Umherziehende Handwerker

Hallo liebe Gemeinde.
Mein Weibchen und ich haben uns gerade etwas über Amish-People angeschaut und uns entsinnt, dass es in Deutschland Menschen (meist junge) gibt, die 3 Jahre umherziehen. Es handelt sich bei ihnen um Handwerker die nur durch Naturalien bezahlt werden dürfen. Die haben imposante Kleidung an und einen Gehstock der eine wichtige Rolle spielt. Wie heißen diese Personen und wer weiß mehr darüber?

LG Klabauter

Hi Klabauter
Das können eigentlich nur die Gas-Wasser-Scheiße-Handwerker sein, denn die bauen so viel Mist, dass man sie allenfalls mit nem madigen Apfel entlohnen kann.
Aber jetzt im Ernst: Du meinst wahrscheinlich die Zimmerleute in ihren schwarzen Kordanzügen, die auf Wanderschaft sind.
Gruß,
Branden

Und diese Wanderschaft heißt Walz
http://de.wikipedia.org/wiki/Wanderjahre

Servus,

einen (wohl nicht vollständigen) Überblick über die heute noch bestehenden Schächte hab ich hier gefunden:

http://wandergesellen.naturstein-netz.de/index.asp?w…

(übrigens: Die „Ehrbarkeit“, von der in dem Text die Rede ist, bezeichnet den einfachen Schlips der Gesellen)

Man sieht, dass heute nicht mehr in vielen Handwerken gewandert wird: Zimmerleute, Steinmetze, Dachdecker, Maurer.

Freilich mit Ausnahmen, im sehr jungen „Freien Begegnungsschacht“ - hier ein Artikelchen über eine Schmiedin und eine Goldschmiedin auf der Walz:

http://www.waiblingen.de/sixcms/media.php/7/STAUFER_…

Die heutigen Schächte, Gesellenzünfte, sind im 19. Jahrhundert entstandene Nachfolger der mittelalterlichen Meisterzünfte, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Rahmen der Runderneuerung Europas durch Napoleon Bonaparte aufgelöst worden sind.

Im Mittelalter und der frühen Neuzeit war die Wanderschaft einmal ein Mittel, um spezialisierte Arbeitskräfte dorthin zu bringen, wo sie gebraucht wurden - man darf sich vorstellen, was für eine Menge an Spezialisten etwa für den Bau eines Münsters benötigt wurde -, zum anderen ein Mittel, um Technik und Methoden zu kommunizieren - stell Dir mal die Vielzahl an regional unterschiedlichen Bauweisen von Fachwerk vor. Heute geht es dabei wesentlich um die persönliche Erfahrung mit Selbständigkeit, Eigenverantwortung, aber auch solidarischer Organisation und gegenseitiger Hilfe.

Dass Gesellen auf der Walz nicht in Geld bezahlt werden dürfen, stimmt nicht. Richtig ist, dass ein Gesell, wenn er auf Jahr und Tag (= drei Jahre und ein Tag, es gibt auch kürzere Zeiträume je nach Schacht) fremdgeschrieben wird, mit einem abgezählten sehr geringen Betrag (ist glaube ich von Schacht zu Schacht unterschiedlich, wird etwas um 5 Euro ausmachen) loszieht, und dass teilweise bezahlter Transport (Eisenbahnfahren) verpönt ist. Für Arbeit gibts aber natürlich Geld, und irgendwie muss man ja auch die Passage hinkriegen, wenn man z.B. als Zimmermann nach Kanada will (Mekka für die Blockhüttenbautechnik) oder in die USA, wo die Kluften deutscher Zimmerleute viel bekannter sind als bei uns und wo ein Zimmermann auf der Walz nicht gut an einer Baustelle vorbeikommt, ohne hereingepfiffen zu werden „Hey, wir haben was für Dich, magst Du mitmachen hier?“ - „made in Germany“ gibts in diesem Sinn durchaus noch.

Ohne Geld spielt sich das Minimum ab, was einem ehrbaren Gesellen zusteht, wenn er Umschau hält und der Meister ihm keine Arbeit bieten kann: Das Essen und Quartier für eine Nacht.

Vieles ist auf der Walz noch strikt reglementiert, aber im Lauf der letzten zweihundert Jahre hat sich auch allerhand geändert: Seit über zwanzig Jahren sind einzelne Schächte auch für Frauen offen; die schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts altertümlich rasselnde Zunftsprache ist gelockert - Max Eyth beschreibt noch in seinem „Schneider von Ulm“, wie die Worte, mit denen ein Gesell Umschau hielt, und mit denen ihm ein Meister antwortete, strikt vorgeschrieben waren.

Es dürfte auch nicht mehr bei so sehr vielen Zimmerleuten so sein, dass die Ohrlöcher für die Ohrringe mit Hammer und Nagel geschlagen werden - aber geben tut es noch sehr vieles von den Handwerksgebräuchen. Einiges davon, einschließlich den Resten von Rotwelsch, die in den Schächten überlebt haben, bleibt intern, damit untereinander erkennbar bleibt, ob einer von seinem „Exportgesellen“ „losgebracht“ worden ist oder bloß ein Blender ist. Auf diese Weise kann das System gegenseitiger Hilfe funktionieren, ohne von Trittbrettfahrern ausgenutzt zu werden.

Außer in D wird auch noch in F gewandert - dort ist der Gesell im Vergleich zu den modernen Facharbeiterbriefen eine Randerscheinung, fast bloß noch in Elsass und Lothringen. Aber dort ist man dafür besonders traditionsbewusst, die Wanderschaft ist obligatorisch.

Wenn Du die Möglichkeit hast, nutze die Chance und biete Gesellen auf der Walz Quartier an: Da gibt es Hochinteressantes zu hören und zu lernen!

Schöne Grüße - mit Gunst und Verlaub!

MM

Moin Branden!

Hahaa! Großartiger Beitrag!! Ich muss immernoch lachen!
Dafür ein Sternchen!

Das können eigentlich nur die Gas-Wasser-Scheiße-Handwerker
sein, denn die bauen so viel Mist SCHEISSE, dass man sie :allenfalls mit
nem madigen Apfel entlohnen kann.

Und sie danach in die Ferne jagt!

es lacht und freut sich
Artemis

…mein Abend ist gerettet

Danke dir,

das war eine sehr gute und ausführliche Antwort.
Scheint eine interessante Sache zu sein.

LG
Klabauter

Servus,

na schön, dass Du da solche Freude dran hast…

Ich freue mich andererseits immer, wenn mir ein Profi bei etwas hilft, was ich nicht selber kann. Und das ist z.B. im Bereich Installation ziemlich viel - ich wohne in einem Haus von 1903, mit Zutaten aus der frühen Wiederaufbauzeit -: Da war ich schon oft froh daran, dass es außerhalb von Preishammer-Superknaller-Highlightspezial noch Handwerker gibt, die nicht die Reklameklappe aufreißen, sondern erkennen, was zu tun ist, das dann auch gut machen, und ohne dass ich arm dran werde.

Sehr im Gegensatz übrigens zu allerlei „Dienstleistern“, denen Zunft- und Handwerksgebrauch und die dazu gehörige Treue und Ehrlichkeit vollkommen fremd sind.

Ziemlich befremdet über den Gedanken, dass Können und Leistung eines ehrlichen Gesellen so etwas Lächerliches sein sollen

Grüßt

MM
(mit einem nicht zunftfähigen Gehilfenbrief ausgestattet, der ihm genauso lieb ist wie das später erworbene nicht zum Broterwerb geeignete Diplom)

3 Like

Philologie (griechisch φιλολογία - philología, „Liebe zum Wort“)

Es ging mitnichten darum irgendein Berufsstand zu vergrätzen, sondern jeglich um die schöne Formulierung und den Überraschungsmoment, der Aufkam als man die, auf der Hand liegende Antwort „Zimmermann“ erwartete. Und wenn da Lehrer, Psychologe, Gemüsehändler, Call-Center-Agent gestanden hätte, ich hätte dennoch gelacht, denn ich liebe Sprache und schöne Worte. Und ich mag Menschen die es schaffen mich zu Überraschen und mich zum lachen zu bringen. Vor allem mit Worten.

:smiley:

A.

Hallo,

ich hatte mal eine kleine Berührung mit diesen Gesellen, vor etwa 15 Jahren - da trafen sich alle
Wandergesellen Deutschlands jährlich im Harz zu einem Fest. Das waren Dachdecker,
Zimmermänner/frauen, Bäcker, Tischler… alle in schwarzer Kluft, einen Hut mit breiter Krempe. Sie
verpflichteten sich freiwillig für 2 Jahre zu Fuss durchs Land zu ziehen, sich dem Heimatort dabei nicht
näher als 2 km zu kommen und für Kost und Logis in Betrieben für kurze Zeit zu arbeiten, um dann
weiter zu ziehen. In der Tasche waren symbolische 5 DM, ein Reisetagebuch und alles was sie zum
Leben brauchten befand sich in einem Rucksack.

Sie machten auf mich einen sehr entspannten, glücklichen und geselligen Eindruck. Eine Demut und
Armut auf Zeit, so wurde mir gesagt, die den Horizont erweitert. Sie lernen Land und Leute kennen, den
Beruf aus allen Winkeln der Republik (heute wohl auch in ganz Europa). Eine Art Pilgerwanderschaft der
Zunft.

Hut ab vor diesen Menschen, die den Beruf lieben und sich temporär sich der Geschwindigkeit der Welt
entziehen!

Servus,

Das waren Dachdecker,
Zimmermänner/frauen, Bäcker, Tischler…

dann geht es um einen der sehr jungen, offenen Schächte. Nicht viele Schächte nehmen Frauen auf, und auch nur wenige sind für alle Handwerke offen.

Diese

Sie verpflichteten sich freiwillig für 2 Jahre zu Fuss durchs Land
zu ziehen,

sehr kurze Wanderschaft spricht für die „Freien Vogtländer“. Bei fast allen Schächten wird drei Jahre und einen Tag gewandert.

Und dieses:

sich dem Heimatort dabei nicht
näher als 2 km zu kommen

ist sicherlich ein Missverständnis. Fünfzig Kilometer sind die Regel, es täte mich wundern, wenn es irgendeinen Schacht gäbe, der erlaubt, Mutterns Wäsche quasi übern Gartenzaun anzuschauen.

Das hier:

und für Kost und Logis in Betrieben
für kurze Zeit zu arbeiten,

ist ein verbreiteter Irrtum. Natürlich wird die Arbeit eines Gesellen bezahlt. Das Minimum Essen und Unterkunft gibts bloß dann, wenn keine Arbeit angeboten werden kann.

Das hier:

In der Tasche waren symbolische 5 DM,

ist der Zustand an dem Tag, an dem der Gesell fremdgeschrieben wird. Wenn man sich aber anschaut, dass ehrbare Gesellen auf der Walz in allen Kontinenten unterwegs sind - außerhalb Europas vorwiegend Australien und Nordamerika - sieht man schnell, dass es bei den (heutigen) fünf Euro nicht bleibt. Für einen Fünfer gibts keine Passage und keinen Flug.

Sie lernen Land und Leute kennen, den
Beruf aus allen Winkeln der Republik (heute wohl auch in ganz
Europa).

Europa war bis zum 19. Jahrhundert der ungefähre Radius. Wie schon beschrieben: Nordamerika und Australien gelten heute als höchst attraktive Ziele, nicht zuletzt wegen der Arbeitsmöglichkeiten.

Was übrigens das Wandern selber betrifft: Trampen ist keineswegs verpönt, bloß Bahn und Bus sollten nicht benutzt werden - wobei es auch da keine strengen und allgemein gültigen Ausschlüsse gibt.

Schöne Grüße

MM

Hallo Martin,

jetzt bin ich aber neugierig geworden.

und für Kost und Logis in Betrieben
für kurze Zeit zu arbeiten,

ist ein verbreiteter Irrtum. Natürlich wird die Arbeit eines
Gesellen bezahlt. Das Minimum Essen und Unterkunft gibts bloß
dann, wenn keine Arbeit angeboten werden kann.

wie sieht das rechtlich aus, wenn da ein Fremdgeschriebener auf dem Bau mithilft und plötzlich eine Kontrolle vom zuständigen Amt von wegen Schwarzarbeit am Bau durchgeführt wird?
Ist das formal geregelt, dass man auf Walz da eine Ausnahme darstellt oder wird dann einfach ein Auge zugedrückt oder wie funktioniert das?

Im amerikanischen oder australischen Ausland mag das womöglich nicht so streng gesehen werden, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es in D dafür keinen entsprechenden Paragraphen gibt, oder?

Schöne Grüße und vielen Dank, Jerry

PS: Wo wir schon dabei sind: Sind Fremdgeschriebene während ihrer Walz eigentlich irgendwo versichert, oder können Pensionsversicherungszeiten sammeln?