Hallo MitleserInnen,
gestern kaufte ich mir mehr aus Zufall die Frankfurter Rundschau - bin eigentlich kein Tageszeitungsleser -, wobei ich auf ein wunderbares Essay des Politikwissenschaftlers Ekkehardt Krippendorf stiess. Ich bin der Ansicht, dass man es unbedingt gelesen haben sollte. Hier ein Ausriss, unten dann der Link zum vollständigen Artikel.
**Demokratie ist eine Frage des guten Gedächtnisses, hatte Kurt Schumacher gemeint - wie wahr! Denn die Rechnung mit einem von den politischen Repräsentanten systematisch verdummten, entpolitisierten und darum vergesslichen Wähler, dem demokratischen Souverän, wird vermutlich aufgehen - sei es auch nur, indem ein katastrophaler Stimmverlust dieser im besonderen Maße verlogenen und heuchlerischen Fraktion der politischen Klasse wenigstens verhindert wird. „Verlogen“ und „heuchlerisch“ - das sind natürlich völlig unqualifizierte Begriffe, die den, der sie benutzt als politischen Analysten von vornherein intellektuell ins Abseits schieben.
Aber was anders als verlogen ist es denn, wenn die Spitzenkandidaten dieser Partei nach einigen harmlos-ohnmächtigen Eierwürfen wider besseres Wissen von Morddrohungen aus dem Sympathisantenumkreis von SPD und PDS à la Weimarer Republik raunen; wenn der brutale, aber von allen Staatsmännern des Westens seinerzeit tolerierte, vielleicht sogar klammheimlich begrüßte, weil die Politik des „Containment“ ratifizierende Mauerbau von vor vierzig Jahren jetzt als Wahlkampfmunition gegen eine mögliche rotrote Mehrheitskoalition ins Feld geführt wird; wenn die gesamte gegenwärtige CDU-Führung, die bis weit hinunter in die mittlere Funktionärsschicht zumindest indirekt Profiteuse illegal beschaffter DM-Millionen ist (denn auch mit deren Hilfe hat sich diese Partei in die Macht wählen und so lange an der Macht hat halten können: die Gnade der späten Parteimitgliedschaft kann keine Merkel, kein Meyer und kein Merz für sich in Anspruch nehmen - vom Unverfrorensten aller Profiteure, Roland Koch, ganz
bgesehen) und die jetzt so tut, als ginge sie das moralisch und politisch überhaupt nichts mehr an: ist dann das Wort „heuchlerisch“ dafür nicht geradezu noch mildtätig? Dass die Konkurrenz-Fraktion SPD diese ungeheuerlichen Machenschaften mit so leiser Stimme kritisiert, legt den Verdacht nahe, sie habe ihr eigenes gerüttelt Maß an ähnlichen Operationen wenn auch geringeren Umfanges zu verbergen, dass man sich also stillschweigend geeinigt hat, das schmutzige Thema herunterzuspielen.
Diejenigen, die heute so lautstark und biedermännisch-selbstgerecht von der harmlos-altmodischen PDS verlangen, ihre SED-Vergangenheit aufzuarbeiten und sich für diese zu entschuldigen, erinnern sich selbst natürlich nicht im Traum daran, dass sie zur selben Zeit als junge politische Ehrgeizlinge in eine Partei eingetreten waren, von der sie wussten, wie diese sich - und ihnen - auch mit den Mitteln demagogischer Lüge und Volksverhetzung („Ich bleibe dabei: die SPD ist der Untergang Deutschlands“, Konrad Adenauer) die Macht und ihre Pfründen sicherte. Sie haben gelernt, dass es für eine politische Karriere darauf ankommt, um jeden Preis - vor allem um den der Wahrheit - öffentlichkeitswirksam Punkte zu machen, sich moralisch aufzublähen und rhetorisch lautstark in Szene zu setzen („brutalst mögliche Aufklärung“), um sich dann nach abgeschalteten TV-Kameras von den Parteifreunden bestätigen zu lassen, wie man seine Rolle gespielt hat („war ich gut?“). Denn das öffentliche Rollenspiel dient der demokratischen Machtabsicherung nach außen und unten - die eigentlichen politischen Geschäfte werden dann hinter verschlossenen Türen abgewickelt.
Das Problem liegt in der beklemmenden Tatsache, dass diese Leute damit durchkommen: Man wählt sie wieder - mit nur relativ geringfügigen Schwankungen in der Wählergunst (jedenfalls sofern die Menschen überhaupt noch zur Wahl gehen). Ja, mit der Fähigkeit, die eigenen Skandale mit Lächeln, Lügen und eisernen Nerven an sich abprallen zu lassen (Hamlet: „Dass einer lächeln kann und immer lächeln und doch ein Schurke sein“), hat man im Kalkül der Parteistrategen offensichtlich sogar den Qualifikationsnachweis für das Kanzleramt erbracht. In ihrer zynischen Verachtung der demokratischen Wähler- und Meinungsöffentlichkeit unterscheiden sich die verschiedenen Fraktionen der politischen Klasse und ihre prominenten Rollenspieler nur graduell voneinander. Und kann man denn anderes von ihnen erwarten, wenn dieses „Volk“ so offensichtlich auf die primitivsten Werbetricks und Schlagworte, auf professionell produzierte Masken und Fassaden reagiert und nicht auf Argumente, Leistungen oder auf offensichtliches Versagen (von der Korruption ganz zu schweigen). Einer der ungebrochen aktuellen politischen Texte ist Wilhelm Reichs bittere „Rede an en kleinen Mann“ (1948), in der er diesem wegen seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit unbarmherzig die Leviten liest.**
Vollständiger Artikel: Frankfurter Rundschau (http://www.fr-aktuell.de/fr/160/t160001.htm)