Hallo,
Hallo Uwe,
Das war 'ne gute Idee, einen neuen Artikelbaum aufzumachen. Womöglich wäre der alte sonst im Archiv verschwunden, ohne dass wir fertigdiskutiert hätten. Ob man das Thema aber irgendwie „fertig“-diskutieren kann, das glaube ich fast nicht. 
Danke für alle Fälle für deine Antwort.
Eine der Hauptintentionen verbaler Sprache als Medium ist die
Übermittlung von Information („hört, hört!“
). Dabei geht
es um größtmögliche Evidenz, sprich Klarheit, oder, anders
ausgedrückt, um Vermeidung von Mißverständnissen. Zur
Optimierung der Evidenz bietet die deutsche Sprache diverse
grammatische Kategorien an. Ich nenne hier als Beispiel die 4
Kasus.
Bis hierhin ist’s absolut korrekt.
So erschließt sich „des Sängers Höflichkeit“ einfach
wesentlich schneller und effizienter dem Rezipienten als „Dem
Sänger seine Höflichkeit“,
Hier muss ich dich unterbrechen (sozusagen, hehe)! Woher nimmst du diese Annahme? Ich finde diese These sehr gewagt, denn dieses Ergebnis erschließt sich nicht logisch oder deutlich aus den Fakten. So etwas müsste man mit EEG, CT oder fMRI überprüfen, bei Sprechern verschiedener deutscher Dialekte, auch der Hochsprache. Für eine Person, die nur Hochdeutsch beherrscht, mag das nämlich korrekt sein, aber es lässt die Sprecher außer Acht, deren Muttersprache (-dialekt) keinen Genitiv besitzt. Wer nun auf dem Land großgeworden ist und dank schlechter Bildung nur seinen Heimatdialekt spricht, wird dem Sänger seine Höflichkeit natürlich viel schneller verstehen als des Sängers Höflichkeit mit einem für ihn ungewohnten Kasus.
Ich habe auch keine Gegenanalyse vorzulegen, muss aber aufgrund meines linguistischen Hintergrundwissens deine Hypothese anzweifeln.
…nicht nur, daß man bei ersterer
Wendung immerhin ein ganzes Wort bzw. zwei Silben gespart hat,
nein,
Das spricht ja eher gegen deine Theorie, da eine höhere Silbenzahl fürs Verständnis eher förderlich als hinderlich ist, einmal aufgrund von Redundanz, einmal auch, weil das Gehirn so die Phrase leichter rekonstruieren kann, sollte einmal ein Geräusch o.ä. dazwischengekommen sein. Das ist in der Psycholinguistik ein bekanntes Prinzip und hängt eng mit der Redundanz zusammen — daher gibt es so etwas in der Sprache auch so häufig.
auch kommt dieser eine größere hermeneutische Evidenz
zu, die gleich mit dem ersten Wort der Phrase („des“) beginnt,
da dieses auf den Genitiv verweist.
Der Begriff „hermeneutische Evidenz“ ist mir nicht bekannt, ich sehe nicht genau, warum das erste Wort „des“ hier so viel weiterhilft. Etwa weil es den Genitiv anzeigt, wobei „dem“ vorm Sänger erstmal auf Dativ hinweist und die Konstruktion dadurch anders heißen könnte? Gut, das ist nachvollziehbar… nur kann der Effekt keine so große Rolle spielen, da bei femininen Possessoren der Artikel im Genitiv und Dativ gleich ist („der“). Zudem werden solche Sätze auch im Hochdeutschen in der gesprochenen Sprache fast nie produziert — wenn, heißt es da allenfalls die Höflichkeit des Sängers. Des Sängers Höflichkeit beschränkt sich fast ausschließlich auf die Schriftsprache; ich denke, da stimmst du mir zu.
Würde, nur mal als Beispiel, der Genitiv verschwinden, so
fehlt uns letztendlich auf Dauer diese sofort begreifbare
Klarheit, die zumindest ich, als „schön“ und „gelungen“
empfinde, da sie Evidenz mit Effizienz kombiniert.
Ja, schön und gelungen mag sein. Da widerspreche ich nicht. Ich sage nicht, dass solche Konstruktionen schlecht klingen oder schlechter sind… aber ich weiß, dass es nicht so einfach ist, zu behaupten, wenn der Genitiv verschwände, kann Possession nur mit Umwegen (das ja), die schwieriger zu verarbeiten sind (das nicht) ausgedrückt werden.
So eine Behauptung bedarf einer guten Analyse und ich könnte mir vorstellen, dass sowas auch schon mal gemacht wurde.
Oder, als weiteres Beispiel, der hauptsächlich im Osten
Deutschlands vorkommende invasive und falsche Gebrauch des
Plusquamperfekt (anstelle des Perfekt oder Imperfekt). Auch
hier sind Mißverständnisse vorprogrammiert.
Meinst du so etwas wie „Ich hatte das gemacht“ oder den (hin und wieder so genannten) Hyperperfekt wie „Ich habe das gemacht gehabt“? Wahrscheinlich letzteres, nehme ich einfach mal an… Dass das typisch ostdeutsch sein soll, hab ich bisher nicht feststellen können, ich hätte’s spontan eher im Ruhrpott verortet, aber keine Ahnung: kann auch ein gesamtdeutsches Phänomen sein.
Hierzu zwei Beobachtungen: Erstens kann ich deiner Behauptung, hier seien Missverständnisse vorprogrammiert, nun gar nicht zustimmen. Eher das Gegenteil ist der Fall, denn es wurde mehrfach von Linguisten die Hypothese aufgestellt, solche scheinbar überflüssigen, die Vergangenheit/Abgeschlossenheit doppelt ausdrückenden Formen sind dem besseren Verständnis halber entstanden. Wie oben erwähnt dient Redundanz ja der besseren Verständigung, da Markierungen wie Tempus, Negation, die Vergabe von thematischen Rollen (Agens, Patiens, Benefizient, Possessor etc.), wenn sie doppelt markiert werden, eine höhere Chance haben, verstanden zu werden, auch unter schwierigeren Umständen (äußere Faktoren wie Lärm oder innere wie mangelnde Konzentration oder einfach komplizierten Satzbau). Dieses Prinzip widerspricht einem anderen linguistischen Prinzip, nämlich dem der Ökonomie: das besagt mehr oder weniger, dass nicht mehr als nötig gesagt werden sollte und bewirkt eher, dass sich Wörter reduzieren und sich Silben abschleifen und sich Redundanz reduziert.
Diese beiden Prinzipien sind im ständigen Wettstreit beim Sprachwandel. Und beide haben ihre Vorteile, logischerweise. Viele Silben helfen dem Verständnis, wenige Silben machen, dass es schneller geht.
Tempus ist eine Kategorie der Sprache, die sich auch stetig im Wandel befindet.
In der Linguistik weiß man: „Dummheit“ (bisschen krass ausgedrückt) mag der Grund für einzeln auftretende Sprachfehler sein, die bei einzelnen Individuen auftreten und sich auch durch Nachahmen verbreiten können. Hier geht’s aber um Dialekteigenschaften und Eigenheiten der Umgangssprache, also keine Einzelphänomene, sondern Effekte, die ganze Regionen mit fast allen Sprechern betreffen, v.a. die, die nicht dem Einfluss des normierten Hochdeutsch unterliegen.
Wie ist das zu erklären? Entweder sind Sachsen, Schwaben, und vor allem Schweizer dümmer als der gemeine Hannoveraner… oder aber, es sind Tendenzen, die in den jeweiligen Regionen aufgrund von Sprachwandel das Verständnis begünstigen. Es wäre töricht anzunehmen, das Hochdeutsche sei das Non-Plus-Ultra in Sachen effiziente Verständigung.
Rudi Keller schreibt in seinem Buch „Sprachwandel“ über die Faktoren, die dazu führen, dass sich Sprache verändert. Natürlich ist keins davon mangelnde Intelligenz oder Schludrigkeit im Umgang mit der Sprache, auch wenn das die „kleinen Auslöser“ zu sein scheinen. Im Endeffekt dienen sie höheren Zwecken, da sie am Ende darauf hinauslaufen, dass z.B. die Redundanz erhöht wird, oder aber überflüssige Laute oder Konstruktionen wegfallen (siehe die beiden Prinzipien oben). So führen augenscheinliche „Fehler“ einzelner Personen über die Verbreitung dieser „Fehler“ hin zu Effekten auf die Sprache selbst — das ist die sogenannte Theorie der unsichtbaren Hand.
Wir wissen auch, dass sich das Deutsche nicht sonderlich viel anders als andere Sprachen verhält. Weiter unten sprichst du von verlorengehender Differenzierbarkeit in der Sprache. Vielleicht denkst du an Beispiele wie der Verlust der Unterscheidung zwischen „dasselbe“ und „das gleiche“ oder ähnliches…
Wenn man aber den Faden mal weiterspinnt, könnte man nach deiner Theorie annehmen, die deutsche Sprache verlöre mit der Zeit an Differenzierbarkeit. Man könne so weniger Unterschiede machen als früher. Das liefe ja irgendwie darauf hinaus, dass unsere Sprache ungenau würde und wir viele Dinge nicht mehr präzise äußern könnten, sondern sie vllt. umschreiben müssten… oder einfach dumm dastehen, wie man so schön sagt.
Wenn das so wäre, müsste man das ja bei anderen Sprachen auch beobachten können. Ich studier nun schon seit bald 6 Jahren Linguistik (ich sollte längst fertig sein, ich weiß -_-) und hab mich auch vorher intensiv mit Sprache(n) auseinandergesetzt — in dieser Zeit habe ich nie, NIE eine Sprache kennengelernt, die in irgendeiner Form an Ausdrucksfähigkeit verloren hätte oder noch schlimmer: die nicht mehr gesprochen werden konnte, weil sie zu einfach geworden wäre. Sprachen wie Latein mögen und sehr kompliziert, sehr schön, sehr präzise und sehr logisch vorkommen, wenn wir sie mit z.B. Spanisch vergleichen, die viele vielleicht als einfach, regelmäßig, schön intuitiv oder so beschreiben würden. Und ja: die Morphologie des Lateinischen ist in der Tat um einiges komplexer als die des Spanischen. Trotzdem würde nie ein Sprachwissenschaftler behaupten, Latein wäre eine viel „reichere“ oder „genauere“ Sprache als das heutige Spanisch. Solche Einschätzungen hört man oft, aber immer nur von Laien.
Ein krasseres Beispiel wäre vielleicht Englisch: früher ähnlich komplex in der Morphologie wie Deutsch, heute fast eine isolierende Sprache, die fast alles mit kleinen Wörtchen und mit Wortstellung ausdrückt, was bei uns mit Flexionsendungen geht. Hat das Englische darunter gelitten? Ist Englisch heute unpräziser und ärmer als das Altenglische? Kann man heute vieles nicht richtig ausdrücken, weil einem die Wörter oder Konstruktionen fehlen? Nein. Natürlich nicht. Sprache passt sich ja automatisch an, wir können immer alles ausdrücken, was wir auch ausdrücken wollen. Die Ausdrucksfähigkeit von Sprache ändert sich nicht im Laufe der Zeit, nur die Methoden ändern sich. Was früher mit Kasus gemacht wurde, wird heute mit Präpositionen gelöst. Und später mal? …ja, vielleicht entstehen dann aus Präpositionen wieder Kasus.
Der bekannte Linguist Givón schrieb einmal: Yesterdays syntax is todays morphology. — Sprache ist im Wandel und findet immer einen Weg, sie wird nicht ärmer, weil wir ja trotzdem noch alles ausdrücken müssen, was wir im Geiste unterscheiden können. Sprache kann also gar nicht ärmer werden.
Wenn Sprachen untergehen, hat das ganz andere Gründe. Dann sind immer andere Sprachen involviert. Aber selbst der Einfluss der Anglizismen (über die ich hier eigentlich nicht reden möchte, weil das wieder ein zu weites Feld ist) ist noch längst nicht so stark, dass man von einer Gefahr oder Bedrohung sprechen könnte. Deutsch ist alles andere als eine bedrohte Sprache.
Es gibt sehr viele Beispiele für derartige „Verflachungen“ in
der deutschen Sprache, denen allen Tendenzen von größerer
Differenziertheit des Ausdrucks hin zu weniger
Differenziertheit innewohnen und die daraus resultieren, daß
der Einzelne Sprachanwender sich keine Gedanken darüber macht,
warum er was wie sagt, sondern einfach nachplappert, was er
irgendwo aufgeschnappt hat.
Ja, den Eindruck bekommt man als Laie, wenn man sich einzelne (als Adjektiv übrigens immer noch kleingeschrieben) Sprachanwender anguckt. Manche plappern das nach, aber dadurch verändert sich die Sprache ja noch nicht. Es ist zwar ein fließender Übergang zwischen dem Nachplappern von „Fehlern“ und dem Sprachwandel, aber dazwischen steht immer die Akzeptanz, geleitet von der unsichtbaren Hand (siehe Keller 1990). Neue Ausdrücke, Wendungen oder Konstruktionen setzen sich nur durch, wenn sie den Sprechern (natürlich fast immer unbewusst) Vorteile bringen… also das Verständnis erleichtern, präziser sind, etwas unnötiges auslassen oder oder oder. Schädliche Veränderungen können sich gar nicht verbreiten, und wenn sie es scheinbar doch tun, treten unvermittelt andere Ausdrücke, Wendungen und Konstruktionen an ihre Stelle.
Wenn also der Genitiv verschwindet, was erstmal fatal erscheinen mag, so wird er sofort durch andere Konstruktionen ersetzt (meist ist’s eher so, dass es schon vor dem Verschwinden Alternativen gibt), wie z.B. der Dativ zusammen mit einem Possessivadjektiv wie eben „der Frau ihr Auto“ und so weiter.
Und ich als Muttersprachler des Sächsischen sage dir: Es gibt überhaupt keine Verständigungsprobleme mit solchen alternativen Konstruktionen mit Dativ. Sowas könnte höchstens interdialektal auftreten, aber dafür gibt’s ja die praktische Kunstsprache „Hochdeutsch“, genau wie man im internationalen Bereich Englisch (oder in meinem Fall noch Esperanto
) benutzen kann.
Man könnte auch sagen, es hat in
solchen Fällen auf seiten des Sprachanwenders noch keine
sprachliche Individuation stattgefunden. Leider gibt es sehr
viele Sprachanwender, die ziemlich wenig darüber nachdenken,
warum sie was wie sagen.
Ja, in der Tat. Aber das ist nur natürlich. Das mag ein Problem für einzelne Leute sein, in unserer Gesellschaft, aber sicher kein Problem für die gesamte Sprache. Die leidet wie gezeigt ja nicht darunter. Nicht auf seine Sprache zu achten schafft soziale Schwierigkeit für den Einzelnen, nicht aber für die Sprache und damit für die Gesamtheit der Sprecher.
Da einer beim andern „abkupfert“,
verbreiten sich die Fehler häufig stärker als die korrekten
Formen.
…und irgendwann ist der ursprüngliche Fehler die verbreitetste Form und muss damit als neue korrekte Form anerkannt werden. Und? Wo ist das schlimm? Wie gesagt verbreiten sich keine Formen, die negative Auswirkungen auf die Verständlichkeit haben. Solche Verbreitungen haben also immer einen Grund, oder vielmehr: einen Zweck.
Auf diese Weise verliert Sprache an
Differenzierungsmöglichkeiten und Evidenz im Ausdruck und
verfällt.
Ich finde es schade, dass du das so siehst. Hast du dich einmal gefragt, warum kein Sprachwissenschaftler der Welt und praktisch kein Germanist mit linguistischer Ausbildung je wagen würde, zu behaupten, die deutsche Sprache verfiele? Ist es nicht seltsam, dass diese Behauptungen immer wieder von Laien breitgetreten werden, oder aber von Journalisten und Buchautoren, wie Bastian Sick, die offensichtlich nur unzureichende linguistische Grundkenntnisse besitzen?
Schon komisch, dass Linguisten immer wieder betonen, dass genau dieser Verfall ein Aberglaube ist, dass Sprachen zwar untergehen können, so etwas aber ganz anders aussieht.
Wie kommt’s, dass auf der Welt noch nie eine Sprache aufgrund von Verlust der Differenzierungsmöglichkeiten verfallen ist? Ich meine, das müsste man ja schon einmal erlebt haben, oder? Noch nie wurden sich schließlich so viele Gedanken um die eigene Sprache gemacht, wie heutzutage… vergleich’s mal mit dem Mittelalter: außer Dichtern und Sängern und vielleicht einigen Schreibern und hohen Adligen hat sich doch kaum jemand um seine Sprache geschert. Damals hätten unsere Sprachen alle viel gefährdeter sein müssen… trotzdem ist keine davon unsprechbar geworden.
Du hast mir meine Frage von neulich detailliert beantwortet und ich habe dir detailliert (vielleicht zu weitschweifig, ich kann mich da manchmal schlecht zügeln) dargelegt, wie der wissenschaftliche Standpunkt zu dem Thema ist… dabei nicht nur meiner, sondern auch der allgemeine. Ich hatte unten neulich ja ein paar Buchtipps gegeben, ich empfehle dir zu dem Thema wirklich einige davon. Zum Thema Sprachwandel ist das Buch von Rudi Keller (wie gesagt ein Standardwerk) sehr zu empfehlen. Wenn du nicht weiter nur auf dein Gefühl und deine Ahnungen vertrauen möchtest, sondern dich mal mit dem wissenschaftlichen Standpunkt vertraut machen möchtest, solltest du es mal lesen. Es ist auch nicht sehr groß: 216 Seiten Text in Taschenbuchformat.
Eine Frage, die noch offenbleibt, die mich noch interessieren würde: Was wird deiner Meinung nach passieren, wenn das mit dem angeblichen Sprachverfall so weitergeht und man nichts dagegen tut?
Worauf läuft es hinaus? Wie sieht das aus, wenn die deutsche Sprache komplett verfällt? Wie malst du dir dieses Szenario aus?
Bin auf die weitere Diskussion gespannt und interessiere mich auch, was andere dazu sagen. Vielleicht möchte sich Immo noch äußern.
Viele Grüße,