Hallo Sitzkissen
Sehr spannendes Thema.
Am besten, setze Begriffe immer in historischer Perspektive, ansonsten bleibst du soz. „Sklave deiner Zeit“.
Das beste mir bekannte Mittel dafür ist das Historische Wörterbuch der Philosophie. Schaue dir dort zunächst die Artikel über diese 2 Begriffe.
Nun, Gerechtigkeit war bis in die Neuzeit immer als eine Tugend verstanden worden. Also eine Einstellung. Eine Disposition (keine blosse Gewohnheit!) des Willens.
Erst mit dem Sozialismus (zunächst romantischen, dann wissenschaftlichen) des 19. Jahrhunderts ist sie als Synonym für einen sozialen Zustand geworden.
Dazu hat die Tatsache geholfen, dass mit der Moderne sich die Moralphilosophie immer mehr mit Verhaltensweisen und immer weniger mit Einstellungen beschäftigt hat (vgl. MacIntyres „Der Verlust der Tugend“).
Der Tugendbegriff ist somit zweitrangig geworden, während er in der klassischen (Aristoteles) und der scholastischen Philosophie (denke mal an die klassische Klassifizierung in den 4 Kardinaltugenden) die zentrale Rolle gespielt hat.
Dieser „soziologische“ Gerechtigkeitsbegriff hat sich durchgesetzt, so dass wir heute mit Gerechtigkeit immer einen sozialen Zustand meinen (Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit hat beispielsweise nichts zu tun mit Tugendethik).
Übrigens: Der Ausdruck „soziale Gerechtigkeit“ ist nur doppelgemoppel und dient nur dazu, vor den (dummen) Hörern besser da zu stehen.
Der Gleichheitsbegriff auf der anderen Seite ist mit der französischen Revolution und deren Trinitätslehre (liberté egalité fraternité) entstanden bzw. zentral geworden, wurde vom sozialistischen Gedankengut übernommen und als Synonym für Gerechtigkeit behandelt.
Eine Darstellung jenes Gerechtigkeitsbegriffs, der 19 Jahrhunderte lang DER Gerechtigkeitsbegriff war und die Moralkultur des Westen geprägt hat, findest du z.B. im Kathechismus der kat. Kirche:
„1807 Die Gerechtigkeit als sittliche Tugend ist der beständige, feste Wille, Gott und dem Nächsten das zu geben, was ihnen gebührt. Die Gerechtigkeit gegenüber Gott nennt man „Tugend der Gottesverehrung“ [virtus religionis].
Gerechtigkeit gegenüber Menschen ordnet darauf hin, die Rechte eines jeden zu achten und in den menschlichen Beziehungen jene Harmonie herzustellen, welche die Rechtschaffenheit gegenüber den Personen und dem Gemeinwohl fördert.
Der gerechte Mensch, von dem in der Heiligen Schrift oft gesprochen wird, zeichnet sich durch die ständige Geradheit seines Denkens und die Richtigkeit seines Verhaltens gegenüber dem Nächsten aus."
Bitte merke dir den Ausdruck „die ständige Geradheit seines Denkens.“
Eine solche Geradheit bezieht sich selbstverständlich nicht nur auf die Tugend der Gerechtigkeit, sondern auf jede Tugend. Es geht hier um die aristotelische Theorie der Einheit der Tugenden: Der Gerechte ist gleichzeitig der Barmherzige, der Tapfere, der Rücksichtsnehmende…
Das hat nichts zu tun mit Gleichheit, würde ich sagen, oder? Zumindest nicht mit das, was wir heute unter Gleichheit verstehen (Gleichbehandlung).
Sitzkissen, es waren mehr oder weniger lose Gedanken von mir. Aber ich denke du solltest die Antwort auf deine Frage in diese Richtung suchen. Zumindest scheint sie mir die angemessene Richtung.
Sie ist sehr spannend eigentlich. Und aktuell. Denke mal an das politische Thema Diskriminierung.
Diskriminierung als Ungleichbehandlung.
Die Beseitigung mancher Ungleichbehandlungen wird uns als eine Forderung der Gerechtigkeit verkauft, und wir akzeptieren es kritiklos.
Antidiskriminierungsgesetze werden uns (mit Erfolg) als Forderung der Gerechtigkeit verkauft.
Aber welche bzw. wessen Gerechtigkeit?
Diese Frage wird nie thematisiert. Warum eigentlich? Vielleicht solltest du in deiner Arbeit auch DIESE Frage ansprechen.
Wie gesagt, um vernünftig Begriffsuntersuchungen vorzunehmen, sollst du sie zunächst in historischer Perspektive setzen. HWP!
Viel Erfolg!
Ernie