Proofreading
Servus,
ja, das fand ich auch zunächst überraschend, als ich diesen Usus aus der Branche kennen gelernt habe.
Dieser Reihenfolge liegt die Idee zugrunde, dass der Muttersprachler, der die Übersetzung macht, im Zweifelsfall nicht bloß idiomatische Formulierungen (grade im Englischen wichtig) leichter auch im aktiven Wortschatz (oder TM) parat hat, sondern auch weniger als ein Muttersprachler der Quellsprache dazu neigt, die Struktur der einzelnen Sätze zu belassen und bloß mit Begriffen aus der Zielsprache zu füllen (was das Ergebnis in der Regel nicht falsch macht, sondern bloß holperig und deutlich als Übersetzung zu erkennen). Wer hier nur als Gegenleser arbeitet, wird eher etwas stehen lassen, was schon so da steht, weil beim Lesen alles, „was schon da ist“, leichter akzeptiert wird, wenn es irgendwie auch funktioniert und nicht eigentlich falsch ist.
Bei französischen Texten begegnen mir öfter mal Übersetzungen, die von einem der in F von Hendaye bis Dunkerque allgegenwärtigen Elsässer gemacht worden sind, bevor man sie dann doch nach draußen gegeben hat. Selbst wenn sie keine eigentlichen Fehler enthalten, erkennt man sie daran, dass z.B. die im Französischen viel verwendeten Partizipialkonstruktionen Wort für Wort (z.B. mit Relativsätzen) übertragen sind, aber die Sätze so stehen gelassen wurden, wie sie im Französischen angelegt waren. Das führt dann zu einem Sprachfluss, der an den nichttechnischen Dienst der Deutschen Bundespost erinnert. Wenn ein deutscher Muttersprachler vor dem französischen Original sitzt, sieht er dann viel leichter, wann es Zeit ist, einen neuen Satz anzufangen, wenn er noch kein Vorbild im Stil eines Juniorbandwurms vor sich hat.
Beim Proofreading geht es dann bei solchen Geschichten wie Geschäftsberichten, die im Zweifelsfall eher richtig als schön sein müssen, in erster Linie darum, ob der Übersetzer eventuell einzelne ggf. mehrdeutige Formulierungen falsch verstanden hat - das kann der Muttersprachler des Quelltextes leichter beurteilen, weil bei ihm der ganze Apparat an Konnotaten und Denotaten spontan zur Verfügung steht (oder sollte).
Mir fällt grad bloß wieder die von mir hier ständig erzählte Anekdote von der Anleitung zu Aufbau, Einrichtung, Inbetriebnahme einer Anlage aus deutscher Produktion in Fernost ein, die von einem Techniker des Herstellers verfasst und beim Kunden übersetzt worden war. Da stand unter anderem drin „Weil der Rahmen später nicht mehr nachjustiert werden kann, muss man unbedingt darauf achten, dass die gesamte Anlage von Anfang an sauber im Wasser steht.“ Der Kunde beeilte sich, vor Eintreffen der Lieferungen ein Wasserbecken für seine neue Anlage zu betonieren.
Ein deutscher Muttersprachler wäre zwar viel schlechter als sein z.B. chinesischer Kollege in der Lage gewesen, die Anleitung so zu verfassen, dass ein Techniker aus China damit arbeiten kann, aber es wäre ihm sofort aufgefallen, dass der Begriff „im Wasser stehen“ noch eine andere Bedeutung haben kann, wenn er von einem Ölauge benutzt wird, und die Anlage wäre nicht als „Neuschrott“ montiert worden.
Schöne Grüße
MM