Hallo Hans-Jürgen,
wie so viele andere auch übersiehst Du einen wichtigen Grund für den Niedergang der SPD - gerade im Bereich der „klassischen“ Industriearbeiterschaft.
Durch den massiven Abbau der sozialen Sicherungssysteme die sich nicht nur in der Einführung von Hartz IV äußerten, sondern auch im Abbau weiterer wichtiger sozialer Sicherungssysteme wie zB der gesetzlichen Berufsunfähigkeitsversicherung, der Verschärfung der Kriterien für Erwerbsunfähigkeit - verbunden mit einem generellen Abbau der Leistungen von Alters- Erwerbsminderungs- oder Unfallrente - und einer durch zunehmenden Kostendruck bei den Sozialversicherungsträgern ausgelösten Leistunbgsverweigerungspraxis bis weit über die Grenzen des rechtlich Begründbaren hinaus wurden in weiten Teilen der früheren SPD-Kernwählerschaft längst überwunden geglaubte Existenzängste ausgelöst.
Und Du kannst da mit Statistiken operieren, wie Du willst. Auch das die „Agenda“-Reformen angeblich Auslöser des Wirtschaftsaufschwungs waren, ist ja selbst in der Ökonomenzunft reichlich umstritten.
Am Ende bleibt für diese alte Kernwählerschaft die mehr oder wenige diffuse Angst, daß insbesondere bei unverschuldeter Krankheit und/oder Arbeitslosigkeit am Ende unabhängig von der Lebensleistung nur noch Harzt IV bleibt - mit massivster Inanspruchnahme des Erbeiteten.
Als langjähriger gewählter Schwerbehindertenvertreter und Betriebsrathabe ich mit derartigen Schicksalen, bei denen nach Krankengeld und ALG 1 am Ende nur noch Hartz IV bleibt regelmäßig zu tun. Und weiss auch, wie sehr gerade auch diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die eben (noch( nicht davon betroffen sind, auf diese Schicksale schauen. Und das ist nicht nur in meinem Betrieb so.
Denn selbst wenn man persönlich nicht betroffen ist, kennt man Familienmitglieder, freund, Kollegen, die davon betroffen sind und sieht, was dieser Abstieg auslöst.
Dieses Gefühl, daß am Ende zwangsläufig Hartz IV bzw. Grundsicherung stehen könnte ohne jegliche Chance, da insbesondere bei Krankheit wieder aus eigener Kraft 'rauszukommen, dieses GEFÜHL ist einer der Hauptgründe für den Vertrauensverlust in und den zurückgehenden Wählerzuspruch für die SPD.
Und genau dieses Gefühl wird von einem großen Teil des Führungspersonals bis heute nicht zur Kenntnis genommen bzw. ernst genommen. Für eine Partei, die nach wie vor soziale Sicherheit als inhaltliche Kernkompetenz für sich beansprucht; ist dieser Vertrauensverlust nun mal verheerend - vor allem dann, wenn man auch auf weitere gesellschaftlich relevante Probleme wie zB die Klimakrise keine wirklichen Antworten hat und tendenziell auch von möglichen neuen Wählerschichten eher als Teil des Problems denn als Teil der Lösung angesehen wird.
Und an diesem Vertrauensverlust, diesem Mißtrauen wird auch die Personalie Nahles nichts ändern - denn im Führungspersonal sind noch viel zu viele Frauen und Männer, die von ebendieser klassischen Klientel mit Hartz IV und Agenda 2010 in Verbindung gebracht werden. Ganz egal, ob es sich um Scholz, Stegner, Schwesig, Gabriel o.ä. auf Bundesebene oder zB bei uns in Ba-Wü ein Nils Schmid handelt, sie werden alle eher als teil des Problems und nicht als Teil der Lösung wahrgenommen.
Und das dieses Mißtrauen durchaus nicht unberechtigt ist, zeigt ein aktuelles Beispiel aus dem hause des Sozialministeriums von Hubertus Heil.
Leider unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der bundesweiten Öffentlichkeit und der veröffentlichten Meinung plant derzeit seine Ministerialbürokratie einen flächendeckenden Abbau von Rechten behinderter Menschen durch eine „Reform“ - also eine drastische Verschärfung - der Richtlinien für die Bewertung und Beurteilung von Behinderung unter dem sperrigen Titel „6. Änderungsverordnung zur Versorgungsmedizinverordnung“.
Betroffen sind davon ca. 10 Mio. behinderte Menschen in der Republik, die befürchten müssen, daß sich ihr Schutz und ihre Nachteilsausgleiche erheblich reduzieren bzw. sie diesen Schutz ganz verlieren. Darunter auch mehrere Millionen Arbeitnehmer/innen, die aufgrund vielfältigster Änderungen durchaus zu Recht Angst um ihren Arbeitsplatz haben.
Obwohl es dagegen seit einem guten Jahr einen einmütigen Proteststurm von Gewerkschaften und aller Behindertenverbände gibt, äußert sich der SPD-Minister nicht zu der Angelegenheit, sondern läßt seine Bürokratie verharmlosen und leugnen.
Und da soll bei diesen betroffenen Menschen Vertrauen in die SPD entstehen ?
So, daß war jetzt eigentlich fast zu viel für dieses Format, aber Du wolltest es ja unbedingt wissen, warum Du in dieser Debatte allein mit irgendwelchen Statistiken und unbelegten Äußerungen neoliberaler Ökonomen nicht weiterkommen kannst.
Grüße aus Katalonien
&Tschüß
Wolfgang