weiß jemand, welche Hauptunterschiede zwischen den beiden Diagnosen komplexe PTBS und andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung bestehen?
Der Übergang mag fließend sein, mich würde dennoch interessieren, in welcher Hinsicht das eine bestimmt und das andere ausgeschlossen werden kann.
Ich bin zunächst geneigt zu fragen: Wer fragt? oder besser: Was ist die Intention der Frage?
Das ist eine Frage, die sehr komplex ist.
Beides Bezeichnungen beschreiben ähnliche Störungsbilder bzw. beziehen sich auf ähnliches Patientengut. Der Hauptunterschied ist der, dass die „andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung“ ICD 10 und die Komplexe PTBS ICD 11 ist. Damit läge man schon ziemlich richtig - und würde die Frage auf Problem der Codierung reduzieren. Was dem aber nicht gerecht würde.
Tatsächlich hat man gerade im Bereich PTBS (als Dachbegriff) einiges verschoben. Es sind manche Kriterien weggefallen oder anders gruppiert worden. Die alte Diagnose der Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung hat in der Praxis kaum Anwendung gefunden. Einer der Gründe: Sie war als Persönlichkeitsänderung klassifiziert. Mit der Einführung der kPTBS hat man im neuen ICD11 das Störungsbild als Spezialform der PTBS eingeführt. Es müssen damit die Kriterien der PTBS erfüllt sein und zusätzlich gewisse Kriterien erfüllt werden, die auf die Dauer eingehen und auf die Komplexität gewisser Symptome. Diese engere Kopplung führt dazu, dass eine kPTBS die Erfüllung der PTBS-Kriterien zwingend voraussetzt.
Beispielhaft für andere Schwerpunktsetzungen sei der Bereich Misstrauen erwähnt, dem bei der andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung noch eine sehr hohe Bedeutung zu kam.
Und um das Spielchen noch ein wenig zu verkomplizieren: Der ICD11 ist zwar im vergangenen Jahr verabschiedet worden, liegt aber bisher nur in Englisch vor. Wir befinden uns hier in Deutschland also in einer Übergangsphase, in der noch alt codiert wird, obwohl man neu schon kennt.
Ich bin Betroffener und habe im Rahmen eines stationären Aufenthalts den Traumahintergrund (auf allen drei Ebenen und über Jahre) erst mit 40 und durch psychiatrische Hilfe „geschnallt“. Diagnose ist u.a. die kPTBS. Komplex in Klammern, weil ICD 10. Es sind alle Merkmale der einfachen PTBS und alle zusätzlichen Merkmale der komplexen vorhanden. 40 Jahre war ich unbehandelt, aber (natürlich) immer umfassend belastet.
Mir ist nach Kontakten mit vielen anderen Betroffenen mit kPTBS aufgefallen, dass ich mich schon noch punktuell unterscheide und z.B. das erwähnte Misstrauen und die feindliche Haltung gegenüber der Welt, sozialer Rückzug, Leere, sich permanent bedroht zu fühlen, Benommenheit und - eben weitaus ausgeprägter - ein ständiges erhöhtes Level an Angst mit entsprechenden körperlichen Reaktionen erkenne, ich bezeichne es als Angsmodus und der unterscheidet sich deutlich. Eine Persönlichkeitsstörung noch nach ICD 10 liegt nach Experteneinschätzung nicht vor, auch keine Angststörung.
Die Grenzen sind fließend, dennoch hilft es mir, wenn ich mich auch selber informieren bzw. andere therapeutische Schwerpunkte setzen kann. Diagnosen sind nicht das Entscheidenste, das ist mir bewusst.
Wäre es einigermaßen stimmig zu sagen, dass für die Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung die kPTBS (und dadurch auch die PTBS) Voraussetzung ist PLUS ausgeprägterer bzw. zusätzlicher Kriterien? Und dass es chronisch ist und sich eben auch nicht mehr groß therapeutisch verändern wird, abgesehen von Linderung einzelner Symptome?
Unter diesen Symptomen ist keines, was sich nicht in die Diagnose einer kPTBS einordnen lässt. Auch deinen Hinweise bezüglich eines Vergleichs mit anderen Betroffenen kann dir nicht weiterhelfen. Einerseits gilt für die meisten dieser Störungsbilder, dass es einen Katalog möglicher Symptome gibt, von denen nicht alle zutreffen müssen, es gibt Muss-kriterien und Mindestschwellen, aber außerhalb kann es immer vorkommen, dass jemand ein Kriterium nicht erfüllt, das ein anderer erfüllt.
Dann erleben Menschen auch Dinge anders und sind so auch schwer festzumachen. Am Beispiel des Misstrauen gleich unten noch mehr, wenn es um Differenzialdiagnostik geht.
Ich bin mir zudem nicht sicher, ob es da überhaupt um eine wirkliche Abgrenzung zwischen den genannten Störungsbildern geht. Wie ich beschrieben habe, kann man heute nicht nach entweder oder codieren! Man muss in einem Codierungssystem bleiben. Und es gibt keinesm was beide Störungen nebeneinander vorsieht. Noch gilt bei uns ICD10 (ohne kPTBS) undkünftig ICD11 (mit kPTBS9 Eine eventuell parallel Verwendung hat mit der Übergangsphase zu tun und auch damit, dass schon vor 22 oft zumindest intern die kPTBS in Gebrauch war (obwohl es sie „offiziell“ nicht gab), weil man mit der Verschlüsselung als anhaltende Persönlichkeitsveränderung unzufrieden war und die kaum genutzt wurde.
Dann fällt mir auf, dass du immer wieder den Begriff der Persönlichkeitsstörung verwendest. Weil du ihn mit Persönlichkeitsveränderung verwechselst, das für dich synonym ist? Ist es nicht! Die Persönlchkeitsveränderung nach Extrembelastung ist im Erwachsenenalter erworben und geht auf schwere traumatische Erfahrung zurück. Es gibt allerdings tatsächlich einige Persönlichkeitsstörungen, die gewisse Parallelen haben und auch sogar komorbid, also gleichzeitig auftreten können. Das sind dann aber andere: Borderline Persönlichkeitsstörung (BPS), paranoide BPS, histrionische und ängstliche BPS. Sie alle weisen Einzelsymptome oder mehrere davon auf. Aber sie unterscheiden sich u.a. in Ausprägung, Häufung und Ursache.
So können „Flashbacks“ Intrusionen auch bei fehlendem Hintergrund über die Ursache als psychotisches Erleben gewertet werden. Besonders häufige macht auch der Komplex Vertrauen / Misstrauen Probleme bei der Abgrenzung. Das liegt zum Einen am Konzept Vertrauen / Misstrauen. Dort gibt es unterschiedliche Ansätze. Die einen sehen beides auf einer Achse. Das bedeutet: Fehlt Vertrauen völlig, dann muss das hohes Misstrauen sein. Die Anderen sehen beides auf zwei verschiedenen Achsen. Völlig fehlendes Vertrauen ist dann „kein Vertrauen“. Damit kann, aber muss es kein Misstrauen sein.
Diese Unterscheidung ist gravierend im Umgang mit Menschen, die sehr schlechte Erfahrungen gemacht haben. Vertrauen kann man nicht einfach anknipsen, wenn es nicht da ist. Traumatische Erfahrungen schädigen das Vertrauen massiv. Sie können sogar das Urvertrauen angreifen. Bei Mensch gemachten Traumata ist es häufig so, dass das nicht nur das Thema der traumatischen Erfahrung selbst betrifft (und damit einen bestimmten Personenkreis), sondern sich generell auf zwischenmenschliche Beziehungen.
Nur bedeutet nicht Vertrauen können aber nicht automatisch Misstrauen. Das führt in der Interaktion aber besonders oft dann zu Problemen, wenn das Gegenüber Vertrauen / einen Vertrauensvorschuss erwartet. Das gilt in Beziehungen aber auch in bestimmten gesellschaftlichen Konstellationen. Gegenüber dem Arzt, aber auch gegenüber Justiz oder Polizei. (Gab es da bei dir schon mal Probleme)
Dazu könnte man noch viel mehr schreiben. Ich beschränke das mal an der Stelle. Nur so viel: Aus dieser Konstellation ergeben sich sehr häufig Konfliktsituationen im Alltag, die dann wiederum Spuren in der Biografie ziehen. Das gilt sowohl für die (regelmäßigen) Personen, mit denen es dazu kommt (auch Ärzte!), als auch im privaten oder beruflichen Umfeld. Alleine daraus kann sich dann die Überzeugung entwickeln, dass „ganz tief in mir etwas nicht stimmt“.
Und das ist dann das Problem bei psychischen Erkrankungen im Vergleich zu physischen. Wenn nach einem Unfall schwere körperliche Verletzungen vorhanden sind und Folgebeschwerden machen, entstehen solche Gedankengänge in der Regel nicht.
Zum Schluss noch zur Aussicht: Nein, es ist nicht richtig die Unterscheidung zwischen beiden an einer Zeitachse festzumachen und schon gar nicht bezogen auf die Aussichten. Abgesehen davon, dass die Trennung zwischen „beiden“ nicht wirklich taugt. S.o. Grundsätzlich kann man bei Traumafolgestörungen immer sagen: Das Erlebte ist Bestandteil deiner Biografie. Es ist so. Genauso wie sehr positive Erlebnisse da in deinem Rucksack sind.
Aber man kann auch mit solchen Erfahrungen sehr gut leben. Man kann lernen, damit umzugehen. Man kann dadurch erreichen, dass negative Folgeerfahrungen nicht mehr oder zumindest seltener auftreten. Man wird Chef / Chefin und nicht mehr durch die Störung bestimmt. Man kann wieder Positives ins Leben lassen und genießen. Man kann auch glücklich sein. Schatten werden dann überdeckt und / oder mit der Zeit blasser. Man kann aus dem Erlebten eine besondere Energie ziehen. Für sich oder auch nach außen. Posttraumatisches Wachstum. Das ist gar nicht so selten. Etwa drei von vier Menschen gelingt es, nach dieser schweren Phase ein zufriedeneres, stärkeres Leben zu führen. Das hat viele Gründe. Drei von vier ist keine Garantie, aber eine Chance.
Hallo noch einmal und sehr lieben Dank für deine ausführliche Antwort.
Am Ende geht’s - da stimme ich vollkommen zu - nicht um Diagnosen, sondern darum, trotz allem ein einigermaßen erfülltes Leben zu führen. Die Ereignisse der Biographie bleiben - auch die Positiven - und es ist möglich, an Einschränkungen zu arbeiten. Es bedeutet zudem, ein intensives Leben zu führen, oft auch ein sehr Kreatives. Tauschen würde ich trotzdem immer noch gerne, aber solche Gedanken helfen natürlich nichts, sind aber wahrscheinlich zwischendurch „normal“.
Drei von vier sind eine ganz gute Quote, das sehe ich auch so. Auch wenn noch Luft nach oben ist, fühle ich mich aber schon fast als einer von den dreien, allein schon deswegen, weil mir endlich bekannt ist, was überhaupt los war/ist und durch die Diagnose weiß, was ich eigenständig tun kann, um zufriedener leben zu können. Dafür sind Diagnosen dann doch hilfreich
Danke erneut für unseren Austausch, hat mich sehr gefreut und ich wünsche dir unbekannterweise alles Gute, Erfüllung und viel Zufriedenheit