Unschuldsvermutung

Hallo,

auf tagesspiegel.de und spiegel.de ist zu lesen:

"Aber mit der Unschuldsvermutung ist das so eine Sache.

Denn die Unschuldsvermutung gilt auch für Frauen, die Männern Übergriffe vorwerfen. Man muss erst mal davon ausgehen, dass sie nicht lügen: Wer erklärt, dass eine Frau, die von Übergriffen spricht, lügt und das Ansehen dieser Person zerstören will, wirft der Frau mindestens üble Nachrede vor - und das wäre dann auch eine Straftat, die diese Frau begehen würde."

Ich wüsste gern, was die geschätzten Anwesenden von dieser Argumentation halten, um deren Qualität es mir ausschließlich geht (darum das Brett Philosophie). Das mit der üblen Nachrede ist juristisch korrekt (§ 186 StGB).

Vielen Dank und schöne Grüße,

G. Threepwood

Hallo,

die Unschuldsvermutung gilt für Menschen, denen eine Straftat vorgeworfen wird. Hier geht es aber um Menschen, die anderen eine Straftat vorwerfen. Völlig andere Rolle.

Praktisch gesehen, müssen natürlich diejenigen, die eine Straftat vorwerfen, ihren Vorwurf begründen und belegen können und da sind wir halt bei einem der grundsätzlichen Probleme dieser Art von Straftaten, nämlich dass es in der Natur der Sache liegt, dass die Beweislage oftmals äußerst dünn ist und die Glaubwürdigkeit von Personen und „Geschichten“ im Vordergrund steht.

Am Ende kommt man m.E. zu der eigentlichen philosophischen Frage, nämlich kann bzw. muss man von jemandem, der eine kaum beweisbare Tat vorwirft, Beweise erwarten bzw. ist es legitim, aus dem Fehlen von Beweisen zu schlussfolgern, dass es die Tat nicht gegeben hat.

Gruß
C.

So wie es da steht, ist es richtig. Die Frage ist, ob es auch im Kontext richtig ist. Dass das Zitat mit einem „Aber“ beginnt, deutet darauf hin, dass davor noch etwas Relevantes steht. Da wir nicht wissen, was das ist, kann ich nur vermuten: Geht der Autor möglicherweise davon aus, dass die Unschuldsvermutung für den Beklagten den o.g. Tatvortwurf gegen den Kläger impliziert? Das wäre natürlich falsch.

Diese Formulierung ist zumindest als sehr schief zu bewerten. Unschuldsvermutung und das Verbot übler Nachrede (§ 186 StGB) bzw. Verleumdung (§ 187 StGB) sind nicht identisch, es sind unterschiedliche Begriffskategorien. Die Unschuldsvermutung ist ein Grundsatz der Rechtsprechung, nicht eine Angelegenheit der außergerichlichen Umgangssprache. Üble Nachrede / Verleumdung ist eine Straftat.

Die Unschuldsvermutung bzgl. der Frau käme also dann in Betracht, wenn jemand die Frau, die einem Mann sexuellen Übergriff vorwirft, wegen übler Nachrede anklagt. Die bloße Behauptung von unbeteiligten Dritten, die Frau lüge, hat also mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung nichts zu tun.

Allerdings kann „üble Nachrede“ iterativ sein (der Vorwurf übler Nachrede kann u.U. als üble Nachrede geahndet werden), sogar zirkulär (das spielte im Prozess Johnny Depp vs. Amber Heard eine Rolle): Wenn der des Übergriffs beschuldigte Mann die Frau der üblen Nachrede beklagt, dann kann der Kasus zirkulär sein, zumindest gibt es eine gegenseitige Abhängigkeit der Beschuldigungen:

Wenn der sexuelle Übergriff des Mannes bewiesen wird, dann würde er zugleich von der Frau der üblen Nachrede gegen sie beklagt werden können. Umgekehrt gilt das aber nicht: Wenn der Übergriff nicht bewiesen wird, bedeutet das nicht automatisch, dass die Frau gelogen hat, es sei denn, es gibt konkrete Beweise für eine Falschbeschuldigung.

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Ja, aber eben deshalb doch die richtige Rolle. Mit der (wie ich zeigte, ziemlich schiefen) Formulierung

die Unschuldsvermutung gilt auch für Frauen, die …
ist ja unmissverstänlich erkennbar, was der Zitierte meinte: nämlich dieser Frau nicht apriori zu unterstellen, daß sie eine Lüge verbreite. Dafür ist aber der Rechtsprechungs-Grundsatz „Unschuldsvermutung“ unzutreffend. Er könnte bestenfalls metaphorisch verwendet werden, was aber in der Formulierung so nicht gemeint ist.

Er wäre erst von Relevanz, wenn die Frau tatsächlich wegen übler Nachrede verklagt würde. Nicht aber, wenn unbeteiligte Dritte ihr unterstellen wollen, daß sie lügt.

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Problematisch ist, dass hier „erklären, das Frau lügt“ mit „Ansehen zerstören will“ gleichgesetzt wird. Aber vielleicht wird diese Verkürzung aus dem Gesamttext plausibel.

Ansonsten habe ich als Schöffe erlebt, was das Schreckliche an Missbrauchsprozessen ist: Das Gericht steht - überspitzt formuliert - vor zwei schrecklichen Gefahren: einem Unschuldigen das Leben zu zerstören, indem man ihn als Vergewaltiger gesellschaftlich „tötet“ - oder den Missbrauch einer Frau durch einen Freispruch des Täters gewissenmaßen zu legitimieren.
Ich war sehr froh, dass in dem von mir erlebten Fall die Sache am Ende so klar war, dass das Urteil mit gutem Gewissen gefällt werden konnte.

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Vielen Dank für Eure Antworten.

Ich dachte Folgendes:

  1. Es ist unmöglich, zwei sich gegenseitig ausschließende Annahmen gleichzeitig als wahr zu unterstellen. Nichts anderes als eine rechtliche Unterstellung ist die Unschuldsvermutung ja: Wird die „Schuld“ oder „Unschuld“ bewiesen, kommt es auf die Unschuldsvermutung nicht (mehr) an. Lässt sich der Sachverhalt nicht klären, entscheidet das Gericht, als habe es die „Unschuld“ bewiesen, aber nur im Ergebnis (Freispruch), nicht in der Begründung („In dubio pro reo“ statt „wegen erwiesener Unschuld“). Anders gefragt: Wenn man „erstmal“ davon ausgehen muss, dass die Frau „nicht lügt“, um ihr keine üble Nachrede zu unterstellen, muss man dann auch „erstmal“ unterstellen, dass sie lügt, um dem Mann keine Sexualstraft zu unterstellen? Wenn ja, wie kann man von beidem gleichzeitig ausgehen?

  2. Der Vorwurf der Falschbeschuldigung geht von einem bekannten Sachverhalt aus (das behauptete Delikt habe der Beschuldigte nicht begangen). Die Unschuldsvermutung kommt nur bei ungeklärten Sachverhalten zur Geltung. Der Vorwurf der Falschbeschuldigung lässt für die Unschuldsvermutung keinen Raum. Wer sich auf die Unschuldsvermutung beruft, wirft der Frau damit eben nicht vor, gelogen zu haben.

  3. Es ist auch nicht Ausfluss der Unschuldsvermutung, „erstmal davon auszugehen“, dass die Frau nicht lügt. Schon gar nicht ist es Ausfluss der Unschuldsvermutung, „erstmal davonauszugehen“, dass sie die Wahrheit sagt (was die Autorin so auch nicht schreibt). In dem gesamten Strafverfahren gibt es (nach deutschem Strafprozessrecht) keinen Moment, zu dem irgendeine der Wahrheitsfindung verpflichtete Person, ob bei der Polizei, bei der Staatsanwaltschaft oder bei Gericht, „erstmal davon ausgehen“ muss, dass die Frau nicht lügt. Das wäre nicht nur nicht Ausfluss der Unschuldsvermutung, sondern würde derselben diametral entgegenstehen.

  4. Die Autorin sagt im Grunde, dass man, um der Frau nicht „mindestens üble Nachrede“ zu unterstellen, dem Mann eine Vergewaltigung unterstellen muss. Das finde ich schon bemerkenswert.

Ist das zu spitzfindig?

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Dafür besteht keine Veranlassung, weil nicht jede Unwahrheit eine Lüge und nicht jede Lüge eine üble Nachrede ist. Ob und wenn ja wie die Frau sich hier strafbar macht, muss im Einzelfall geklärt werden. Allein aus der Unschuldsvermutung für den Mann folgt dazu ersmal gar nichts.

Klingt plausibel, was du schreibst. Und im Lichte deiner Erläuterungen frage ich mich: Was möchte der Autor/die Autorin eigentlich sagen, um was geht es?

Das ist ein guter Punkt. Zumindest an dieser Stelle interpretiere ich etwas, das da dem Wortlaut nach nicht steht. Allerdings scheint es mir so zu sein, dass die Leute an Erinnerungsfehler und dergleichen nicht denken, sondern nur zwischen „wahr“ und „gelogen“ unterscheiden.

Der Antwort käme man vielleicht näher, wenn man wüsste, ob die Autorin die inhaltlichen Schwächen ihrer Formulierung kannte oder nicht.

Mir wäre ja fast am liebsten, wenn mir jemand überzeugend erläutern könnte, wieso alle meine Einwände falsch sind. Ich zweifle lieber an mir selbst als zu ertragen, dass etwas, das ich für so unsinnig halte, in mehr oder weniger seriösen Medien veröffentlicht wird, ohne dass sich jemand daran stört.

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Das ist ein beliebter Fehler. Tatsöchlich hat das eine mit dem anderen nichts zu tun. Eine Aussage kann auch gleichzeitig wahr und gelogen sein. Ob jemand lügt, hängt nicht vom Wahrheitsgehalt seiner Aussage ab, sondern von dem, was er für wahr hält.

Und was die Erinnerungsfehler angeht - das ist ein großes Problem bei Aussagen, aber nicht das einzige. Man erinnert sich ja nicht nur an objektive Fakten, sondern auch an das subjektive Erleben und das kann beim selben Ereignis bei den Beteiligten sehr verschieden sein.

Mir fehlt da der Rest des Artikels, um ein Urteil zu wagen. Wichtig wäre ja, ob deine Textstelle eine bestimmte Meinung von mehreren wiedergibt, ob der Text einen ironischen oder bewusst überspitzten Ton hat und was die eigentliche Stoßrichtung ist.

Ja. Geht mir in den letzten Jahren immer häufiger so.

Spannend woird es auch, wenn man die Argumentation auf anderer Straftaten ausweitet. Denn im Grunde trifft das auf jeden Fall zu, in denen Aussage gegen Aussage steht und die Beweislage darüberhinaus dünn ist. Da köme aber niemand auf die Idee, so zu argumentieren.

Gruß,
Max

Ich kann Deine Einwände nicht widerlegen, denn ich stimme ihnen zu.

Auch ich sehe bei den wenigen Worten eher ein Unverständnis für den Begriff der „Unschuldsvermutung“ seitens der Autorin.

Denn diese Unschuldsvermutung, und damit der Ausschluss der Vorverurteilung, bedeutet nicht im Umkehrschluss, dass die mutmaßlich Geschädigten und deren Zeugen automatisch lügen.

Das wiederum ist ja keine Unschuldsvermutung gegenüber dem mutmaßlichen Täter, sondern vielmehr eine Schuldsvermutung gegenüber der mutmaßlichen Täterin. Zwei völlig verschiedene paar Schuhe.

Zumindest nach meinem amateurhaften Rechtsverständnis und vor allem Rechtsempfinden. :wink:

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Mich würde immer noch interessieren, ob meine Gedanken nicht richtig sind und mit Blick hierauf:

vor allem, ob ich vielleicht ein bisschen zu empfindlich bin.