Verhältnis von Gleichheit und Gerechtigkeit

Hallo!

In meinem aktuellen Philosophieseminar behandeln wir das Thema Gerechtigkeit.
Als Hausaufgabe bekamen wie die Frage nach dem Verhältnis von Gleichheit und Gerechtigkeit.

Bisher weiß ich so viel:
Gleichheit ist nicht mit Gerechtigkeit gleichzusetzen. Beispiel: Dem Dozenten ist es zu viel 100 Klausuren zu kontrollieren, also gibt er einfach alles Studenten eine 4. Das ist zwar gleich, aber nicht gerecht.
Ungleichheit ist ein beschreibender Begriff und Ungerechtigkeit ein normatives Konzept.
Aus Ungleichheit folgt nicht Ungerechtigkeit, weil da die normative Prämisse fehlt. (deskriptiver Fehlschluss)

Welche Aspekte habe ich übersehen?
Wie kann man diese Begriffe noch ins Verhältnis setzen?

Vielen Dank für eure Hilfe!

Hallo!
Ein etwas schwieriges Thema-.
Grundsätzlich ist anzumerken, dass Gleichheit hier nichts mit Ununterscheidbarkeit von Objekten oder Personen, mit Identität, zu tun hat.
Gleichheit bedeutet in diesem Zusammenhang: Die Mitglieder einer Gesellschaft sollen an allem, was die Gesellschaft ausmacht, gleichen Zugang = Anteil haben. Bedeutet also Chancengleichheit.
Daran scheitert Ihr Beispiel mit dem Dozenten, der aus Faulheit alle alles eingereichten Arbeiten mi4 beurteilt.
(In Ihrem Beispiel: Gleich ist nur die vier, die aber hat jeglichen Aussagewert verloren.Sie hat auch mit der Prüfungsaufgabe nichts mehr zu tun, ist daher auch weder gerecht, noch ungerecht.)

Gleich ist, in ihrem Beispiel, die Aufgabe, welche die Studenten bekommen haben. Das heißt in Bezug auf die Aufgabe (eine Norm, die einen Standard ermittel soll)besteht Chancen-Gleichheit. Der Wert der Arbeiten soll nun bewertet werden, gemessen an einer vorgeschriebenen „Soll“ Lösung.
Unter diesen Voraussetzungen besteht Gerechtigkeit.
Denn: jedem ist es möglich das Wissen, das er benötigt um den höchsten Wert zu erreichen, zugänglich. UND - indem er an der Prüfung teilnimmt, hat er auch den Normen des „Systems Prüfung“ zugestimmt.
Den Teilnehmern widerfährt also Gerechtigkeit, gleich wie das Ergebnis ihrer Arbeit ausfallen wird.
Aber auch hier taucht schon die Frage auf: Ist Gerechtigkeit ein systemgebundenes Phänomen. Dann hätte jedes System eine eigene Gerechtigkeit: Also der Staat, die Turnvereine, die Parteien und so weiter.
Und die generell Frage ist: Wo treffen sich Gleichheit und Gerechtigkeit, so, dass sie indentisch sind?
Das ist eine jeder Fragen, die auch die Philosophie nur schwer beantworten kann. Hier beginnt dann die Metaphysik.
Vielleicht hilft Ihnen da auch eine Arbeit von A. Krebs, Gleichheit oder Gerechtigkeit, weiter.
www.gap-im-netz (genauer weiß ich es nicht mehr, aber einfach googeln.

Mit spätem Gruß
Paulus
PS-bitte Tippfehler zu entschuldigen - denkenund tippen geht bei mir nicht zusammen.

Es gibt eine wegweisende Arbeit von John Rawls ( Eine Theorie der Gerechtigkeit), der diese Sache recht pragmatisch angegangen ist. Er hat zuerst eine Umfrage gestartet in der er die Befragten erklären lassen hat, was sie für gerecht halten. Da gab es durchaus die Forderung: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Geldstrafen werden hierzulande in Tagessätzen ausgesprochen, die für jeden Bestraften gleich sind. Die Höhe des Tagessatzes berechnet sich aber nach seinem Einkommen.

Also überschneiden sich die beiden Begriffe in der Konsequenz.
In der Bedeutung ergibt Gleichheit genauso wenig zwingend Gerechtigkeit wie Ungleichheit.
(Un)gleichheit wird oft nur bei quantifizierenden Sachverhalten sinnvoll einsetzbar. Ein Kilo Federn ist genauso schwer wie ein Kilo Blei. Die Folgen ergeben sich oft wenn diese Quantitäten angewendet werden. Ein Kilo Federn hat wahrscheinlich jeder schon einmal in einer Kissenschlacht an den Kopf bekommen und dies schadlos überlebt, den selben Versuch mit Blei zu starten wäre schon als ernste Absicht zu recht strafbar. Gerechtigkeit ist der komplexere Begriff, da er ohne Individuen, die in einer bestimmten Situation eine bestimmte Behandlung erfahren gar nicht denkbar ist.
Entsprechend hat John Rawls die Antworten seiner Umfrageteilnehmer zu etwa 20 Leitsätzen zusammengefasst, danach im Computer eine Art virtuelle Gemeinde erschaffen und den Computer anhand der Leitsätze Lösungen für alltägliche Konflikte (etwa den Streit um einen zu lauten Rasenmäher) der Gemeindemitglieder suchen lassen.
Diese Lösungen hat er exemplarisch in seinem Buch vorgestellt. Fertig ist er damals mit seiner Theorie nicht geworden. Immerhin haben diese objektiv behandelten Fälle oft Ergebnisse ausgegeben, die jeglichem Gerechtigkeitsempfinden zuwider liefen. Also ist auch heute noch die Suche nach einer gerechten Lösung etwas, das nicht nur mit Logik zu tun hat, sondern dem nur schwer in Definitionen fassbaren Gerechtigkeitsempfinden wird durch einen erheblichen Ermessensspielraum bei Gericht Rechnung getragen. Gleichheit dagegen als ein „Spezialfall“ eines Unterbereichs der Gerechtigkeit, ist ein praktisch gut einsetzbares Konzept, das aber nur in relativ wenigen Fällen sinnvoll einsetzbar ist.

Hallo,

das ist soweit schon ganz richtig.
Vielleicht sollte man noch Gleichbehandlung als Teil/Voraussetzung von Gerechtigkeit von Gleichheit als Prinzip unterscheiden (wie es in dem Beispiel mit der Klausur auch vorkommt).
Es ist gut (und waere auch nicht erstrebenswert), dass man trotz aller Gleichbehandlung keine Gleichheit herstellen kann. Gleichbehandlung hat mit Chancengerechtigkeit zu tun. Aus gleichen Chancen kann jeder etwas unterschiedliches machen, wobei so wenig wie moeglich Hindernisse bestehen sollten.

Viele Gruesse aus Indien - einem Land der Ungleichheit par excellance.

Hallo Sitzkissen

Sehr spannendes Thema.
Am besten, setze Begriffe immer in historischer Perspektive, ansonsten bleibst du soz. „Sklave deiner Zeit“.

Das beste mir bekannte Mittel dafür ist das Historische Wörterbuch der Philosophie. Schaue dir dort zunächst die Artikel über diese 2 Begriffe.

Nun, Gerechtigkeit war bis in die Neuzeit immer als eine Tugend verstanden worden. Also eine Einstellung. Eine Disposition (keine blosse Gewohnheit!) des Willens.
Erst mit dem Sozialismus (zunächst romantischen, dann wissenschaftlichen) des 19. Jahrhunderts ist sie als Synonym für einen sozialen Zustand geworden.

Dazu hat die Tatsache geholfen, dass mit der Moderne sich die Moralphilosophie immer mehr mit Verhaltensweisen und immer weniger mit Einstellungen beschäftigt hat (vgl. MacIntyres „Der Verlust der Tugend“).

Der Tugendbegriff ist somit zweitrangig geworden, während er in der klassischen (Aristoteles) und der scholastischen Philosophie (denke mal an die klassische Klassifizierung in den 4 Kardinaltugenden) die zentrale Rolle gespielt hat.

Dieser „soziologische“ Gerechtigkeitsbegriff hat sich durchgesetzt, so dass wir heute mit Gerechtigkeit immer einen sozialen Zustand meinen (Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit hat beispielsweise nichts zu tun mit Tugendethik).

Übrigens: Der Ausdruck „soziale Gerechtigkeit“ ist nur doppelgemoppel und dient nur dazu, vor den (dummen) Hörern besser da zu stehen.

Der Gleichheitsbegriff auf der anderen Seite ist mit der französischen Revolution und deren Trinitätslehre (liberté egalité fraternité) entstanden bzw. zentral geworden, wurde vom sozialistischen Gedankengut übernommen und als Synonym für Gerechtigkeit behandelt.

Eine Darstellung jenes Gerechtigkeitsbegriffs, der 19 Jahrhunderte lang DER Gerechtigkeitsbegriff war und die Moralkultur des Westen geprägt hat, findest du z.B. im Kathechismus der kat. Kirche:
„1807 Die Gerechtigkeit als sittliche Tugend ist der beständige, feste Wille, Gott und dem Nächsten das zu geben, was ihnen gebührt. Die Gerechtigkeit gegenüber Gott nennt man „Tugend der Gottesverehrung“ [virtus religionis].
Gerechtigkeit gegenüber Menschen ordnet darauf hin, die Rechte eines jeden zu achten und in den menschlichen Beziehungen jene Harmonie herzustellen, welche die Rechtschaffenheit gegenüber den Personen und dem Gemeinwohl fördert.
Der gerechte Mensch, von dem in der Heiligen Schrift oft gesprochen wird, zeichnet sich durch die ständige Geradheit seines Denkens und die Richtigkeit seines Verhaltens gegenüber dem Nächsten aus."

Bitte merke dir den Ausdruck „die ständige Geradheit seines Denkens.“
Eine solche Geradheit bezieht sich selbstverständlich nicht nur auf die Tugend der Gerechtigkeit, sondern auf jede Tugend. Es geht hier um die aristotelische Theorie der Einheit der Tugenden: Der Gerechte ist gleichzeitig der Barmherzige, der Tapfere, der Rücksichtsnehmende…

Das hat nichts zu tun mit Gleichheit, würde ich sagen, oder? Zumindest nicht mit das, was wir heute unter Gleichheit verstehen (Gleichbehandlung).

Sitzkissen, es waren mehr oder weniger lose Gedanken von mir. Aber ich denke du solltest die Antwort auf deine Frage in diese Richtung suchen. Zumindest scheint sie mir die angemessene Richtung.

Sie ist sehr spannend eigentlich. Und aktuell. Denke mal an das politische Thema Diskriminierung.
Diskriminierung als Ungleichbehandlung.
Die Beseitigung mancher Ungleichbehandlungen wird uns als eine Forderung der Gerechtigkeit verkauft, und wir akzeptieren es kritiklos.
Antidiskriminierungsgesetze werden uns (mit Erfolg) als Forderung der Gerechtigkeit verkauft.
Aber welche bzw. wessen Gerechtigkeit?
Diese Frage wird nie thematisiert. Warum eigentlich? Vielleicht solltest du in deiner Arbeit auch DIESE Frage ansprechen.

Wie gesagt, um vernünftig Begriffsuntersuchungen vorzunehmen, sollst du sie zunächst in historischer Perspektive setzen. HWP!

Viel Erfolg!
Ernie

Liebes Sitzkissen!

Im Alltag sieht man häufig eine Verbindung darin, dass Gerechtigkeit Gleichheit impliziert, aber nicht umgekehrt: Wenn jemand gerecht behandelt wird, dann wird er auch gleich behandelt, aber nicht: wenn jemand gleich behandelt wird, dann wird er auch gerecht behandelt. „Jemanden gleich zu behandeln“ heißt hier aber z.B. nicht, einfach nur eine gleiche Note zu vergeben, sondern dabei nach gleichen Maßstäben vorzugehen, d.h. z.B. mit gleichen Maßstäben zu benoten. Jemanden aber nach gleichen Maßstäben zu behandeln bringt deshalb nicht automatisch Gerechtigkeit mit sich, da nicht alle Maßstäbe gerecht sind (in deinem Noten-Beispiel wird zwar jeder nach gleichem Maßstab behandelt, jedoch ist der Maßstab nicht gerecht). Soviel zu einer weitverbreiteten Alltagsauffassung!

Philosophisch läuft die Diskussion natürlich sehr viel diffizieler ab. Einen guten Überblick erhälst du über: http://plato.stanford.edu/entries/equality/ (insbesondere Abschnitt 2, in dem genau auf deine Frage „But what exactly is the connection between equality and justice[?]“ eingegangen wird).

Liebe Grüße, Christian