Hallo, ich bin etwas verunsichert. Meine Mutter 70 Jahre alt ist seit einigen Jahren bei den Zeuen Jeovahs. Erst war ich skeptisch, aber sie war zufrieden und hat auch wieder Kontakte zu anderen Menschen. Allerdings hat sie mir vor ein paar Tagen gesagt, dass sie eine Verfügung unterschrieben hat, was bedeutet, dass meine Schwester und ich kein Mitspracherecht mehr haben wenn sie z. B. schwer krank wird oder pflegebedürftig oder sie evtl. einen Unfall hat usw. Weiss jemand mehr darüber, koennen wir in so einem Fall wirklich garnichts machen. Danke schon mal für Eure Antwort
Hallo JudithX,
schön, dass Du diese Frage so objektiv in den Raum stellst.
Deine Mutter wird wohl eine „Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht in Gesundheitsangelegenheiten“ (PaVo) erstellt und unterschrieben haben.
Uns als Zeugen Jehovas ist Leben wertvoll und wir möchten auch in Ausnahmesituationen bestmöglich versorgt sein.
Die PaVo hilft Eurer Mutter, in einem Notfall, z.B bei schwerer Erkrankung oder gar bei Bewußtlosigkeit, den Ärzten gegenüber ihren persönlichen Willen kundzutun.
Jeder sollte eigentlich für so einen schlimmen Fall vorsorgen.
In der PaVo kann u.a. geregelt sein, welche Einschränkungen z.B. bei Verwendung von Blutbestandteilen erteilt werden und ob und wie lange lebenserhaltende Maßnahmen durchgeführt werden sollen.
Bestimmt hat sich Eure Mutter hinreichend über diese Themen informiert.
Ich sag nur, Deine Schwester und Du, Ihr könnt froh und erleichtert sein, dass Eure Mutter für den Ernstfall so gut vorgesorgt hat.
Im Notfall muß dann nicht im Schnellverfahren ein Betreuer eingesetzt werden, der so schwerwiegende Entscheidungen treffen muß. Außerdem könnt Ihr versichert sein, dass sich jemand aus der Versammlung intensiv um Eure Mutter kümmern wird.
Natürlich werdet Ihr als Kinder da mit einbezogen werden.
Ein Vorschlag: Laßt Euch doch die PaVo Eurer Mutter in Kopie geben und sprecht sie auf evtl. Fragen an. Vielleicht wäre es auch gut, mit der bevollmächtigten Person Kontakt aufzunehmen.
Gerne kannst Du Dich bei weiteren Fragen an mich wenden.
Ursi
Hallo Ursi,
danke für deine Antwort. In meinem Umfeld stosse ich immer wieder etwas auf Ablehnung bei dem Thema Zeugen Jeovahs, auch wenn ich sage, dass meine Mutter nie so ausgeglichen und zufrieden war. Dass im Ernstfall alles im Sinne meiner Mutter passiert ist natürlich auch in meinem Sinne. Ich kenne es allerdings nicht von Patientenverfügungen, dass nur eine andere Person zuständig ist und nicht die eigenen Kinder. Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Mutter. Sie kann mir oft Dinge zu dem Thema nicht so gut erklären wenn ich Fragen habe. Kannst du mir vielleicht die ganze Gemeinschaft dort etwas erklären. Manchmal habe ich das Gefühl, das steht bei meiner Mutter über allem und das versteht man als Tochter nicht so.
Elvira
Liebe Elvira,
da Jehovas Zeugen überall bekannt sind, wird auch viel über uns geredet. Oft beruht Ablehnung auf Desinteresse oder Fehlinformation. Daher ist es immer gut, Informationen aus „erster Hand“ zu haben.
Gerne erkläre ich Dir Näheres zu unserem Glauben und unserer Gemeinschaft.
Wenn Du das möchtest, schreib mir doch eine EMail: [email protected]
Wir können gerne auch mal telefonieren, denn für nen gemeinsamen Kaffee werden wir wahrscheinlich zu weit auseinander wohnen.
Viele Grüße
Ursel
Hallo Judith,
zunächst einmal möchte ich Dir sagen, dass ich an Deiner Stelle – so wie Du die Situation schilderst – auch verunsichert wäre. Meine Eltern sind in fast dem gleichen Alter, wie Deine Mutter. Und wenn ich mir vorstelle, dass meine Eltern für mich „wildfremden“ Menschen eine Vollmacht geben, die in einem Pflege- oder Notfall über deren Wohl und Wehe entscheiden und ich kein Wörtchen mehr mitzureden habe, egal was „die“ entscheiden, dann würde ich damit auch nur schwer umgehen können.
Wie Du schreibst, hast Du festgestellt, dass Deine Mutter sich im Kreis der Zeugen Jehovas wohl fühlt und sicher hat Sie Dir schon das eine oder andere erzählt, was sie aus der Bibel kennengelernt hat. Das hat sie offensichtlich überzeugt, ansonsten hätte sie sich nicht dafür entschieden, eine Zeugin Jehovas zu werden.
Was das Thema „Patientenverfügung“ betrifft, so wird es medizinisch ja oft von Ärzten und Krankenhäusern angeraten, eine solche Verfügung auszustellen, damit die Angehörigen und das medizinische Personal wissen, wie in einem Fall zu verfahren ist, in dem der Patient nicht mehr für seinen eigenen Willen einstehen kann. Das betrifft konkret bestimmte Behandlungsmethoden, lebenserhaltende Maßnahmen und das grundsätzliche Vorgehen bei Notfällen.
Da Jehovas Zeugen zu den Gemeinschaften zählen, die sich mit außergewöhnlichem Engagement um eine bestmögliche medizinische Versorgung kümmern und die Ärzte dabei sogar aktiv unterstützen, wird natürlich auch den Gemeindemitgliedern empfohlen, für einen medizinischen Notfall vorzusorgen und eine Patientenverfügung auszufüllen und immer bei sich zu haben.
Diese Patientenverfügung, die von Zeugen Jehovas in jedem Land auf die rechtlichen Anforderungen abgestimmt wird, regelt z.B. den Umgang mit Blut und anderen medizinischen Maßnahmen und benennt Vertrauenspersonen und Bevollmächtigte für den Fall, dass der Patient nicht mehr selbst entscheiden kann. Diese Patientenverfügungen sind bindend und werden in den meisten europäischen Ländern mit Rücksicht auf das Eigenbestimmungsrecht des Patienten auch respektiert und medizinisch berücksichtigt.
Da Jehova Zeugen aufgrund Ihrer biblisch begründeten Überzeugung eine Behandlung mit Blut (z.B. Bluttransfusionen) konsequent ablehnen, wird in dieser Patientenverfügung eben auch geregelt, dass der Patient mit einer Behandlung nur einverstanden ist, wenn diese persönliche Überzeugung respektiert wird. Ein paar Infos über die Hintergründe findest Du z.B. unter http://www.watchtower.org/x/200608/article_01.htm und http://www.watchtower.org/x/hb/article_01.htm sowie http://www.watchtower.org/x/20000108/article_01.htm.
Deine Frage „Weiß jemand mehr darüber, können wir in so einem Fall wirklich gar nichts machen?“ verstehe ich so, dass Deine Schwester und Du Euch natürlich ein Mitspracherecht wünscht, wenn Deine Mutter krank oder pflegebedürftig wird. Und auch die Entscheidung, ob die Ärzte im Falle eines Unfalls z.B. lebensverlängernde Maßnahmen ergreifen und welche, möchtet Ihr nicht einfach „Fremden“ überlassen.
Sicher geht es Deiner Schwester und Dir nicht darum, dass Ihr Euch über den Willen und die Überzeugung Eurer Mutter, was eine Behandlung ohne Blut betrifft, hinwegsetzen wollt, sondern dass es Euch einfach darum geht, sie bestmöglich versorgt und betreut zu wissen und alles für sie tun zu können, was möglich und sinnvoll ist, damit es ihr den Umständen entsprechend gut geht.
So gibt es auch Patienten, die für sich z.B. entschieden haben, dass sie trotz einer Krebserkrankung eine Chemo-Therapie rigoros ablehnen und andere Behandlungsmethoden bevorzugen. Und das, obwohl es viele Ärzte gibt, die die Meinung vertreten, dass das die einzig vernünftige Behandlungsmethode ist. Aber es gibt wiederum andere Mediziner, die die Kehrseite der Medaille kennen und deshalb nach erfolgreichen Behandlungsmethoden gesucht und sie gefunden haben, die die Gefahren und Nebenwirkungen der Chemo-Therapie vermeiden.
So war das bei meinen Eltern, … bei beiden! Und dieses Beispiel zeigt gut, dass es wichtig ist, die persönliche Überzeugung eines Patienten zu berücksichtigen und sich nicht darüber hinwegsetzen zu wollen, … ganz unabhängig davon, ob die Überzeugung medizinischer, religiöser oder emotioneller Natur ist und ob man diese Überzeugung teilt oder nicht.
Es gibt heute weltweit zwar sehr viele Ärzte, die für sich selbst eine Behandlung mit Blut ablehnen, … eben wegen der medizinischen Gefahren. Aber den meisten Menschen fällt es schwer, im Notfall wirklich konsequent für den – in erster Linie religiös motivierten – Wunsch eines Zeugen Jehovas nach einer blutlosen Behandlung einzutreten. Das ist der Grund, warum Jehovas Zeugen einer Peron die Vollmacht für den medizinischen Notfall erteilen, die die gleiche religiöse Überzeugung teilt. Denn nur in diesem Fall ist sichergestellt, dass diese religiöse Überzeugung des Patienten auch wirklich respektiert und nicht übergangen wird. Und das respektieren Ärzte und Krankenhäuser im Allgemeinen auch und greifen auf stark optimierte Behandlungsmethoden ohne Blut zurück.
Deine Worte lassen aber vermuten, dass Du weder weißt, wer für einen solchen medizinischen Notfall von Deiner Mutter bevollmächtigt wurde, noch was sie für diesen Fall festgelegt hat und wie die Zusammenarbeit mit Deiner Schwester und Dir aussieht.
Das ist sehr schade, denn es wird in den Gemeinden der Zeugen Jehovas immer wieder klar und deutlich darauf hingewiesen, dass „auch Familienmitglieder, die keine Zeugen Jehovas sind, über [die] Entscheidungen genau informiert“ sein sollten. Und die Bevollmächtigten sollten offen mit Eurer Mutter und Euch darüber sprechen, was im Fall einer medizinischen Not- oder Pflegesituation getan werden soll und inwieweit die Bevollmächtigten Euch mit einbeziehen und auf Eure Meinung Rücksicht nehmen.
Bei Jehovas Zeugen handelt es sich nicht um religiöse Fanatiker. Das sind Menschen, die das Leben sehr schätzen und daher sehr an einer optimalen medizinischen Versorgung interessiert sind. Auch legen sie großen Wert darauf, dass auf die Gefühle der Familienangehörigen Rücksicht genommen wird, soweit das unter Berücksichtigung der persönlichen Überzeugung und Gefühle des Patienten möglich ist.
Ich kann Dir und Deiner Schwester nur empfehlen, mit Eurer Mutter offen über Eure Gefühle und Befürchtungen zu reden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie oder die Bevollmächtigten diese offene Vorgehensweise (wie im letzten Absatz beschrieben) verweigern. Und dann müsst Ihr nicht mehr das Gefühl haben, dass wildfremde Menschen ohne Rücksicht auf Eure Meinung über eure Mutter entscheiden. Denn das wiederspräche voll und ganz der rücksichtsvollen und mitfühlenden Art, die Jesus und sein Vater Jehova an den Tag gelegt haben und noch legen.
Mit einem lieben Gruß
Andreas Neundorf
Hallo Andreas,
vielen Dank für deine ausführliche Antwort, die hat uns wirklich weiter geholfen. Nachdem ich meine Mutter angesprochen habe und sie gemerkt hat, dass es mir um Informationen und um sie selbst geht, habe ich jetzt mehr Klarheit. Denn das war wohl das Problem, dass sie nicht so recht erzählt hat. Sie hatte die Befürchtung bei mir auf Ablehnung zu stossen, das ist immerhin in unserer Familie oft vorgekommen. Jetzt sprechen wir darüber und fühlen uns wohl beide besser.
Ganz liebe Grüsse
Judith
Hallo liebe Judith,
Du glaubst nicht wie sehr ich mich über Deine Rückmeldung freue … und darüber, dass ich ein klein wenig helfen konnte.
Ich wünsche Dir und Deiner Schwester und Deiner Mutter alles erdenklich Gute!
Mit einem lieben Gruß
Andreas
Hallo Judith,
das sieht danach aus, dass Deine Mutter von ihrem verfassungsmäßig garantierten Recht auf persönliche Selbstbestimmung gebracuh gemacht und entschieden hat, wem sie wirklich vertraut, ihren Willen durchzusetzen, wenn sie dies z.B. aufgrund Bewusstlosigkeit nicht selbst tun kann.
Wenn sie Dir weniger vertraut als ihren Glaubensbrüdern und -schwestern, dann könnte das darin begründet liegen, dass sie sich nicht wirklich ernst genommen fühlt.
Juristisch ist es tatsächlich so, dass diese Verfügung eine persönliche Willenserklärung ist, die vor jedem Gericht Bestand hat.
Dreh doch mal in Gedanken die Situation um: Stell Dir vor, Du hast Dich für etwas entschieden, wass Dir unbeschreiblich wichtig ist. Dann meint Dein Kind, es wäre nicht gut für Dich und will genau das Gegenteil. Du hast Dich aber genau informiert und Dir Deine Meinung auf Basis von Umfangreichen Informationen gebildet. Würdest Du dann wollen, dass im Zweifelsfall Dein Kind genau gegen Deinen Willen entscheidet und Du die Folgen dieser Entscheidung zu tragen hast? Würdest Du nicht lieber die Folgen einer Entscheidung tragen, die Du selbst getroffen hast - vor allem wennn Du Dich vorab genau informiert hast?
Rechtlich kannst Du dagegen nichts machen. Wenn Du aber versuchst, Deine Mutter zu verstehen, ist dies ganz bestimmt gut für Euer Familienleben.
Sicher liegt Dir Deine Mutter am Herzen, sonst gäbe es diese Frage hier nicht. Willst Du den Menschen, der Dir so am Herzen liegt, nur dirigieren oder lieber verstehen?
Beste Grüße,
Jochen
Hallo Jochen,
vielen Dank für Deine Antwort. Das was Du schreibst ist schon richtig. Bei mir ist Verunsicherung aufgetreten eben weil ich meine Mutter verstehe und natürlich möchte, dass alles in Ihrem Sinne geregelt ist und weil unser Verhältnis immer auf gegenseitigem Vertrauen aufgebaut war. Beherrscht oder bevormundet haben wir uns gegenseitig nie. Ich würde niemals gegen das was sie entschieden hat auch nur versuchen rechtliche Schritte einzuleiten. Es ist ja nicht immer so, dass jemand der nicht Zeuge Jeovahs ist, grundsätzlich dagegen spricht. Deswegen fällt es mir schwer zu verstehen wie meine Mutter in dieser Sache handelt, aber nicht es zu akzeptieren. Ich verstehe es einfach vom Gefühl her nicht.
Liebe Grüße