Türkeiexperte, aber…
ich auch nicht.
Ich verstehe die Haltung des türkischen Militärs so, dass es
sich als Hüter der Demokratie versteht und einschreitet, wenn
sie diese gefährdet sieht. Und genauso war es wohl auch von
Atatürk gedacht, als er gegen viel Widerstand eine westlich
orientierte Demokratie installierte.
Die Armee schreitet also ein, um die Demokratie aufrecht zu
erhalten, während die andere Seite die Demokratie in Frage
stellt.
An sich ist das eine vernünftige Einstellung des Militärs.
ich glaube, es ist komplexer:
Zum einen glaube ich nicht, dass es der Armee um „Demokratie“ an sich geht, sondern erstens um ihren Einfluss, und zweitens um den sogenannten „Kemalismus“
http://de.wikipedia.org/wiki/Kemalismus#Eliten_als_H…
vermutlich auch in dieser Reihenfolge.
Zum anderen ist Erdogans AKP allen Anschein nach diejenige Partei, die am klarsten pro-EU orientiert ist, und damit erstens bereits viele Schritt der Angleichung an EU-Standards vollzogen hat, zweitens sich die Eindämmung des Einfluss des Militärs auf die Fahnen geschrieben hat (schreiben musste), um die EU-Standards von „Demokratie“ erreichen zu können, was durch Militärinterventionen und in der Verfassung vorgesehene politische Funktionen des Militärs sicher nicht möglich ist.
Die Gretchenfrage im Falle Erdogans bzw. der AKP scheint wohl die, ob seine Demokratie-Bekenntnisse (gerade angesichts seiner radikalislamistischen Vergangenheit) nur strategischer Natur sind oder nicht; ich persönlich kann mir allerdings angesichts des erklärten Zieles, Teil der EU werden zu wollen, nicht so leicht vorstellen, die Demokratie zynisch-strategisch nur als Leiter für einen politischen Islamismus gebrauchen zu wollen, da gerade die EU-Mitgliedschaft eine solche „Schafspelz“-Strategie weitgehend zunichte machen würde.
Ähnliches hatten wir ja auch in Deutschland, als in der
Weimarer Republik mit Hilfe des Militärs der ein oder andere
Putsch niedergeschlagen wurde.
Diese Ähnlichkeit sehe ich überhaupt nicht.
Mich interessiert allerdings brennend, ob Atatürk für diesen
Fall verfassungsrechtlich vorgesorgt hat. Darf laut der
türkischen Verfassung das Militär vorübergehend die Macht
übernehmen(eine Art Notstandsartikel)?
Das Militär hat(te) -weit über den Notstand hinaus- in der Verfassung vorgesehene politische Befugnisse:
_"In politischer Hinsicht wiegt die Einschränkung der Rolle des Militärs besonders schwer, erfolgt damit doch ein Eingriff in ein Strukturelement türkischen Staatsverständnisses. Das Militär sieht sich traditionell nicht nur als Garant der äußeren Sicherheit, sondern gleichermaßen als Hüter der kemalistischen Grundsätze der Republik. Hierunter versteht die Militärführung vor allem die Einheit der türkischen Nation, ihres Volkes und Staatsgebietes sowie die laizistische Ordnung des Staates. In dieser Doppelfunktion wurde und wird das türkische Militär von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung und der politischen Öffentlichkeit akzeptiert.
Ihren politischen Einfluss übte die Militärführung vor allem über den Nationalen Sicherheitsrat (NSR) aus, der 1961 neu als verfassungsgebundenes Organ geschaffen wurde. Er spielte vor allem in den neunziger Jahren eine zunehmend wichtige Rolle, als sich die Türkei nach allgemein geteilter Ansicht im Kampf gegen eine doppelte sicherheitspolitische Herausforderung sah: den kurdischen Separatismus der PKK und das Anwachsen des anti-laizistischen politischen Islam. In beiden Zusammenhängen bestimmte das Militär über den NSR die Leitlinien der Politik.
Diese Rolle wird durch die Maßnahmen des 7. Harmonisierungspaketes vom August 2003 erheblich beschnitten. Durch weit reichende Änderungen der Kompetenzen des Generalsekretariats des NSR wird dieser jeglicher exekutiver Funktionen entkleidet und auf seine verfassungsmäßige beratende Rolle reduziert. Sichtbarster Ausdruck dieser Eingriffe ist die nunmehr gegebene Möglichkeit, einen hohen zivilen Beamten an die Spitze des Generalsekretariats zu berufen, die bisher stets von einem Viersternegeneral eingenommen wurde. Wichtiger dürften jedoch organisatorische Änderungen sein, die in der neuen Geschäftsordnung vom November 2003 zur Abschaffung ganzer Arbeitseinheiten geführt haben."_
http://www.bundestag.de/dasparlament/2004/33-34/beil…
Viele Grüße
Franz