Unterschied Exegese und Einleitung

Was soll ich dazu sagen?
Hast Du auch Schwierigkleiten, das Nibelungenlied als einen Text des 13. Jahrhunderts zu lesen?
Der möglicherweise alte Vorbilder hat, die in isländischen und schwedischen noch erhalten sind?

Wenn im Tanach - vulgo: Altes Testament - von Israel die Rede ist, dann ist selbstverständlich das Volk Israel in der Verbindung mit dem Land Israel (Denn beide gehören zusammen) gemeint.
Es bedarf natürlich eines gewissen Abstraktionsvermögens, um diese verschiedenen Begriffe von „Israel“ auseinanderzuhalten, aber diese Fähigkeit wird man von Dir erwarten müssen und dürfen, wenn Du Dich einer wissenschaftlichen Prüfung stellst.

Zu Deiner Überschrift: Eine „Einleitung in das Alte Testament“ kann selbstverständlich keine Exegese der einzelnen Bücher bieten, sie stützt sich aber auf eine solche Exegese und fasst ihre Ergebnisse zusammen; nur so lässt sich ein Überblick vermitteln, und mehr kann eine Einleitung nicht sein.

Oder habe ich Dich jetzt vollkommen falsch verstanden?

Gruß - Rolf

Hallo,

hast Du denn nie eine Veranstaltung (Proseminar/ Seminar) zur Exegese gemacht?

Mit anderen Worten: Ich habe Probleme damit, das AT nicht als Spätantiken Text zu lesen…

das brauchst Du ja nicht über Bord zu werfen, im Gegenteil, das ist eine wichtige Voraussetzung für die Exegese.
In der Exegese ist gefragt, vom sprachlichen, literarkritischen, religionsgeschichtlichen… Wissen über einen Text eine Übertragung auf Inhalt und Deutung hinzukriegen. Flapsig gesagt: „Was haben die damit gemeint, dass sie das so aufgeschrieben haben?“

Die Exegese hat eigentlich zwei Ebenen: Zuerst und hauptsächlich, so gut wie möglich herauszufinden, was der Text zur Entstehungszeit für eine Aussage hatte, für sich genommen und im Zusammenhang im Kanon. Denk dabei in Richtung Systematische Theologie.

Ein Beispiel: Der Auszug aus Ägypten. Aussagen (sehr kurz und einfach jetzt): Gott ist einer, der befreit. Gott ist einer, der zu seinem Volk hält. Israel vergewissert sich seiner Geschichte und seiner Herkunft aus der Sklaverei. Trotz langen Leidens gibt es Hoffnung auf Befreiung.

Im nächsten Schritt kannst Du dann weiter fragen: Was sagt uns der Text heute? Gilt das auch für uns: „Gott ist einer, der befreit“? Was davon gilt für uns?
„Gott hält zu seinem Volk“ würde ich zweifach sehen: zum einen in Bezug auf seinen seinen besonderen Bund mit dem auserwähltem Volk, das gilt heute den Juden. Zum anderen als ein „Gott hält zu uns“ - weil Christen durch Jesus auch einen Zugang zu diesem Gott haben.

Mal eine Beispielfrage: Wer ist gemeint mit Israel? Ist es das
heutige Israel? Die heutigen Juden? Gemeinschaft der
Gläubigen? Das Volk des Vorderen Orients?

Textimmanent ist mit Israel selbstverständlich das Israel zur Verfassungszeit des Textes gemeint.
Was man daraus für eine Auslegung ableitet, kommt sehr auf den jeweiligen Text an…

Viele Grüße,

Jule

Pragmatische Tipps
Hallo,

noch Hinweise zum Heranarbeiten:

  • Arbeite eine Einführung in die Exegese durch. Erkundige Dich, was bei Euch in den Proseminaren empfohlen wird.

  • Nimm im Wintersemester an einem exegetischen Seminar teil.

  • Lies Kommentare. Such Dir eine Bibelstelle aus, überlege, was Du dazu weißt. Lies mehrere Kommentare zu dieser Stelle, ältere und neue, und analysiere, wie sie vorgehen.

Viele Grüße nochmal,

Jule

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Spätantike?
Hi,

du hast ja schon reichlich Hinweise bekommen, was zu tun wäre. Dich mit den Begriffen Exegese und Hermeneutik überhaupt erst mal vertraut zu machen, wäre also das Erste.

Aber: Wenn du sagst, du habest

Probleme damit, das AT nicht [sic!] als Spätantiken [sic!] Text zu lesen.

dann hast du ein ganz anderes Problem, als du meinst.

Fall es dir nicht auffällt, hier ein Tipp: Wie bringst du es fertig, den Tanach als spätantiken Text zu lesen? :smile:

Schöne Grüße
Metapher

Zwei Typen von Exegese
Hi.

Ich habe mich aufgrund persönlichen
Interesses vor allem in allem mit Archäologie, anderen
Fremdvölkern um Israel herum und Religionsgeschichte des
Vorderen Orients beschäftigt und habe nun starke Probleme,
Zugang zur Kanonischen Exegese zu finden.

Aus deiner Darstellung geht nicht hervor, ob es zwangsläufig um eine „kanonische“ Exegese gehen muss. Die „kanonische Exegese“ ist eine glaubensimmanente Alternative zur objektiven „historisch-kritischen Exegese“ und befasst sich mit der Auslegung eines Textes im Kontext des gesamten (in diesem Fall alttestamentlichen) Textkorpus - z.B. was bedeutet diese oder jene Formulierung im Licht ähnlicher Formulierungen an anderen thematisch verwandten Stellen? Dabei wird nicht unter die Textoberfläche geschaut, wie dies bei der historisch-kritischen Exegese üblich ist, d.h. die Redaktionsschichten bleiben unthematisch. In der Fachwissenschaft ist umstritten, ob beide Exegese-Typen kompatibel sind (siehe unterer Link). Meiner Meinung nach spricht aber nichts dagegen, kanonische Exegese im Zusammenspiel mit kritischer Exegese zu betreiben. Als Beispiel nenne ich Ezechiel 8-10, in denen man - folgt man der Analyse von Prof. Ernst Vogt in „Untersuchungen zum Buch Ezechiel“ - mindestens vier Textschichten ausmachen kann, die von verschiedenen Autoren stammen, und von denen die drei hinzugefügten Schichten ganz bedeutsame Ergänzungen darstellen. Die Analyse vermag dabei zum einen die Schichten bzw. Interpolationen säuberlich zu trennen (freilich auf hypothetischer Grundlage), dann aber auch - zum andern - den Sinn dieser Ergänzungen verständlich zu machen, was sich wieder produktiv auf das Gesamtverständnis auswirken kann, freilich um den Preis, dass die Genialität Ezechiels zugunsten der Kreativität der anonymen Redakteure Abstriche erleidet.

http://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellex…

Chan

Mensch, Metapher, das habe ich doch glatt überlesen! Ich habe zwar kurz gestutzt, weil irgendwie ungewöhnlich, aber nicht angefangen zu denken…

Danke für den Hinweis,

Jule

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Hallo holowachuk!

Ich habe Probleme damit, das AT nicht als spätantiken Text zu lesen

Diese Proleme hätte ich auch, denn die heutigen ATs sind fast ausnahmslos spätantike, mehrmals verfälschte Texte - nur die „Vulgata“ und die „Nova Vulgata“ wären noch jünger, stammen aus dem Mittelalter bzw. aus dem vergangenen Jahrhundert [1979].

Was sollte man aus einem Text, den man nach eigenen Vorstellungen und Wünschen zurechtgebogen, selber geschrieben hatte, ernsthaft exegieren wollen! Du suchst Zugang dazu - ist’s die Aufnahmeprüfung in einen besonderen Club? …

Gruß
joejac

Konfuses

Diese Proleme hätte ich auch, denn die heutigen ATs sind fast ausnahmslos spätantike, mehrmals verfälschte Texte - nur die „Vulgata“ und die „Nova Vulgata“ wären noch jünger, stammen
aus dem Mittelalter bzw. aus dem vergangenen Jahrhundert [1979].

Ich werde nicht nochmal den Fehler machen, mich auf eine Sinnlosdiskussion mit dir einzulassen und Zeit vergeuden. Hier nur der Hinweis meiner Belustigung (und damit der UP in seiner diesbezüglichen Unsicherheit nicht irregeführt wird) über die Logik deiner Aussage. Demnach wäre etwa die Metaphysik des Aristoteles eine Literatur des XX. Jhdts., wenn man die Jaeger-Ausgabe der Bibliotheca Oxonis zur Hand nimmt, wie das jeder heutige Philosoph tut. Und die zarathustrischen Gathas, verfaßt in einem alt-iranischen Dialekt, und überhaupt das ganze Awesta, wären eine Literatur des 3. Jhdts. n.Chr. (= frühe persische Spätantike) weil sie zu dieser Zeit neu niedergeschrieben wurden.

Mir fallen da noch andere lustige Beispiele ein, wie man Materia confusa (eine früh-spätantike Interpretation des vor-stoischen Chaos) in die Literaturgeschichte einpflanzen könnte.

Metapher

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Spätantike = Antike
Ach Fuck… ja… weil ich gerade mit dem Koran arbeite und den als Spätantiken Text sehe… meinte natürlich mit dem AT nen Antiken Text. Sorry…

Hallo holowachuk!

~ Ich habe Probleme damit, das AT nicht als antiken Text zu lesen

(Gegen)frage: Wie kann man einen Text - kann nun davon ausgehen (?), dass Du den jüdischen hebräischen Text meintest - den es in dieser seiner Form erst seit dem 9. Jh.n.Z. gibt, als „antiken“ Text lesen?

Ach Fuck… ja…

Keine Sorge. Niemand (naja mit Ausnahmen) hat es anders vermutet, als daß es ein Lapsus war :smile:

weil ich gerade mit dem Koran arbeite und den als Spätantiken Text sehe…

Das ist auch richtig. Weitgehend Konsens ist es ja, das Ende von „Spätantike“ mit dem Niedergang des Sassanidenreiches zu bestimmen. Kommt also hin.

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Na schön, da haben wir nun also drei oder vier Textschichten - und was machen wir damit?
Exegesieren wir jede dieser Schichten besonders und für sich, oder sagen wir: Wir haben nur den Text, wie er uns in der Endgestalt vorliegt, mit dem haben wir zu arbeiten, denn den haben die Bearbeiter und Redaktoren so stehen lassen.
Zudem hat der Begriff „kanonische Exegese“ für mich einen unangenehmen Beigeschmack: Er klingt so, als würden die Ergebnisse der Exegese von der kirchlichen Tradition und Lehre bestimmt und vorweggenommen. (Was übrigens ein Grund dafür war, dass die evangelische Kirche sich aus dem Projekt einer gemeinsamen Bibelübersetzung mit der katholischen Kirche verabschiedet hat.)

In der evangelischen Kirche und Theologie ist die historisch-kritische Methode inzwischen unumstritten.
Auch die materialistisch-symbolische Exegese setzt diese historisch-kritische Methode voraus, aber sie besteht darauf, dass wir nur diesen Text haben, wie er da steht.

Gruß - Rolf

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Hallo Joejac,

jüdischen hebräischen Text meintest - den es in dieser seiner Form erst seit dem 9. Jh.n.Z. gibt …

Meinst Du wirklich, den Tanach gebe es erst seit dem 9. Jhdt. in dieser Form?
Hast Du irgendwelche stichhaltigen Belege für diese - ich sage mal: etwas abenteuerliche - These?

Oder meintest Du, dass die ältesten Handschriften mit dem Text ges gesamten Tanachs erst aus dieser Zeit stammen?
Das wäre übrigens auch falsch, denn der Codex Leningradensis, der älteste Codex mit den gesamten Text stammt von 1008, also vom Beginn des 11. Jhdts, und der Codex von Aleppo, der freilich nur ca 75 % des Textes enthält, von 925, also aus dem 10… Jhdt.

Irgendwie stimmt an Deiner Logik etwas nicht.

Gruß - Rolf

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Hallo Rolf!

Meinst Du wirklich, den Tanach gebe es erst seit dem 9. Jhdt. in dieser Form?
Hast Du irgendwelche stichhaltigen Belege für diese - ich sage mal: etwas abenteuerliche - These?

Von einem evangelischen Pfarrer hatte ich einen solchen Einwand wirklich nicht erwartet … immerhin könnte man in Sachen der Biblia Hebraica aus Deutschland schon von einer gewissen Tradition sprechen … und eigentlich wäre es meine Frage gewesen (nicht, dass ich die Antwort nicht wüsste): „Gibt es auch nur einen einzigen Text - in den Zeiten vor und nach den Mustercodizes der beiden Ben Aschers - der dieser Textform gleich ist? Außer natürlich direkten Abschriften davon und ungeachtet etwaiger Abschreibfehler!“

Man fände alles andere außer einem solchen - warum sollte ausgerechnet dieser dann der „Urtext“ sein? Abgesehen davon, dass es den Urtext der Thora nach wie vor gibt, den Unterschied jeder sehen könnte, der sich ernsthaft damit beschäftigen wollte!

Gruß
joejac

Ich verstehe das nicht.
Was willst Du damit sagen?

Oder soll ich mich zum abersten Male damit abfinden, dass ich nicht alles verstehen muss?

Gruß - Rolf

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Es waren einmal zwei Märchen …
Hallo Rolf! Andere hätten mir wahrscheinlich forsch den „allbekannten Standardtext der großen Synode von Jamnia“ um die Ohren gehauen (oder - in der Hoffnung bzw. im Vertrauen darauf, dass die meisten Leser hier bei wer-weiss-was im Religionsforum diesen Humbug ebenfalls geschluckt hatten - mich nur mit Anspielungen darauf verspottet) … aber Du weißt anscheinend, wie der Hase läuft!
 
 
A) Das Märchen von einer „Synode zu Jamnia“:

Leider haben nicht alle Menschen (die einen haben keine Zeit, die anderen nicht das nötige „Kleingeld“ dazu) die Möglichkeit, sich theologisches Wissen aus erster Hand anzueignen, sind auf Sekundärliteratur angewiesen, die zwar (fast) einstimmig als grundlegende, unerlässliche „Standardliteratur von kompetenten Autoren“ angepriesen wird, bei näherer Betrachtung aber zum größten Teil nur groben Unfug enthält.
Nur ungern unterhalte ich mich über Dinge, die mit der eigentlichen Frage nichts zu tun haben - ganz zu schweigen von „Selbstgesprächen“ - doch dürften, da dem Fragesteller grundsätzliches Wissen über Bibel & Bibelexegese zu fehlen scheint und hier Probleme einer exegetischen Praxis behandelt werden, nun mehrere Sachen zusammenkommen.

Beispiel: Ernst Würthwein, „Der Text des alten Testaments“ - leider nur die englischsprachige Übersetzung online zugänglich …
http://books.google.de/books?id=FSNKSBObCYwC&printse…
… deutschsprachiger (original) Text abgeschrieben (alte Rechtschreibung!) aus der 5. Auflage [1988], auszugsweise, Fettgeschriebenes von mir hervorgehoben:

[Deutsch S. 16ff / Englisch S. 13f]

2. Der Konsonantentext. Der Konsonantentext, wie er in den mittelalterlichen Handschriften überliefert ist und den heutigen Ausgaben zugrunde liegt, geht auf die Zeit um 100 n.Chr. zurück : Im Zusammenhang mit der großen jüdischen Restauration, die die Jahrzehnte nach der Katastrophe des Jahres 70 n.Chr. kennzeichnet, wurde, nachdem auf der sogenannten Synode von Jamnia (Ende des 1. Jahrhunderts n.Chr.) über die Kanonisierung einzelner noch umstrittener Bücher des Alten Testaments entschieden worden war, auch ein autoritativer, d.h. für den Gebrauch im Judentum maßgebender Text für erforderlich gehalten, besonders nachdem durch Rabbi Akiba (etwa 55-137 n.Chr.) eine exegetische Methode herrschend geworden war, für die auch noch die kleinsten Bestandteile und Besonderheiten des Textes von Bedeutung waren. Daß man einen solchen Text durch Rezensionsarbeit mit zur Verfügung stehendem handschriftlichem Material geschaffen hat, wie Kahle angenommen hat, ist in den letzten Jahren bezweifelt worden. In der Tat sprechen viele Beobachtungen dagegen, daß der Text der hebräischen Bibel insgesamt bewußten Rezensionen zu verdanken sei. Man muss hier unterscheiden zwischen der Tora und den übrigen Büchern. Wenn es auch in der rabbinischen Literatur keine eindeutigen Hinweise auf textkritische oder Rezensionstätigkeit gibt, wie z.B. von den Philologen von Alexandria an klassischen griechischen Texten geübt wurde, so ist doch der textliche Zustand der Tora so viel besser als der anderer Bücher, daß man bei ihr eine bewußte Bearbeitung nicht ausschließen kann. Sie war darin begründet, daß für die Rabbinen die Tora im Zentrum ihrer Arbeit stand, während den übrigen Büchern ein wesentlich geringeres Interesse galt. … Wahrscheinlich wurde in der Zeit nach 70 n.Chr. in diesen Büchern einfach der Text der Gruppe tradiert, die zur allein bestimmenden geworden war - der Pharisäer, während die Textformen anderer, untergegangener oder bedeutungslos gewordener Gruppen in Vergessenheit gerieten. So ist der um 100 n.Chr. zum Standardtext gewordene Text auch als Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung nach dem Untergang Jerusalems zu begreifen. Da bei den Pharisäern schon immer die Tora im Mittelpunkt stand, dürften für sie besonders gute Textzeugen verfügbar gewesen sein.
Daß es sich bei diesem Standardtext nicht um einen völlig neugeschaffenen Text handelte, sondern daß die Rabbinen alter Überlieferung folgten, wird interessanterweise durch die Texte von Qumran bestätigt, da sich darunter solche befinden, die unserem masoretischen Text nahestehen. … Insofern kann man mit Roberts von der „wahrscheinlichen Existenz eines vormasoretischen ‚masoretischen‘ Textes“ sprechen. Aber bei aller äußeren Ähnlichkeit besteht doch ein entscheidender Unterschied: Die dem masoretischen Text verwandte Textgestalt von Qumran war neben zwei anderen im Umlauf, und nichts weist darauf hin, daß sie diesen gegenüber autoritatives Ansehen genoß. D.h., es gab in Qumran - und wahrscheinlich gilt das auch für das übrige Judentum - noch keinen autoritativen Text. Erst im Zusammenhang mit der jüdischen Restauration gewann ein schon vorhandener Text (oder eine aus vorliegenden Texten geschaffene Rezension) autoritative Geltung und verdrängte im Laufe der Zeit alle anderen Textgestalten, die im Judentum vor 70 n.Chr. im Umlauf waren, fast gänzlich.“

Richtig und sehr vorsichtig hatte Würthwein bemerkt, dass erst „… nachdem auf der sogenannten Synode von Jamnia (Ende des 1. Jahrhunderts n.Chr.) über die Kanonisierung einzelner noch umstrittener Bücher des Alten Testaments entschieden worden war, …“, denn diese „Synode von Jamnia“ hatte es erstens nie gegeben und zweitens war von den beiden Rabbinern der Schule von Jamnia zu der fraglichen Zeit etwas anderes diskutiert worden als der Umfang eines jüdischen Kanons oder gar, wie suggeriert werden sollte, ein einheitlicher Konsonantentext der Thora - wirklich geschickt eingeflochten! Aber wozu??

Abgesehen von dem Umstand, dass es schon zu der (ersten) „Synode von Jamnia“ (angeblich Ende des 1. Jahrhunderts, ca. 90-100 n.Z.) keinerlei Belege gibt, fehlte zu der nebulösen zweiten „Synode von Jamnia“ (um 100 n.Chr.), von der Würthwein hier fabuliert, auf der es um den Text der Thora, einen „Standardtext“ gegangen sein soll, jedes Verständnis!

[Ralph Hennings, „Der Briefwechsel zwischen Augustinus & Hieronymus & ihr Streit um den Kanon des Alten Testaments …“, Leiden, 1994; Seite 133 (Auszug)]
http://books.google.de/books?id=Mgyf9fj-GdMC&pg=PA13…

„Der Prozeß, in dessen Verlauf der Bestand der hebräischen Bibel fixiert worden ist, wird seit dem 19. Jahrhundert mit der ‚Synode von Jamnia‘ verbunden*. Noch weit bis in unser Jahrhundert hinein war davon die Rede, daß der Abschluß des hebräischen Kanons des Alten Testaments auf dieser ‚Synode‘ erfolgt sei. Analog zu den christlichen Synoden stellte man sich ein Zusammentreffen der aus Jerusalem vertriebenen Schriftgelehrten vor, auf dem ein „Synodalbeschluß“ gefaßt und in den verstreuten jüdischen Gemeinden durchgesetzt worden sei. Die neuere Forschung hat dieses Bild gründlich korrigiert**. …“
[Die Fußnoten dazu (auszugsweise)]
* Diese These stammt aus der deutschen Bewegung des liberalen Judentums im 19. Jhdt, die auf wissenschaftlichem Gebiet zum Teil Methoden und Vorstellungen der evangelischen Theologie übernommen hat. Ein exponierter Vertreter dieser Richtung ist Heinrich Hirsch GRAETZ, in dessen Buch … zum ersten Mal die Rede von einer ‚Synode zu Jamnia‘ ist. GRAETZ denkt sich den gesamten Prozeß des Kanonabschlusses als eine Abfolge von Synoden, ganz im Sinne der preussischen Ordnung; …
** … die sogenannte Synode von Jamnia, von Graetz 1871 kreiert, ist Fiktion.
 
 
B) Das Märchen vom jüdischen „Standardtext“:

Es gab nachweisbar (wie folgt) bis in das 5. Jh.n.Z. auch in Palästina unter den Rabbinern/Gemeinden keinen Standardtext für die Thora, ebenso auch nicht für die übrigen Bücher; die Texte waren im Fluss, änderten innerhalb weniger Jahrhunderte ihr Gesicht. Aquila (Übersetzung aus dem Hebräischen ins Griechische um 125 n.Z.) hatte einen anderen jüdischen „Standardtext“ als jenen, den Origenes (Anfang 3. Jh.n.Z.) für seine Hexapla benutzte, Hieronymus (um 400 n.Z.) für seine Übersetzung ins Lateinische wieder einen anderen; zu Letzterem sind für (heute verschollene) hebräische Handschriften masoretische Zählungen vorhanden, die mit dem aktuellen Masoretischen Text nicht mehr übereinstimmen.

Viel Text um Nichts … bevor ich hier weiterschreibe, gebe ich Dir (und dem Fragesteller) die Möglichkeit, zu dem Thema „Synode von Jamnia“ eventuell bei Dir (oder dem Fragesteller) bestehende/aufgekommene Fragen oder Einwände - falls vorhanden - zu äußern! (Habe auch noch etwas anderes zu tun!)
 
 
So long
joejac

Hallo Rolf!

Meinst Du wirklich, den Tanach gebe es erst seit dem 9. Jhdt. in dieser Form?
Hast Du irgendwelche stichhaltigen Belege für diese - ich sage mal: etwas abenteuerliche - These?

Der Fragesteller hat/te sich noch nicht dahingehend geäußert, welchen der gängigen AT-Texte [Origenes, Griechisch (LXX) / Hieronymus, Latein (Vulgata) / Ben Ascher, Hebräisch (MT)] er genau meint - der Bezug auf den Masoretischen Text stammt von mir, d.h. es handelt sich dabei um den Text der Schreiber- & Masoretenfamilie Ben Ascher aus Tiberias.

[Ernst Würthwein, „Der Text des alten Testaments“, 5. Auflage 1988, Seite 30ff (auszugsweise)]
„Auch innerhalb des masoretischen Zentrums Tiberias gab es verschiedene Richtungen oder Schulen. Die Familie Ben Ascher, von deren beiden letzten Gliedern Musterkodizes - der Codex Cairensis und der Kodex von Aleppo - bis heute erhalten sind, spielte allem nach eine herausragende Rolle. Aber wir wissen, daß es neben den Ben Ascher andere tiberische Masoreten gab, unter denen Ben Naftali der bekannteste ist. Über die Differenzen (chillufim), die zwischen seinem Text und dem des Aaron ben Mosche ben Ascher bestanden, hat der jüdische Gelehrte Mischael ben Uzziel in seinem berühmten Traktat ‚Kitab al-Khilaf‘ (11./12. Jahrhundert) gehandelt. … Folgt man der Schrift Mischaels, die unsere einzige zuverlässige Quelle für den Text Ben Naftalis bildet - gelegentliche Randbemerkungen in Handschriften fallen nicht ins Gewicht -, so ergibt sich, daß Ben Ascher und Ben Naftali eng verwandt sind. Im Konsonantentext weichen sie nur in acht unbedeutenden Fällen voneinander ab. … Für die Zusammengehörigkeit spricht auch dies, daß Mischael mehr als 400 Fälle erwähnt, in denen Ben Ascher und Ben Naftali miteinander übereinstimmen - offenbar gegenüber anderen Masoreten. … Daß ein solcher Text nicht nur im 10. Jahrhundert weit verbreitet war, sondern noch zu Beginn des 12. Jahrhunderts weitergegeben wurde, zeigt, daß der Text Aaron Ben Aschers, des letzten Gliedes seiner Familie, erst im Verlauf einiger Jahrhunderte das Ansehen des maßgebenden Textes gewinnen und alle anderen Textgestalten verdrängen konnte.“

Meinetwegen können wir von einer „Lokaltype“ sprechen, die von Ben Ascher und Ben Naftali vertreten wurde, d.h. ungeachtet der internen kleinen Unterschiede - ein Vergleich der Texte des Cairensis’ (Mosche Ben Ascher) des Aleppokodex’ (Aaron Ben Ascher) und des Leningradensis’ (B19) würde zeigen, dass auch die Familie Ben Ascher ihren Text nicht gleichförmig tradiert hatte; die Handschriften vieler Schreiber weisen kleine Abweichungen voneinander auf, obwohl diese jeweils sogar aus der selben Hand stammten!

Codex Cairensis [895 n.Z.] http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Cairo-codex-n…
Codex Aleppo [920 n.Z.] http://www.aleppocodex.org/aleppocodex.html
Codex Leningradensis B19 [1008 n.Z.] http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Leningrad-cod…

Auch wenn der Codex Cairensis des Mosche Ben Ascher (datiert: 895 n.Z.) nur die Propheten enthält, gibt er eine ungefähre Auskunft über die Bücher des Pentateuchs nach der Tradition dieser Familie, die es zweifellos gegeben hatte:

Codex Cairensis, Seite 582 [Liste der Bücher im Tanach, Buchtitel mit ihrem gezählten inhaltlichen Bestand nach der Tradition der Ben Aschers - das erste Schriftzeichen der Thora   ב ראשית  z.B. fettgeschrieben, als Majuskel … fehlt (nur) in BHK und BHS bis heute!]
http://joejac.lima-city.at/books/misc/cai-582.png

Der Codex Cairensis des Mosche Ben Ascher (895 n.Z.) ist in einer späten Ausformung der Tiberischen Punktation geschrieben, es gab auch eine frühe Form, belegt z.B. durch die Complutensische Polyglotte … wohl auch schon damals (d.h. ca. 1500 n.Z.) das älteste erreichbare Beispiel dieses Textes?
http://joejac.lima-city.at/books/misc/com-0001.png

Daher von mir pauschal auf das 9. Jahrhundert gelegt, auch mit dem vielleicht noch möglichen sehr späten 8. Jahrhundert wäre es lediglich ein spätantiker Text. Über die Entstehung dieses Textes ist nichts bekannt, vielleicht von früheren, älteren Vorlagen abgeschrieben, vielleicht auch eine junge Rezension, d.h. Zusammenfassung mehrerer Handschriften mit abweichenden Lesarten. Als „abenteuerliche These“ würde ich alles bezeichnen, das unter diesen Umständen über das vorhandene Material hinausgeht … so viel zu „meiner Logik“!

Gruß
joejac

Hintergrundinformationen für den Fragesteller

Meinst Du wirklich, den Tanach gebe es erst seit dem 9. Jhdt. in dieser Form?
Hast Du irgendwelche stichhaltigen Belege für diese - ich sage mal: etwas abenteuerliche - These?

Diese Deine Antwort ließe in mir den Verdacht aufkommen, dass Du vom hebräischen Bibeltext überhaupt keine Ahnung haben könntest - was aber gar nicht sein kann, denn ich kenne das Unterrichtsmaterial der theologischen Fakultäten. Allerdings ist es genau das Problem des Fragestellers („Mit anderen Worten: Ich habe Probleme damit, das AT nicht als antiken Text zu lesen … Wie finde ich Zugang vor allem im Hinblick auf meine Prüfung?“), wobei Dein eingangs zitierter Kommentar auf meine Antwort alles andere als eine Hilfe zu einer Lösung des Problems darstellt, das für den Fragesteller bei der Prüfung ein Hindernis zu sein scheint:
 
 
Unter Theologen war es schon lange bekannt, dass z.B. die griechische Übersetzung (Septuaginta = LXX = [G], 1. Hälfte des 3. Jahrhunderts v.Z.) häufig einen anderen Inhalt bietet als der (jeweilige) hebräische Text der Juden. Entweder waren an dieser „Übersetzung“ Wahnsinnige beteiligt, unterstützt von Banden skrupelloser Lügner, die diesen Unsinn Unwissenden als gute und treffliche Übersetzung andrehen wollten, oder der hebräische Text hatte sich im Laufe der Jahrhunderte geändert; „geändert“ wurde (nur) die LXX durch Origenes Anfang des 3. Jahrhunderts n.Z. (ca. 230-240 n.Z.), als er für seine „Hexapla“ - eine Gegenüberstellung des griechischen und hebräischen Wortlautes der Bibel - unter den verschiedenen LXX-Lesarten jene heraussuchte, die dem zu seiner Zeit aktuellen hebräischen Text der Juden am nächsten standen. Leider sind daher nur noch sehr wenige „echte“ LXX-Fragmente aus der Zeit vor Origenes vorhanden. Ab 1947 hat man in Qumran Fragmente hebräischer Handschriften gefunden, die vom bekannten jüdischen hebräischen Text abweichen, eben jene „Sonderlesarten“ der LXX enthalten (z.B. Deuteronomium zum „Moseslied“, 4 Q Dtn 32), die von manchen fanatischen Gelehrten als „unecht“ angezweifelt und verworfen worden waren.

Im Jahre 1616 wurde dem Abendland der Samaritanische Pentateuch [S] in seinem vollem Umfang zugänglich gemacht, der an vielen Stellen etwas anderes bot als der hebräische Text der Juden [M], z.B. diverse ergänzende Erweiterungen, von denen ebenfalls in Qumran Fragmente gefunden wurden - nicht samaritanischen, sondern jüdischen Ursprungs!

[Ernst Würthwein, „Der Text des alten Testaments“, 5. Auflage 1988, Seite 54f (auszugsweise; von mir geänderte Sigel für die Handschriftengruppen „Samaritanus“, „LXX“ und „Masoreticus“)]
„Das Problem des samaritanischen Pentateuchs besteht darin, daß er in etwa 6000 Fällen von M abweicht. Eine große Zahl dieser Varianten ist freilich rein orthographischer Art (vor allem häufigere plene-Schreibung), und viele andere betreffen Kleinigkeiten, die den Sinn nicht beeinflussen. Bemerkenswert ist aber, daß S in etwa 1900 Fällen mit G gegen M zusammengeht *. … So gelangen wir für S in eine relativ frühe Zeit, die es ausschließt, ihn als von M abhängig anzusehen. Vielmehr ist ein sehr zu beachtender Zeuge für eine Textgestalt, die einmal weit verbreitet gewesen sein muß, wie die Übereinstimmung mit den Qumrantexten, der Septuaginta, dem Neuen Testament und einigen der Revision durch das offizielle Judentum entgangenen jüdischen Texten zeigen.“
[Die Fußnote dazu]
* Auch das Neue Testament stimmt an einigen Stellen mit S gegen M überein, so in Apg 7,4 und 7,32, vielleicht auch in Hebr 9,3f. Indes wird das Neue Testament auf einen griechischen Pentateuchtext zurückgehen, der allerdings in der Textgestalt an den betreffenden Stellen S nahestand.

Online-Textausgaben des Samaritanus:
[Gall, „Der hebräische Pentateuch der Samaritaner“, 1918] http://books.google.de/books?id=6wedbFREAjwC&lpg=PP1…
[Blayney, „Pentateuchus Hebraeo-Samaritanus“, 1776] http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/d…
[Petermann, „Pentateuchus Samaritanus“, 1872] http://www.archive.org/stream/pentateuchussama00pete…
[Samaritanische Schrift (rechte Seite unten)] http://archive.org/stream/dasbuchderschri01faulgoog#…
 
 
Natürlich hat man in den Höhlen von Qumran, ab 1963 auf der Felsenfestung Masada etc. (d.h. sowohl aus der Zeit vor 70 n.Z. als auch aus der kurz nach der Zerstörung des Tempels) ebenso diverse Textfragmente gefunden, die - im Gegensatz zu den beiden vorstehend genannten, mit dem Samaritanus und der Septuaginta übereinstimmenden Versionen - dem Masoretischen Text der Ben Ascher nahestehen, nur geringe Abweichungen von diesem aufweisen.

Abweichende Lesarten aus den Jahrhunderten vor dem Text der Ben Ascher (Beispiel):

[Ernst Würthwein, „Der Text des alten Testaments“, 5. Auflage 1988, Seite 13f/24 (auszugsweise; von mir geändertes Sigel für den „Masoreticus“)]
„Aus dem 6.-8. Jahrhundert gibt es zahlreiche Fragmente, die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Synagoge von Altkairo (seit 882 Synagoge, vorher St. Michaelskirche) gefunden wurden. Sie befanden sich dort in der Geniza, das heißt in einer Art Rumpelkammer, in der man unbrauchbar gewordene oder unkorrekte Handschriften bis zu ihrer endgültigen Vernichtung verbarg (aramäisch  = verbergen), um Mißbrauch oder Profanierung einer den heiligen Gottesnamen enthaltenden Handschrift auszuschließen. … / … Allerdings wissen wir heute, besonders durch das Material aus der Geniza von Kairo, daß es noch Jahrhunderte hindurch Texte mit - allerdings nicht sehr zahlreichen - abweichenden Lesarten gab, und dasselbe läßt sich erschließen aus von M sich unterscheidenden Zitaten jüdischer Gelehrter bis ins 8. Jahrhundert und darüber hinaus.“

[Ernst Würthwein, „Der Text des alten Testaments“, 5. Auflage 1988, Seite 29 unten (Fußnotentext zu den Fragmenten mit Palästinischer Punktation aus der Geniza von Kairo; auszugsweise)]
*… Eine umfassende Untersuchung (mit Forschungsbericht, Katalog aller ‚palästinischen‘ Bibelfragmente, Sammlung abweichender Lesarten u.a.) hat B. Chiesa vorgelegt: … Turin (1978). Er führt die besondere ‚Textfamilie‘ dieser Texte (der hebräischen Vorlage der griechischen Übersetzung nahe) zurück auf priesterliche Gruppen, die nach 70 n.Chr. nach Nordarabien (Hidschas) auswanderten und unter islamischen Druck, besonders unter dem Kalifen Omar (634-644), nach Palästina (südliches Jordantal) zurückkehrten. Blütezeit der ‚palästinischen‘ Punktation nach Chiesa ca. 700-850.

Der Bibeltext der Ben Ascher aus dem 9./10. Jh.n.Z. war (auch) zu seiner Zeit nur eine unter vielen voneinander abweichenden Lesarten dieser kürzeren Textversion (der Pharisäer?) - die einen mehr, die anderen weniger - und nichts deutet darauf hin, dass die Lesart der Ben Ascher unter diesen eine besondere Stellung, eine übergeordnete Autorität besaß … das Gegenteil wäre sogar der Fall!

Abweichende Lesarten aus den Jahrhunderten nach dem Text der Ben Ascher (Beispiel):

In den kritischen Apparaten der Biblia Hebraica aus Stuttgart (Deutschland) wurden zu zahlreichen Textstellen auch ausgewählte abweichende Lesarten aus den großen Sammlungen wie z.B. der Variantensammlung von Kennicott mitgeteilt, meistens ohne Nennung der Quelle/n pauschal als „Ms(s)“ = „eine oder mehrere hebräische Handschriften nach Kennicott etc.“, " pc Mss" = „wenige, d.h. 3-10 Handschriften“, " nonn Mss" = „einige, d.h. 11-20 Handschriften“, " mlt Mss" = „viele, d.h. mehr als 20 Handschriften“ und " permlt Mss" = „sehr viele,d.h. mehr als 60 Handschriften“ - nur in wenigen Fällen (z.B. im Deuteronomium) auch die entsprechende/n Nummer/n der Handschrift/en. Weder das (relativ junge) Alter der Handschriften, noch deren Masse/Anzahl hätten irgendein Gewicht - bisweilen ist die Lesart der Ben Ascher aber jene, die aus der Norm fällt …

Was sich hinter diesen Nummern für Handschriften verbergen (würden), kann man z.B. hier nachlesen:
http://www.bsb-muenchen-digital.de/~web/web1041/bsb1…

[Ernst Würthwein, „Der Text des alten Testaments“, 5. Auflage 1988, Seite 48f (auszugsweise)]
"  c) Benjamin Kennicott, 1718-1783 … veranstaltete eine umfangreiche und bis heute gebrauchte Variantensammlung: … 2 Bände, Oxford 1776-1783. Kennicott bietet den masoretischen Text nach der Ausgabe des Holländers van der Hooght von 1705, den samaritanischen Text nach der Londoner Polyglotte von Walton, 1653-57. In dem umfangreichen Apparat werden Abweichungen von über 600 hebräischen Handschriften, 52 Ausgaben und 16 samaritanische Kodizes notiert, soweit sie den Konsonantentext betreffen. …
  d) Keine Ausgabe, sondern lediglich eine Variantensammlung ist das Werk von J.B. de Rossi *. Es bietet ausgewählte und wichtigere Lesarten aus 1475 Handschriften und Ausgaben. Das berücksichtigte Material ist also gegenüber Kennicott stark vermehrt, zugleich zuverlässiger bearbeitet. Auch de Rossi notiert nur Abweichungen im Konsonantentext. …"
[Die Fußnote dazu (auszugsweise)]
*… 4 Bände, Parma (1784/88). …

Die Abweichungen von dem Text der Ben Ascher betreffen meist mit den Sonderlesarten der anderen Versionen (Samaritanus, LXX, Peschitta, Vulgata, Targume etc.) übereinstimmende Lesarten, z.B. BH² zu Gn 2:20 [hebräischer Text nach der „Bombergiana“]
http://agiw.fak1.tu-berlin.de/Auditorium/Bibel/SO_2/…
… es hatte sich gegenüber den Handschriften vor dem 10. Jh. nur das geändert, dass diese mittelalterlichen Texte übereinstimmend auch die Besonderheiten der Bibel Ben Aschers bieten - wobei bei einigen nicht klar ist, ob sie eigenständige Texte auf alten Vorlagen sind, in denen das Sondergut der Ben Ascher eingearbeitet wurde, oder ob sie „Kopien“ des Aschertextes sind, in denen wichtige, alte Traditionen der Schreiber festgehalten wurden.

[Ernst Würthwein, „Der Text des alten Testaments“, 5. Auflage 1988, Seite 23f (auszugsweise; Fettgeschriebenes und Unterstrichenes von mir hervorgehoben)]
„Die hebräischen Handschriften aus dem Mittelalter zeigen ein auffallend einheitliches Bild des Textes, selbst in der Form gewisser besonders geschriebener Buchstaben und in anderen Kleinigkeiten.
Als plausibelste Erklärung dafür galt lange Zeit die von P. de Lagarde erstmals 1863 ausgesprochene These, die hebräischen Handschriften des Mittelalters gingen alle auf ein einziges Exemplar, auf einen im 2. Jahrhundert n.Chr. geschaffenen Archetypus, zurück. Richtiger hatte E.F.C. Rosenmüller gesehen, als er 1797 alle noch erhaltenen Handschriften des hebräischen Textes auf eine Rezension zurückführte; doch blieb seine Erkenntnis lange unbeachtet, obwohl er sie 1834 in dem Vorwort der Tauchnitzschen Edition des hebräischen Alten Testaments wiederholte.&nsp;… Auch die von Hempel für das Dtn nachgewiesene Tatsache, daß eine Gruppe mittelalterlicher masoretischer Handschriften in vielen Einzelheiten mit dem Text des Samaritanus übereinstimmt, ist meines Erachtens so zu erklären, daß die nichtmasoretischen Texte noch längere Zeit in der Textüberlieferung nachwirkten. Man hat also anzunehmen, daß der von etwa 100 n.Chr. an autoritative Konsonantentext nicht von heute auf morgen alle anderen Textformen verdrängte, sondern daß - vor allem private - Handschriften mit abweichender Textgestalt noch lange in Umlauf blieben.“

[„Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft“, 1889, Seite 303]
http://archive.org/stream/zeitschriftfrdi07goog#page…

Richtig hatte Würthwein vermerkt, dass Lagarde um 1863 erstmals die Vermutung äußerte, dass alle (damals) existierenden Handschriften auf einen einzigen „Mustertext“ aus dem 2. Jahrhundert n.Z. zurückgehen [dass es sich dabei keinesfalls um den frühmittelalterlichen Text der Ben Ascher aus dem 10. Jahrhundert handeln kann, dafür wohl eher jene überlieferten und von diesem Text abweichende Lesarten in Frage kämen, die mit dem Text des Hieronymus, der Septuaginta (Origenes’) oder dem Samaritanus (bzw. dem NT?) übereinstimmen - besonders in Fällen, wenn alle drei das gleiche bieten gegen Ascher - oder von älteren „falschen“ masoretischen Zählungen bestätigt werden, wäre selbstredend!], nur wurde diese These Lagardes (ebenso wie die von Rosenmüller) keineswegs „lange (?) Zeit“ akzeptiert, sondern abgelehnt, da jegliche historischen Belege dafür fehlten. Diese These von einem „Standardtext um 100 n.Z.“ wurde erst Anfang des 20. Jahrhunderts ausgegraben (wie die Geschichte von der „großen Synode von Jamnia“) und in diversen Machwerken kunstvoll ausgeschmückt, ähnlich dem „Aristeasbrief“, mit 72 Gelehrten (je sechs für die Stämme Israels) die nach der Zerstörung des Tempels zusammenkamen, einen verbindlichen Konsonantentext festgelegt hätten …

Würthwein bietet zwar eine relativ gute Einführung in die Geschichte des ATs für Laien und Anfänger, daher von mir hier zitiert, scheint aber mit dem fortlaufend in seine Abhandlung eingeflochtenen „Standardtext um 100 n.Chr.“, den er jetzt sogar mit dem Text Aaron ben Aschers (Aleppokodex/Leningradensis B19) in Verbindung bringt, etwas unlauteres im Schilde zu führen! Ohne ein solches Gerücht würde eine Exegese für Juden & Protestanten (auf der Grundlage eben jenes Textes) auf sehr wackeligen Beinen stehen, zudem hatte der damals amtierende levitische Priester den Aschertext als Fälschung zurückgewiesen, mit Verweis auf die levitische Thora, dem Urtext.
 
 
Ich wünsche Dir für die Prüfung viel Erfolg - sollten noch Fragen sein, bliebe Dir Zeit bis zur Archivierung der Forumsartikel.

joejac

Unter "Abweichende Lesarten aus den Jahrhunderten vor dem Text der Ben Ascher:
… (aramäisch  גנז  = verbergen) …  statt  … (aramäisch  = verbergen) …

[Scan: „Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft“, 1889, Seite 303]
http://joejac.lima-city.at/books/misc/zaw9_303.png

Am Ende vom Artikel: … etwas Unlauteres im Schilde zu führen! …  statt  … etwas unlauteres im Schilde zu führen! …

Hallo nochmal …

Meinst Du wirklich, den Tanach gebe es erst seit dem 9. Jhdt. in dieser Form?
Hast Du irgendwelche stichhaltigen Belege für diese - ich sage mal: etwas abenteuerliche - These?

… denke, dass nach meinen Erläuterungen zu der „Synode von Jamnia“ und dem „hebräischen Standardtext“ bzw. dem „hebräischen Standard-Konsonantentext der großen Synode von Jamnia um 100 n.Z.“ bei diesem Deinem Einwand mehr oder weniger die Luft raus ist, er keine Substanz mehr besitzt - insbesondere die „Abenteuerlichkeit“ …

… möchte Dir aber trotzdem keine Antwort schuldig bleiben.

Beispiele für eine andere Gestalt des offiziellen hebräischen Textes vor dem der Ben Aschers gäb’s viele, nicht wenige davon - auch für eine Exegese interessante - beträfen die Vertauschung von Eigennamen, z.B.

Gn 18:22 [„Tiqqun Sopherim“: **** ↔ Abraham, alle Versionen, d.h. eine sehr alte „Emendation“!], wobei sich hier die Frage stellt, ob es tatsächlich eine lobenswerte, gottesdienstliche Handlung wäre, an der Zurechnungsfähigkeit von **** Zweifel zu äußern - etwas, das Abraham bei der Opferung seines zuvor noch groß verheißenen Sohnes nicht tat!
[„was aber Jehova betrifft, er stand noch vor Abraham“] http://www.jw.org/de/publikationen/bibel/1-mose/18/#…
[„Tiqqune Sopherim“: Emanuel Tov, 1992; Seite 66] http://books.google.de/books?id=egDUOjN1qI4C&pg=PA11…
[„Tiqqune Sopherim“: Ernst Würthwein, 1995; Seite 17] http://books.google.de/books?id=FSNKSBObCYwC&printse…

Ex 20:1 [LXX & Hieronymus = κυριος/dominus (= HERR); S amaritanus & M asoreticus = אלהים (= Gott)], wobei aber S  &  M den ursprünglichen Wortlaut bewahrt haben - fatal, wenn (wie eine gewisse ultraextreme Splittergruppe der Juden, besser Sekte einer Sekte, die sich selbst natürlich nicht als „Juden“ bezeichneten) nun nicht das mündliche „Gesetz“ (Talmud), auch nicht der Tanach oder der Pentateuch, sondern lediglich der Bundesschluss am Sinai [Ex 24:4] als „Thora“ anerkannt wird, enthaltend nur die Worte des HERRN [****], nicht die Stimme von Gott [אלהים], z.B. den Dekalog mit seinem Mordverbot - die LXX und Hieronymus anscheinend solchem durch eine Namensänderung vorbeugen wollten.

Dt 32:8 [„Söhne Gottes“ ↔ „Söhne Israel“] http://www.sas.upenn.edu/~jtigay/nelc150slides/slide…
[Herder-Bibel, 1965 (kath.)] „Als der Höchste die Sitze der Völker verteilte, / als er die Menschheit aufteilte, / legte er den Völkern Grenzen fest / nach der Zahl der Söhne Gottes.“
http://ccmz.info:10080/bexpo/german/gerhrda/index.ph…
[Einheitsübersetzung, 1980 (kath.)] „Als der Höchste (den Göttern) die Völker übergab, als er die Menschheit aufteilte, legte er die Gebiete der Völker nach der Zahl der Götter fest;“
http://www.bibleserver.com/text/EU/5.Mose32
[Vetus Latina, Übersetzung der LXX („αγγελων θεου“ = „Engel Gottes“), ca. 150 n.Z.] „Cum divideret Excelsus gentes : quomodo dispersit filios Adam, statuit fines gentium secundum numerum angelorum Dei.“
[„Vetus Latina“, Pierre Sabatier, 1743] http://archive.org/stream/bibliorumsacroru01saba#pag…

[Einem evangelischen Pfarrer ist es erlaubt, seine Predigten aus der „Lutherbibel“, der „Zürcher Bibel“ und der „Einheitsübersetzung“ zusammenzustellen - notwendig, da sich Johannes 10:34ff auf eben diese (ursprüngliche) Lesart bezieht, entgegen dem Masoretischen Text!]

Hatte mir als Beispiel Genesis 6:5-8 herausgesucht, die unterschiedlichen Gottesnamen an dieser Stelle durch die Jahrhunderte vor den Ben Aschers - ausschlaggebend gewesen z.B. für die „Quellenhypothese“ … auch eine Art von misslungener „Exegese“! Leider fehlt mir noch eine Information dazu, habe aber hier eine diesbezügliche Frage gestellt:
[„Bibel gesucht: Luthers lateinischer Grundtext“] /t/bibel-gesucht-luthers-lateinischer-grundtext/7296756

Wir könnten die Sache aber auch kurz machen, hier abbrechen …?