Ukraine verstehen

Hallo,

ich weiß nicht ob die Frage hier richtig ist- bitte evtl. verschieben.

Ich bin vergangenen Sommer durch die Ukraine gereist, individuell und allein.
Muss dazu sagen, dass ich schon sehr viel so gereist bin, besonders in Osteuropa und in Asien.

In der Ukraine fand ich es von allen bisher bereisten Ländern am schwersten, mit Einheimischen in Kontakt zu kommen, sowohl in englischer Sprache  als auch in russischer.
Aus den anderen Ländern weiß ich, das Spachbarrieren kein großes Problem sind, wenn man kommunizieren WILL.

Mir ist schon klar, dass Ukrainer nicht unbedingt russisch sprechen möchten, deshalb habe ich immer vorausgeschickt, dass ich leider fast kein Ukrainisch kann, und ob man evtl. Englisch oder Russisch spräche.

Ich weiß nicht, ob es Unsicherheit oder Abwehr war, jedenfalls hatte ich kaum je Erfolg.

Es passierte mir fast nie, dass Einheimische mich von sich aus ansprachen, was in anderen Ländern eigentlich regelmäßig der Fall ist.

Gerade aus ehemaligen GUS Staaten kenne ich es auch, dass die Menschen sehr aufgeschlossen gegenüber westlichen Ausländern sind und gern englisch sprechen möchten. Das war in der Ukraine nicht so.

Und wie steht man gegenüber westlichen Touristen? Selbst in Kiew gab es kaum englische Erklärungen an Sehenswürdigkeiten, auch keine Touristinformation oder Stadtpläne in Englisch.

Nun setzten sich ja viele Menschen in der Ukraine politisch dafür ein, näher an die EU zu rücken und sich politisch von Russland unabhängig zu machen. Bei meiner Reise hatte ich eher das Gefühl, dass der „Ostblock“ in der Ukraine weiterlebt - mehr als in Russland selber. Kann mir das jemand erklären, am liebsten ein Ukrainer oder jemand, der die nationale Psyche sehr gut kennt?

Diese Frage läßt sich eigentlich nur aus der jüngeren Vergangenheit der Ukraine heraus beantworten.

Die Ukrainer sind ein gastfreundliches und aufgeschlossenes Volk, welches auch gern mit Fremden (Ausländern) zusammenkommt und sich austauscht. Insofern unterscheiden sich die Ukrainer nicht von anderen osteuropäischen Völkern.

Die wirtschaftliche Situation in der Ukraine ist jedoch in den vergangenen Jahren eskaliert. Die Rahmenbedingungen für kleine und mittlere Unternehmer verschärften sich, die für Investoren wurden nicht ausreichend verbessert. Das führte und führt zu einem wirtschaftlichen Niedergang, den die Ukrainer vor allem im eigenen Portemonnaie spüren. Um dieser Misere zu entkommen, suchen viele Menschen nach Arbeit außerhalb der Ukraine.

Wer gehen kann, geht. Das sind vor allem junge, gut ausgebildete Ukrainer mit Fremdsprachenkenntnissen. Ein gewaltiger Brain Drain ist im Gange, der dem Land letztlich auch seine Zukunft entzieht.

Zu Hause bleiben die schlechter Gebildeten, Alte und Kinder. All diese sprechen kaum Fremdsprachen, was sich wiederum für Ausländer im Straßenbild bemerkbar macht. Da auch das Bildungssystem monetär ausgerichtet und durch Korruption gekennzeichnet ist, bekommen auch nur die Kinder und Heranwachsenden eine gute Ausbildung, deren Eltern über das nötige Kleingeld verfügen. Diese Eltern und deren Kinder sind zumeist im herrschenden System verankert und haben deshalb keinen Vorteil aus Fremdsprachenkenntnissen, also spart man sich das.

Du merkst, da entwickelt sich eine Spirale nach unten, die längst begonnen hat.

Für mich als auf die Ukraine spezialisierten Reiseveranstalter ist der von Dir beschriebene Mangel an fremdsprachenkundigen Ukrainern bekannt und äußert sich in aufwendigen Recherchen nach lokalen kompetenten Partnern, die unsere Kunden betreuen und in den hohen Preisen, die diese lokalen Führer dann für ihre Leistung verlangen (Keine Konkurrenz = hohe Preise).

Um das zu durchbrechen, um eine Chance für ihr Leben zu bekommen, stehen heute viele junge Leute in Kiew und anderen ukrainischen Städten auf dem Majdan. Sie sehen im Machtwechsel, in der Zuwendung nach Europa und den damit erhofften demokratischen Reformen im Land eine Chance, die derzeitige Lage zu durchbrechen und grundlegend zu ändern.

Ob sich dieser Wunsch verwirklicht, werdne wir in den kommenden Wochen erleben.

-danke
vielen Dank für diese ausführliche Antwort!

Ich bin wahrscheinlich schon zu lange in Deutschland, um es erklären zu können. Aber ich hatte bei meinen Besuchen nicht den Eindruck, den du wohl von den ukrainisch Leuten erhalten hast. 
Hoffe, jemand anders kann da mehr zu sagen …

LG
Julia

Hallo!

Sie sehen im Machtwechsel, in der Zuwendung nach Europa und den damit
erhofften demokratischen Reformen im Land eine Chance, die
derzeitige Lage zu durchbrechen und grundlegend zu ändern.

Ob sich dieser Wunsch verwirklicht, werdne wir in den
kommenden Wochen erleben.

Ob Ukraine oder ein beliebiges anderes Land, sitzt man regelmäßig mit der Hoffnung auf Durchbruch einem Irrtum auf. Die in einem beliebigen Land herrschenden Zustände werden von einem großen Teil der Bevölkerung getragen. Gepflogenheiten in Unternehmen, Handlungsweisen der Polizei, Denkmuster in der Verwaltung bis in die letzte Amtsstube und letztlich in den Familien sind an Menschen und deren Erziehung gebunden. Tiefgreifende Veränderungen gehen deshalb mit einem zähen Lern- und Umdenkprozess über Generationen einher. Dabei hat man es auf der Zeitachse mit Jahrzehnten zu tun, nicht mit Wochen.

Wären die Hintergründe in jedem Einzelfall nicht so traurig, gäbe der immer gleiche Irrtum Anlaß zur Erheiterung. In Indien stirbt eine Frau nach einer Vergewaltigung und Medien tönen, der Vorfall würde die Gesellschaft aufrütteln und alles würde nun anders. Tatsächlich solte man in 50 Jahren mal nachgucken, ob sich in der Breite der Bevölkerung Spürbares verändert hat. In anderen Fällen wird vollmundig verkündet, man brächte mit Soldaten und Bombern Demokratie in eine Gesellschaft. Wieder andere Leute glauben, Rassismus ließe sich per Order oder durch Austausch einiger Führungspersonen abschaffen.

Um eine Vorstellung von Zeitmaßstäben zu bekommen, hilft ein Blick in beliebige Teilaspekte unserer eigenen Geschichte. Ob Frauenrechte oder Demokratie kann man Beliebiges hernehmen und wird merken, daß tiefgreifende Veränderungen mindestens eine Generation, manchmal sogar Jahrhunderte brauchen. Technik läßt sich schnell verändern. Da reichen manchmal schon wenige Jahre. Um aber ein demokratisches Gemeinwesen zu schaffen, brauchts Veränderungen des Denkens, braucht man entsprechend erzogene Menschen. Schon bist du auf der Zeitachse bei mindestens einer Generation.

Gruß
Wolfgang

Hallo,

so wie jemand anders das hier auch schon geschrieben hat: Das ist Deine individuelle Erfahrung. Als ich selbst durch die Ukraine reiste habe ich positive Erfahrungen mit den Leuten dort gemacht.

(Eine moegliche Erklaerung ist dass die ersten Kontakte mit einigen Leuten dort zufaellig negativ verlaufen sind, deshalb warst Du unbewusst den anderen Leuten voreingenommen was Du indirekt, evtl. durch Koerpersprache, gezeigt hast.)

Zur eigentlichen Frage: Es gibt keine europaeische Denkweise/Mentalitaet. Man geht in die EU weil man sich davon Vorteile erhofft. Das hat sich zwar fuer viele Laender nicht unbedingt bestaetigt aber ein Ertrinkender greift eben gerne nach einem Strohhalm.

Gruss
Desperado

Hallo, sorry, dass es mit der Antwort etwas gedauert hat - habe die Anfrage erst jetzt gelesen. Zu mir: ich bin in der Ukraine aufgewachsen, lebe seit bald 20 Jahren hier in Deutschland.

Nun zu Deiner Frage.
Ganz allgemein habe ich das Gefühl, dass Dein Eindruck eher subjektiv ist. Vielleicht hattest Du Pech und die Leute, die angesprochen hast, konnten kein Englisch; dies dürfte v.a. dann der Fall sein, wenn Du ältere Leute ansprichst, da die Jugend eher darauf achtet, europäische Sprachen zu können. Was Russisch betrifft, so ist es in den allermeisten Fällen in der Westukraine überhaupt kein Problem. Es ist übrigens auch meine Muttersprache, da ich noch zur sowjetischen Zeit in die Schule gegangen bin. Die Westukraine ist deutlich nationalistischer. Da kann ich mir schon eher vorstellen, dass man Dich dort schief anguckt, wenn Du mal versuchst, jemanden auf Russisch anzusprechen. Kiew ist in dieser Hinsicht auch liberal, aber, wie gesagt, man kann immer Pech mit einem einzelnen Menschen haben.

Und jetzt der Unterschied eines Ukrainers zu einem Deutschen. Bedenke bitte, dass es meine persönliche Ansicht ist.
Ja, Du hast Recht, wenn Du vermutest, dass Menschen in der Ukraine grundsätzlich deutlich weniger aufgeschlossen sind, als hier in Deutschland. Mit Polen kann ich leider nicht vergleichen, da ich dort nur auf der Durchreise war. Es kommt wirklich sehr darauf an, unter welchen Umständen Du in der Ukraine jemanden kennen lernst. Einfach so auf der Straße ist man einem Fremden gegenüber meist verschlossen, abweisend, argwöhnisch.  Wenn ihr hingegen einen Abteil im Zug teilt, kann es sehr einfach sein, sich viel näher zu kommen, als es hierzulande mit einem bis dato Unbekannten überhaupt möglich ist. Wenn Du ein Mann bist, teile mal mit Deinem Mitfahrer eine Flasche Wodka. In einer Stunde wird er garantiert Dein bester Freund sein. Und es ist wirklich nur ganz leicht überzeichnet.
Ich hoffe, es ist inzwischen verständlicher geworden, warum man Dich nicht von sich aus angesprochen hat. Es ist nicht üblich. Leichtes Plauschen auf der Straße oder in einem Geschäft führt man dort eben um eine ganze Ecke seltener, als hier. Hier ist es übrigens auch nicht sehr üblich, Freundschaften auf der Straße zu schließen oder Fremde Leute anzuquatschen. Alles kommt auf die Umstände und Art und Weise an. Bei mir hat es Jahre gedauert, bis ich gelernt habe, hier solche Kontakte herzustellen.

Was die anderen GUS-Staaten betrifft:
Wenn Du in Estland, Litauen od. Lettland gewesen bist, so ist es klar, dass man dort Dir gegenüber aufgeschlossen war. Sie sind froh, sich von der ehem. Sowjet Union gelöst zu haben und die Mentalität ist doch etwas dichter zur Westeuropa. Moskau ist auch inzwischen sehr internationalisiert. Aber fahre mal in so eine Stadt, wie Kasan. Da wird es nicht mehr so einfach mit Kontakten sein.

Ich merke, dass Du enttäuscht bist und es tut mir für Dich leid… Nimm das aber bitte nicht persönlich. Glaube mir, die Menschen da stecken so tief in Problemen aller Art, dass sie es schon fast vergessen haben, dass man sich einfach so freuen, dass ein Fremder dich ohne Hintergedanken anlächeln kann… Ja, ich denke schon, dass ein Ukrainer einfach nicht gut in small talk ist. Leider.

Ich hoffe, meine Antwort hat Dich ein Stück weiter gebracht. Und es würde mich wirklich interessieren, ob es der Fall ist.

Herzlichen Gruß
olebro

Ehm… im zweiten Absatz meinte ich, dass Russisch in der Ostukraine unproblematisch ist.

Ehm… im zweiten Absatz meinte ich, dass es in der Ostukraine mit Russich unproblematisch ist.

DAnke
DAnke für deine ausführliche Antwort.
Es stimmt, ich war etwas enttäuscht… es kann frustrierend sein, wenn man so wenig Kontakt findet.
Ich grolle aber nicht, sondern wollte halt verstehen, warum es so ist.
Du hast mir dabei geholfen, danke!
Bixie

Hi Olebro

Einfach so auf der Straße ist
man einem Fremden gegenüber meist verschlossen, abweisend,
argwöhnisch.  Wenn ihr hingegen einen Abteil im Zug teilt,
kann es sehr einfach sein, sich viel näher zu kommen, als es
hierzulande mit einem bis dato Unbekannten überhaupt möglich
ist. Wenn Du ein Mann bist, teile mal mit Deinem Mitfahrer
eine Flasche Wodka. In einer Stunde wird er garantiert Dein
bester Freund sein. Und es ist wirklich nur ganz leicht
überzeichnet.

Danke für diese Offenheit! So kritisch wie du deine Landsleute beschreibst, wird es ja noch härter für die Ursprungsfragenden…
Da möchte man wirklich keinem Ukrainer mehr begegnen… :wink:
Es grüßt dich
Branden

Hallo,

Sie sehen im Machtwechsel, in der Zuwendung nach Europa und den damit erhofften demokratischen Reformen im Land eine Chance, die derzeitige Lage zu durchbrechen und grundlegend zu ändern.
Ob sich dieser Wunsch verwirklicht, werdne wir in den kommenden Wochen erleben.

Ob Ukraine oder ein beliebiges anderes Land, sitzt man regelmäßig mit der Hoffnung auf Durchbruch einem Irrtum auf.

Das sehen sicher ein paar Leute, die im Herbst 1989 in der DDR auf die Straßen gegangen sind, etwas anders.

Die in einem beliebigen Land herrschenden Zustände werden von einem großen Teil der Bevölkerung getragen.

Auch das würde ich nicht immer unterschreiben wollen und dabei vielleicht auch noch zwischen aktivem Tragen und passivem Hinnehmen der Zustände unterscheiden. Da können wir gerne wieder die DDR als Beispiel heranziehen, oder meinetwegend, die ehemaligen Teilrepubliken der UdSSR oder das ehemalige Jugoslawien, um nicht irgendwelche weiter entfernteren Gegenden heranziehen zu müssen.

Gepflogenheiten in Unternehmen, Handlungsweisen der Polizei, Denkmuster in der Verwaltung bis in die letzte Amtsstube und letztlich in den Familien sind an Menschen und deren Erziehung gebunden.
Tiefgreifende Veränderungen gehen deshalb mit einem zähen Lern- und Umdenkprozess über Generationen einher. Dabei hat man es auf der Zeitachse mit Jahrzehnten zu tun, nicht mit Wochen.

Wie erklären sich dann die Vorgänge des Jahres 1989 nicht nur in der DDR, sondern auch in anderen Ländern des sowjetischen Einflussbereiches?

Wären die Hintergründe in jedem Einzelfall nicht so traurig, gäbe der immer gleiche Irrtum Anlaß zur Erheiterung. In Indien stirbt eine Frau nach einer Vergewaltigung und Medien tönen, der Vorfall würde die Gesellschaft aufrütteln und alles würde nun anders.

Das sind in der Tat Phänomene, wo es wohl etwas länger in den Köpfen dauert.

In anderen Fällen wird vollmundig verkündet, man brächte mit Soldaten und Bombern Demokratie in eine Gesellschaft. Wieder andere Leute glauben, Rassismus ließe sich per Order oder durch Austausch einiger Führungspersonen abschaffen.

Um eine Vorstellung von Zeitmaßstäben zu bekommen, hilft ein Blick in beliebige Teilaspekte unserer eigenen Geschichte. Ob
Frauenrechte oder Demokratie kann man Beliebiges hernehmen und wird merken, daß tiefgreifende Veränderungen mindestens eine Generation, manchmal sogar Jahrhunderte brauchen.

Dieser Vergleich hinkt vielleicht ein wenig. Wieviele Länder waren denn 1933 in Europa oder weltweit Demokratien, und das nicht nur auf dem Papier? Das war damals für Viele etwas Neues und Ungreifbares. Das sieht 80 Jahre später doch etwas anders aus.

Technik läßt sich schnell verändern. Da reichen manchmal schon wenige Jahre.

Sie kann aber gelegentlich auch einen Beitrag zur Beschleunigung gesellschaftlicher Entwicklungen leisten.

Um aber ein demokratisches Gemeinwesen zu schaffen, brauchts Veränderungen des Denkens, braucht man entsprechend erzogene Menschen.

Aha, wer erzieht die denn erstmal?

Schon bist du auf der Zeitachse bei mindestens einer Generation.

Klar sind das Entwicklungen, und Demokratie ist auch nichts, was man nur schafft, sondern etwas, das jeden Tag verteidigt werden muss, aber ganz so lange muss es nicht grundsätzlich dauern.

Grüße