Hintergrundinformationen für den Fragesteller
Meinst Du wirklich, den Tanach gebe es erst seit dem 9. Jhdt. in dieser Form?
Hast Du irgendwelche stichhaltigen Belege für diese - ich sage mal: etwas abenteuerliche - These?
Diese Deine Antwort ließe in mir den Verdacht aufkommen, dass Du vom hebräischen Bibeltext überhaupt keine Ahnung haben könntest - was aber gar nicht sein kann, denn ich kenne das Unterrichtsmaterial der theologischen Fakultäten. Allerdings ist es genau das Problem des Fragestellers („Mit anderen Worten: Ich habe Probleme damit, das AT nicht als antiken Text zu lesen … Wie finde ich Zugang vor allem im Hinblick auf meine Prüfung?“), wobei Dein eingangs zitierter Kommentar auf meine Antwort alles andere als eine Hilfe zu einer Lösung des Problems darstellt, das für den Fragesteller bei der Prüfung ein Hindernis zu sein scheint:
Unter Theologen war es schon lange bekannt, dass z.B. die griechische Übersetzung (Septuaginta = LXX = [G], 1. Hälfte des 3. Jahrhunderts v.Z.) häufig einen anderen Inhalt bietet als der (jeweilige) hebräische Text der Juden. Entweder waren an dieser „Übersetzung“ Wahnsinnige beteiligt, unterstützt von Banden skrupelloser Lügner, die diesen Unsinn Unwissenden als gute und treffliche Übersetzung andrehen wollten, oder der hebräische Text hatte sich im Laufe der Jahrhunderte geändert; „geändert“ wurde (nur) die LXX durch Origenes Anfang des 3. Jahrhunderts n.Z. (ca. 230-240 n.Z.), als er für seine „Hexapla“ - eine Gegenüberstellung des griechischen und hebräischen Wortlautes der Bibel - unter den verschiedenen LXX-Lesarten jene heraussuchte, die dem zu seiner Zeit aktuellen hebräischen Text der Juden am nächsten standen. Leider sind daher nur noch sehr wenige „echte“ LXX-Fragmente aus der Zeit vor Origenes vorhanden. Ab 1947 hat man in Qumran Fragmente hebräischer Handschriften gefunden, die vom bekannten jüdischen hebräischen Text abweichen, eben jene „Sonderlesarten“ der LXX enthalten (z.B. Deuteronomium zum „Moseslied“, 4 Q Dtn 32), die von manchen fanatischen Gelehrten als „unecht“ angezweifelt und verworfen worden waren.
Im Jahre 1616 wurde dem Abendland der Samaritanische Pentateuch [S] in seinem vollem Umfang zugänglich gemacht, der an vielen Stellen etwas anderes bot als der hebräische Text der Juden [M], z.B. diverse ergänzende Erweiterungen, von denen ebenfalls in Qumran Fragmente gefunden wurden - nicht samaritanischen, sondern jüdischen Ursprungs!
[Ernst Würthwein, „Der Text des alten Testaments“, 5. Auflage 1988, Seite 54f (auszugsweise; von mir geänderte Sigel für die Handschriftengruppen „Samaritanus“, „LXX“ und „Masoreticus“)]
„Das Problem des samaritanischen Pentateuchs besteht darin, daß er in etwa 6000 Fällen von M abweicht. Eine große Zahl dieser Varianten ist freilich rein orthographischer Art (vor allem häufigere plene-Schreibung), und viele andere betreffen Kleinigkeiten, die den Sinn nicht beeinflussen. Bemerkenswert ist aber, daß S in etwa 1900 Fällen mit G gegen M zusammengeht *. … So gelangen wir für S in eine relativ frühe Zeit, die es ausschließt, ihn als von M abhängig anzusehen. Vielmehr ist ein sehr zu beachtender Zeuge für eine Textgestalt, die einmal weit verbreitet gewesen sein muß, wie die Übereinstimmung mit den Qumrantexten, der Septuaginta, dem Neuen Testament und einigen der Revision durch das offizielle Judentum entgangenen jüdischen Texten zeigen.“
[Die Fußnote dazu]
* Auch das Neue Testament stimmt an einigen Stellen mit S gegen M überein, so in Apg 7,4 und 7,32, vielleicht auch in Hebr 9,3f. Indes wird das Neue Testament auf einen griechischen Pentateuchtext zurückgehen, der allerdings in der Textgestalt an den betreffenden Stellen S nahestand.
Online-Textausgaben des Samaritanus:
[Gall, „Der hebräische Pentateuch der Samaritaner“, 1918] http://books.google.de/books?id=6wedbFREAjwC&lpg=PP1…
[Blayney, „Pentateuchus Hebraeo-Samaritanus“, 1776] http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/d…
[Petermann, „Pentateuchus Samaritanus“, 1872] http://www.archive.org/stream/pentateuchussama00pete…
[Samaritanische Schrift (rechte Seite unten)] http://archive.org/stream/dasbuchderschri01faulgoog#…
Natürlich hat man in den Höhlen von Qumran, ab 1963 auf der Felsenfestung Masada etc. (d.h. sowohl aus der Zeit vor 70 n.Z. als auch aus der kurz nach der Zerstörung des Tempels) ebenso diverse Textfragmente gefunden, die - im Gegensatz zu den beiden vorstehend genannten, mit dem Samaritanus und der Septuaginta übereinstimmenden Versionen - dem Masoretischen Text der Ben Ascher nahestehen, nur geringe Abweichungen von diesem aufweisen.
Abweichende Lesarten aus den Jahrhunderten vor dem Text der Ben Ascher (Beispiel):
[Ernst Würthwein, „Der Text des alten Testaments“, 5. Auflage 1988, Seite 13f/24 (auszugsweise; von mir geändertes Sigel für den „Masoreticus“)]
„Aus dem 6.-8. Jahrhundert gibt es zahlreiche Fragmente, die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Synagoge von Altkairo (seit 882 Synagoge, vorher St. Michaelskirche) gefunden wurden. Sie befanden sich dort in der Geniza, das heißt in einer Art Rumpelkammer, in der man unbrauchbar gewordene oder unkorrekte Handschriften bis zu ihrer endgültigen Vernichtung verbarg (aramäisch = verbergen), um Mißbrauch oder Profanierung einer den heiligen Gottesnamen enthaltenden Handschrift auszuschließen. … / … Allerdings wissen wir heute, besonders durch das Material aus der Geniza von Kairo, daß es noch Jahrhunderte hindurch Texte mit - allerdings nicht sehr zahlreichen - abweichenden Lesarten gab, und dasselbe läßt sich erschließen aus von M sich unterscheidenden Zitaten jüdischer Gelehrter bis ins 8. Jahrhundert und darüber hinaus.“
[Ernst Würthwein, „Der Text des alten Testaments“, 5. Auflage 1988, Seite 29 unten (Fußnotentext zu den Fragmenten mit Palästinischer Punktation aus der Geniza von Kairo; auszugsweise)]
*… Eine umfassende Untersuchung (mit Forschungsbericht, Katalog aller ‚palästinischen‘ Bibelfragmente, Sammlung abweichender Lesarten u.a.) hat B. Chiesa vorgelegt: … Turin (1978). Er führt die besondere ‚Textfamilie‘ dieser Texte (der hebräischen Vorlage der griechischen Übersetzung nahe) zurück auf priesterliche Gruppen, die nach 70 n.Chr. nach Nordarabien (Hidschas) auswanderten und unter islamischen Druck, besonders unter dem Kalifen Omar (634-644), nach Palästina (südliches Jordantal) zurückkehrten. Blütezeit der ‚palästinischen‘ Punktation nach Chiesa ca. 700-850.
Der Bibeltext der Ben Ascher aus dem 9./10. Jh.n.Z. war (auch) zu seiner Zeit nur eine unter vielen voneinander abweichenden Lesarten dieser kürzeren Textversion (der Pharisäer?) - die einen mehr, die anderen weniger - und nichts deutet darauf hin, dass die Lesart der Ben Ascher unter diesen eine besondere Stellung, eine übergeordnete Autorität besaß … das Gegenteil wäre sogar der Fall!
Abweichende Lesarten aus den Jahrhunderten nach dem Text der Ben Ascher (Beispiel):
In den kritischen Apparaten der Biblia Hebraica aus Stuttgart (Deutschland) wurden zu zahlreichen Textstellen auch ausgewählte abweichende Lesarten aus den großen Sammlungen wie z.B. der Variantensammlung von Kennicott mitgeteilt, meistens ohne Nennung der Quelle/n pauschal als „Ms(s)“ = „eine oder mehrere hebräische Handschriften nach Kennicott etc.“, " pc Mss" = „wenige, d.h. 3-10 Handschriften“, " nonn Mss" = „einige, d.h. 11-20 Handschriften“, " mlt Mss" = „viele, d.h. mehr als 20 Handschriften“ und " permlt Mss" = „sehr viele,d.h. mehr als 60 Handschriften“ - nur in wenigen Fällen (z.B. im Deuteronomium) auch die entsprechende/n Nummer/n der Handschrift/en. Weder das (relativ junge) Alter der Handschriften, noch deren Masse/Anzahl hätten irgendein Gewicht - bisweilen ist die Lesart der Ben Ascher aber jene, die aus der Norm fällt …
Was sich hinter diesen Nummern für Handschriften verbergen (würden), kann man z.B. hier nachlesen:
http://www.bsb-muenchen-digital.de/~web/web1041/bsb1…
[Ernst Würthwein, „Der Text des alten Testaments“, 5. Auflage 1988, Seite 48f (auszugsweise)]
" c) Benjamin Kennicott, 1718-1783 … veranstaltete eine umfangreiche und bis heute gebrauchte Variantensammlung: … 2 Bände, Oxford 1776-1783. Kennicott bietet den masoretischen Text nach der Ausgabe des Holländers van der Hooght von 1705, den samaritanischen Text nach der Londoner Polyglotte von Walton, 1653-57. In dem umfangreichen Apparat werden Abweichungen von über 600 hebräischen Handschriften, 52 Ausgaben und 16 samaritanische Kodizes notiert, soweit sie den Konsonantentext betreffen. …
d) Keine Ausgabe, sondern lediglich eine Variantensammlung ist das Werk von J.B. de Rossi *. Es bietet ausgewählte und wichtigere Lesarten aus 1475 Handschriften und Ausgaben. Das berücksichtigte Material ist also gegenüber Kennicott stark vermehrt, zugleich zuverlässiger bearbeitet. Auch de Rossi notiert nur Abweichungen im Konsonantentext. …"
[Die Fußnote dazu (auszugsweise)]
*… 4 Bände, Parma (1784/88). …
Die Abweichungen von dem Text der Ben Ascher betreffen meist mit den Sonderlesarten der anderen Versionen (Samaritanus, LXX, Peschitta, Vulgata, Targume etc.) übereinstimmende Lesarten, z.B. BH² zu Gn 2:20 [hebräischer Text nach der „Bombergiana“]
http://agiw.fak1.tu-berlin.de/Auditorium/Bibel/SO_2/…
… es hatte sich gegenüber den Handschriften vor dem 10. Jh. nur das geändert, dass diese mittelalterlichen Texte übereinstimmend auch die Besonderheiten der Bibel Ben Aschers bieten - wobei bei einigen nicht klar ist, ob sie eigenständige Texte auf alten Vorlagen sind, in denen das Sondergut der Ben Ascher eingearbeitet wurde, oder ob sie „Kopien“ des Aschertextes sind, in denen wichtige, alte Traditionen der Schreiber festgehalten wurden.
[Ernst Würthwein, „Der Text des alten Testaments“, 5. Auflage 1988, Seite 23f (auszugsweise; Fettgeschriebenes und Unterstrichenes von mir hervorgehoben)]
„Die hebräischen Handschriften aus dem Mittelalter zeigen ein auffallend einheitliches Bild des Textes, selbst in der Form gewisser besonders geschriebener Buchstaben und in anderen Kleinigkeiten.
Als plausibelste Erklärung dafür galt lange Zeit die von P. de Lagarde erstmals 1863 ausgesprochene These, die hebräischen Handschriften des Mittelalters gingen alle auf ein einziges Exemplar, auf einen im 2. Jahrhundert n.Chr. geschaffenen Archetypus, zurück. Richtiger hatte E.F.C. Rosenmüller gesehen, als er 1797 alle noch erhaltenen Handschriften des hebräischen Textes auf eine Rezension zurückführte; doch blieb seine Erkenntnis lange unbeachtet, obwohl er sie 1834 in dem Vorwort der Tauchnitzschen Edition des hebräischen Alten Testaments wiederholte.&nsp;… Auch die von Hempel für das Dtn nachgewiesene Tatsache, daß eine Gruppe mittelalterlicher masoretischer Handschriften in vielen Einzelheiten mit dem Text des Samaritanus übereinstimmt, ist meines Erachtens so zu erklären, daß die nichtmasoretischen Texte noch längere Zeit in der Textüberlieferung nachwirkten. Man hat also anzunehmen, daß der von etwa 100 n.Chr. an autoritative Konsonantentext nicht von heute auf morgen alle anderen Textformen verdrängte, sondern daß - vor allem private - Handschriften mit abweichender Textgestalt noch lange in Umlauf blieben.“
[„Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft“, 1889, Seite 303]
http://archive.org/stream/zeitschriftfrdi07goog#page…
Richtig hatte Würthwein vermerkt, dass Lagarde um 1863 erstmals die Vermutung äußerte, dass alle (damals) existierenden Handschriften auf einen einzigen „Mustertext“ aus dem 2. Jahrhundert n.Z. zurückgehen [dass es sich dabei keinesfalls um den frühmittelalterlichen Text der Ben Ascher aus dem 10. Jahrhundert handeln kann, dafür wohl eher jene überlieferten und von diesem Text abweichende Lesarten in Frage kämen, die mit dem Text des Hieronymus, der Septuaginta (Origenes’) oder dem Samaritanus (bzw. dem NT?) übereinstimmen - besonders in Fällen, wenn alle drei das gleiche bieten gegen Ascher - oder von älteren „falschen“ masoretischen Zählungen bestätigt werden, wäre selbstredend!], nur wurde diese These Lagardes (ebenso wie die von Rosenmüller) keineswegs „lange (?) Zeit“ akzeptiert, sondern abgelehnt, da jegliche historischen Belege dafür fehlten. Diese These von einem „Standardtext um 100 n.Z.“ wurde erst Anfang des 20. Jahrhunderts ausgegraben (wie die Geschichte von der „großen Synode von Jamnia“) und in diversen Machwerken kunstvoll ausgeschmückt, ähnlich dem „Aristeasbrief“, mit 72 Gelehrten (je sechs für die Stämme Israels) die nach der Zerstörung des Tempels zusammenkamen, einen verbindlichen Konsonantentext festgelegt hätten …
Würthwein bietet zwar eine relativ gute Einführung in die Geschichte des ATs für Laien und Anfänger, daher von mir hier zitiert, scheint aber mit dem fortlaufend in seine Abhandlung eingeflochtenen „Standardtext um 100 n.Chr.“, den er jetzt sogar mit dem Text Aaron ben Aschers (Aleppokodex/Leningradensis B19) in Verbindung bringt, etwas unlauteres im Schilde zu führen! Ohne ein solches Gerücht würde eine Exegese für Juden & Protestanten (auf der Grundlage eben jenes Textes) auf sehr wackeligen Beinen stehen, zudem hatte der damals amtierende levitische Priester den Aschertext als Fälschung zurückgewiesen, mit Verweis auf die levitische Thora, dem Urtext.
Ich wünsche Dir für die Prüfung viel Erfolg - sollten noch Fragen sein, bliebe Dir Zeit bis zur Archivierung der Forumsartikel.
joejac